Efeu - Die Kulturrundschau

Muss man wirklich so deutlich werden?

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05.01.2019. Die Literaturkritiker hielten es nicht aus bis Montag und stürzen sich auf Michel Houellebecqs neuen Roman "Serotonin". "Etwas Kränkeres hat Houellebecq nie erfunden", beschwert sich der Tagesspiegel. Die SZ spricht von einem "unglücklich gealterten Textsack", "hyperzeitgenössisch", ruft dagegen die Welt. Aber alle sind doch angerührt von dem Lebensschmerz, den sie im Roman spüren. Außerdem: Hyperallergic feiert den Brutalismus als Liebe zur Unvollkommenheit. Die Berliner Zeitung besucht die neue Bibliothek von Helsinki und ruft: Berlin, nimm dir ein Vorbild.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.01.2019 finden Sie hier

Literatur

Wer sich heute amüsieren will, sollte sich in ein Café mit vielen Zeitungen zurückziehen, und die Kritiken zu Michel Houellebecqs neuem Roman "Serotonin" studieren. Seit Tagen scharren die Kritiker mit den Hufen und gaben vorsichtig als Berichte getarnte erste Eindrücke wieder, heute brach der Damm, obwohl der Roman erst am Montag erscheint. Hauptfigur ist ein Agronom, ein impotenter Ich-Erzähler am Rande des Selbstmords, der sich plötzlich noch einmal verliebt. Misanthrop bleibt er natürlich. "Etwas Kränkeres hat Houellebecq nie erfunden", beschwert sich im Tagesspiegel Gregor Dotzauer, der den Verdacht nicht los wird, "dass die Spott- und Selbstverspottungstiraden von 'Serotonin' nicht wirklich ernst gemeint sind".

"Ja, der Autor hat sie noch drauf, die alles hinwegfegenden zynischen Sager (hier etwa über eine biobewusste Pariser Mittelschicht)", gibt Anne-Catherine Simon in der Presse zu. "Aber sie wirken ein bisschen wie Pflichtübungen, oft klingt es, als zitierte Houellebecq sich selbst. Überhaupt hebt der Roman lang nicht ab, wirkt langatmig und müde. Erst im Lauf der Erinnerungsreise gewinnt die Geschichte an Fahrt. Man merkt: Der zynische Aphorist Houellebecq hat sich endgültig erschöpft. Stark wird 'Serotonin', wenn es um echte menschliche Beziehungen des Protagonisten geht: jene etwas triste zu seinem Jugendfreund Aymeric; und seine große Liebe, Camille." Genau: Dies ist "ein tieftrauriger Liebesroman", mit satirischen Zügen, ruft bewegt Jan Wiele in der FAZ. "Für den Leser ist die Erzählerfigur eine Herausforderung: weil sie changiert zwischen bodenständig-glaubhaften Zügen und einer totalen Karikatur, insbesondere einer Karikatur des französischen Gourmets, die pausenlos Grand Marnier oder Kuttelwurst zu sich nimmt, manchmal gleichzeitig. Die ständig Hass und Zynismus versprüht. Die dem Leser wie mit erhobenem Zeigefinger zuzurufen scheint: Werde nicht so wie ich! Die sich am Ende gar mit Christus vergleicht und dann fragt: 'Muss man wirklich so deutlich werden?'"

Mara Delius spricht in der Welt von einem "hyperzeitgenössischen Buch" über die menschliche Existenz. "Ein welker, unglücklich gealterter Textsack, in den nach der gängigen Rezeptur natürlich auch noch Islamophobie, Schwulenhäme und sehr viel Alkohol und Psychopharmaka gestopft werden", stöhnt dagegen Alex Rühle in der SZ. "Nur eines wirkt echt: der Lebensschmerz." Im Guardian resümiert Angelique Chrisafis die französische Reaktionen auf den Roman. Enthalten wollte sich nur Charlie Hebdo, "which in 2015 had featured Houellebecq on its cover as a haggard Nostradamus preparing to celebrate Ramadan, published a brief paragraph saying a new Houellebecq novel was about to be released. 'We won't be saying anything bad about it: the last time we did wasn't a success for us.'"

Weitere Artikel: Nach so viel männlicher Misere tut es ganz gut, die unsentimentale, vorsichtig optimistische Pat Barker zu lesen, die im Interview mit dem Guardian über ihr Buch "The silence of the girls" spricht - die Ilias aus Sicht der Frauen erzählt. Robert Menasse hat sich inzwischen laut Standard dafür entschuldigt, in der Europa-Debatte falsche Zitate benutzt zu haben. Auf Hyperallergic unterhält sich Barry Schwabsky mit der dänischen Dichterin Ursula Andkjær Olsen über ihren Gedichtband "Third-Millennium Heart", ein "wunderschönes Monster von einem Buch", so Schwabsky. Im Interview mit der Literarischen Welt erklärt Kerstin Gleba, neue Verlagschefin von Kiepenheuer & Witsch, wie sich die Verlagswelt verändert hat, seit sie 1994 als Lektoratsassistentin bei Kiwi anfing, welche Autoren ihr wichtig waren, und warum man als Verleger nicht in einer Blase leben sollte: "Das hat natürlich Grenzen: Zu Sarrazin ein klares Nein."

Besprochen werden David Foster Wallaces Essayband "Der Spass an der Sache" (NZZ), D.H. Lawrences Gedichtband "Nimm mein Wort in die Hand" (NZZ), drei neue Graphic Novels über Faschismus und russische Revolution (NZZ), A.L. Kennedys Roman "Süßer Ernst" (Tagesspiegel), Steffen Menschings Roman "Schermanns Augen" (Tagesspiegel), Peter Frankopans Kindersachbuch "Die Seidenstraßen" (Tagesspiegel), Zoltán Danyis Romandebüt "Der Kadaverräumer" (zeit online), Jens Kastners und Lea Susemichels Band über "Identitätspolitiken" (taz), Christoph Heins Roman "Verwirrnis" (taz), "Typex's Andy", ein zehnbändiger Comic über Andy Warhol (taz)
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Film

David Steinitz porträtiert im Tages-Anzeiger die Schauspielerin Amy Adams. Besprochen wird Peter Hedges Film "Ben is back" (taz).
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Stichwörter: Adams, Amy

Architektur

Joe Fyfe hat auf der ganzen Welt Architektur des Brutalismus studiert. Was ihn dabei am meisten erstaunt hat, schreibt er auf Hyperallergic, ist die Tatsache, dass so viele dieser Gebäude - besetzt, vernachlässigt, umgebaut - die schlimmsten Attacken grandios überstanden haben, meint er, in Phnom Penh vor dem "White Building" stehend, bevor es abgerissen wurde. Und er ist absolut einverstanden mit der Forderung des Architekturkritikers Salvatore Dellaria, brutalistische Gebäude niemals schonend zu renovieren. "Die brutalistischen Werke, die seit über 50 Jahren unrestauriert geblieben sind, haben ihre Widerstandsfähigkeit durch die Anpassung ihrer Strukturen über Generationen von Bewohnern bewiesen. ... Die Verleugnung dieser Anpassung, dieser Denkmäler der Unruhe, ist eine Ablehnung des Sozialen, das vor allem eine bedingungslose Liebe zur Unvollkommenheit sein muss. Letztendlich sind die besten brutalistischen Gebäude für mich diejenigen, die bestehen geblieben sind und ihre Entstellung durch den Gebrauch angenommen zu haben scheinen, als ob eine Entstellung nicht nur erwartet, sondern auch willkommen wäre."

Im Tagesspiegel erinnert Kerstin Decker das Bauhaus Dessau noch einmal an seine Geschichte, die nicht darin besteht, vor einem einzigen rechten Tweet zu kuschen. Und sie fragt hartnäckig, wer den jetzt eigentlich für die peinliche Absage des "Feine-Sahne-Fischfilet-Konzerts verantwortlich war: Bauhausdirektorin Claudia Perren oder Rainer Robra (CDU), Staatsminister, Chef der Staatskanzlei in Magdeburg, Europaminister, Kulturminister des Landes und Vorsitzender der Stiftung Bauhaus Dessau: "Der Bauhausdirektorin und dem Kulturminister des Landes Sachsen/ Anhalt ist es gelungen, Dessau als Ort allgegenwärtiger rechtsradikaler Aufmärsche auszurufen, bis über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus, oder wie bereits Hermann Hesse formulierte: 'Das Nest scheint ja keine Perle zu sein.' Die vermeintliche Bedrohung des Konzerts von rechts wäre also zu konkretisieren: Sie kam aus der Stiftung Bauhaus selbst."

Nach der taz (unser Resümee) hat jetzt auch Nikolaus Bernau für die Berliner Zeitung die neue Bibliothek von Helsinki besucht, die von den ALA-Architekten entworfene Oodi. Was für eine Bibliothek, "ein Anlauf- und Treffpunkt, ein Kulturzentrum neuer Art"! Man sieht ihn fast weinen. Und dabei ist es nur eine neue von vielen: "Gut 60 Prozent der Erwachsenen haben einen Bibliotheksausweis - in Deutschland sind es nicht einmal zehn Prozent. Öffentliche Bibliotheken müssen hier mit Schwimmhallen, Sozialeinrichtungen, Museen oder Schulen um Geld fechten. Die miserablen deutschen Bildungswerte haben auch darin ihren Grund. ... Wenn Berlin mit seinen derzeit noch 68 öffentlichen Bibliotheken proportional zur Bevölkerung auf Helsinkier Niveau kommen wollte, müsste es umgehend weitere 60 Häuser eröffnen und diese weit über das aktuelle Nahversorgungsniveau hinaus ausbauten."

Außerdem: Im Guardian schildert Lemman Shehadi die verzweifelten Versuche, Oscar Niemeyers Messegelände im libanesischen Tripoli zu retten. Die Bauarbeiten waren Mitte der siebziger Jahre mit Ausbruch des Bürgerkriegs abgebrochen worden, seitdem verrotten die bereits fertig gestellten Gebäude. Und Marion Löhndorf hat für die NZZ Peter Zumthors Landhaus in England besucht.
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Bühne

In der taz annonciert Astrid Kaminski den Start der Tanztage Berlin in den Sophiensälen.
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Stichwörter: Tanztage Berlin

Musik

In der FAZ erzählt Katharina Wagner am Beispiel des Elektroduos IC3PEAK vom Kampf der russischen Staatsmacht gegen die Popmusik. Besprochen wird eine CD des Houseduos The Blaze (taz).
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Kunst

Mark Rothko, No. 13 (White, Red on Yellow), 1958


Peter Schjeldahl hat für den New Yorker im Met eine Schau mit Abstrakten Expressionisten besucht und ist tief enttäuscht: Von einem neuen Kanon kann hier wohl keine Rede sein. "Ich hätte mir keine Sorgen - oder Hoffnungen - machen müssen. Die von Randall Griffey kuratierte Show nimmt die alten Hierarchien als gegeben hin, ohne ihre Schwachstellen zu erwähnen: rhetorische Inflation, oft, und Machohaftigkeit, immer. (Wenn man auf die glitzernden Annalen der historischen Kämpfe der Bewegung eingeht, entdeckt man kitschige Bar-Hahnenkämpfe.) Diese Perspektive sieht Künstler, deren Werke gegen den Abstrakten Expressionismus gerichtet waren, als kleine Fische um den Leviathan herum schwimmen. Warum und wie brach das Prestige des Abstrakten Expressionismus Ende der fünfziger Jahre zusammen? Völlig ignoriert werden Bewegungen - französischer Tachismus, nordeuropäische COBRA -, die die damalige New Yorker Vorherrschaft in Frage stellten und jetzt reif für eine erneute Betrachtung erscheinen. Man kann die Verlegenheit kaum übertreiben, die die Show bei unabhängigen Künstlern hinterlässt, die sie in eine gemeinsame Genealogie presst."

Besprochen werden eine Ausstellung des belgischen Malers Philippe Vandenberg in der Hamburger Kunsthalle (taz), eine Ausstellung der Medienkünstlerinnen Hui Ye und Ting-Jung Chen in der Wiener Kunsthalle (Standard), die Ausstellung "Invisible" mit zeitgenössischer Kunst aus Marokko in der Berliner ifa-Galerie (Tagesspiegel), Brook Andrews Ausstellung "Denkmal" in der Australischen Botschaft in Berlin, die sich mit der mangelnden Erinnerungskultur in Australien auseinandersetzt (Tagesspiegel), eine Ausstellung des Künstlers und Designers Koloman Moser im MAK in Wien (FAZ), die Fotoausstellung "Saul Leiter. David Lynch. Helmut Newton: Nudes" in der Helmut Newton Foundation in Berlin (FAZ) und eine Ausstellung bronzezeitlicher Funde aus Mykene im Badischen Landesmuseum in Karlsruhe (SZ).
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