Efeu - Die Kulturrundschau

Ins metaphysische Fatum verliebt

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30.11.2018. Unerhörte Perspektiven findet der Tagesspiegel in einer großen Kölner Ausstellung amerikanischer Kunst aus 300 Jahren. Die SZ begeistert sich für die Vertikal-Wälder eines Münchner Blumengroßhändlers, der das neue Kairo begrünen will. Im Standard kokettiert Lars von Trier mit der Popularität seiner Filme. Die Zeit erklärt einem FAZ-Kritiker, wie man Martins Walsers Gedichte richtig liest. Die taz hört das neue Album des Rappers Anderson Paak.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.11.2018 finden Sie hier

Kunst

Charles Demuth (1883 - 1935), Aucassin and Nicolette (Aucassin und Nicolette), 1921,Columbus Museum of Art, Ohio: Gift of Ferdinand Howald


So viel großartige und - zum Teil unbekannte - amerikanische Kunst wie derzeit im Wallraf-Richartz-Museum in Köln hat Tagesspiegel-Kritiker Bernhard Schulz zuletzt 1984 in Paris gesehen. 300 Jahre umfasst der Zeitraum, "den zentralen Saal innerhalb des Ausstellungsrundgangs nimmt allerdings die amerikanische Moderne ein, so vielgestaltig, wie sie, historisch gesehen, nie beieinander zu sehen war. Denn der auf Abstraktion und kompromisslose Avantgarde gerichtete 'Synchromismus' um 1914, der sich auf Kandinsky bezog, die expressive Farbenfreude eines Marsden Hartley oder aber der auf messerscharfe Konturen fixierte Präzisionismus der zwanziger Jahre - sie konnten zu ihrer Zeit nur schwer miteinander. Stuart Davis nimmt mit seiner gemalten 'Glühbirne' von 1924 die Pop-Art vorweg, heißt es. Georgia O'Keeffe, mit zwei Werken vertreten, wählt unerhörte Perspektiven auf alltägliche Objekte. Ihr Mann Alfred Stieglitz fotografiert in gezähmter Nüchternheit die Hochhausstadt. Wenn man der Ausstellung übrigens eine wirkliche Fehlstelle nachsagen wollte, so ist es der fast völlige Verzicht auf die Fotografie."

Weiteres: In China ist der Fotograf Lu Guang verschwunden, meldet der Tagesspiegel. Er soll auf seiner Reise durch die Unruheprovinz Xinjiang, Heimat der Uiguren, von Sicherheitskräften festgenommen worden sein. Noemi Smolik besucht für die FAZ das "Yarat"-Zentrum für zeitgenössische Kunst im aserbaidschanischen Baku.

Besprochen werden eine Ausstellung mit den Berliner Fotografien von Heiko Sievers aus den 1980er Jahren im Haus am Kleistpark in Berlin (Tagesspiegel), die Ausstellung "Peindre la nuit" im Centre Pompidou Metz (FAZ),
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Literatur

Christian Metz' in der FAZ geäußerte Kritik an einem Gedicht Martin Walsers, in dem dieser laut Metz Auschwitz verharmlose (unser Resümee), basiert auf einer Fehllektüre, hält Iris Radisch ihrem Kollegen in der Zeit vor, wo das im neuen Band "Spätdienst" wiederaufgetauchte Gedicht ursprünglich 1968 erschienen war. Walser kritisiere in dem Gedicht "eine ins metaphysische Fatum verliebte Publizistik, die sich der konkreten politischen Stellungnahme und Analyse verweigert. Das Stilmittel, das Walser hier wählt, ist: ironische Mimesis. Er imitiert das hohle Tragödengeschwätz des Gegners, mit dem er sich in einem höhnischen 'wir' kurzschließt. Die Ironiesignale sind klar gesetzt: Das Feuilleton agiert 'holzschnitthaft', es 'feiert feierlich' mal dieses, mal jenes Menschheitsverbrechen, wie die Feiertage gerade fallen, Golgatha, Verdun, Auschwitz, Hué. Das ist unmissverständlich: blanker Hohn. Dahinter steckt: eine Kritik der Instrumentalisierung von Menschheitsverbrechen zu feuilletonistischen Zwecken."

Katharina Lipowsky ist für die taz nach Nairobi gereist, wo sich die Verlegerin Angela Wachuka und die Schriftstellerin Wanjiru Koinange darum bemühen, die seit Kolonialzeiten nicht mehr aktualisierten und verfallenden Bibliotheken zu erneuern. Koiniange erklärt säuerlich: "'Es war ja auch nie vorgesehen, dass wir diese Räume nutzen würden.' 57 Jahre nach der Unabhängigkeit Kenias gehören die rassistischen Kolonialgesetze zwar der Vergangenheit an, und Orte wie die McMillan-Bibliothek sind für alle offen. Doch eine umfassende Auseinandersetzung, wie mit dem kolonialen Erbe umgegangen werden soll, welche Narben solche und andere Orte im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung hinterlassen, ließen bislang auf sich warten."

Weitere Artikel: Lyrikerin Anja Utler berichtet im Logbuch Suhrkamp von ihrer Erfahrung, eines ihrer Langgedichte auf der Bühne auswendig aufzusagen. Die New York Times kürt die zehn besten Bücher des Jahres.

Besprochen werden unter anderem die von Anne Bohnenkamp, Silke Henke und Fotis Jannidis herausgegebene "Faustedition komplett" (NZZ), Nora Bossongs Gedichtband "Kreuzzug mit Hund" (FR), Anke Stellings "Schäfchen im Trocknen" (SZ), Teresa Präauers Essay "Tier werden "(Standard), Stewart O'Nans Spionage-Roman "Stadt der Geheimnisse" (Tagesspiegel), Heinz Helles "Überwindung der Schwerkraft" (Tagesspiegel), Aref Hamzas Gedichtband "Du bist nicht allein" (NZZ), Thomas Antonics Biografie über Wolfgang Bauer (SZ) und Roy Thomas' opulenter Prachtband "The Stan Lee Story" (FAZ).
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Architektur

In der SZ stellt Gerhard Matzig den Münchner Pflanzengroßhändler und Erfinder Wolfgang Plattner vor, der das vom Büro Albert Speer entworfene neue Kairo mit Vertikal-Wäldern begrünen will. Ob das wirklich klappt, ist noch nicht ausgemacht, aber hier schon mal die Idee: "Plattners Erfindung heißt 'schwebende Pflanzen' (als Marke: Hydro Profi Line). Vereinfacht gesagt, beschreibt die dem Schweben zugrunde liegende, patentierte Technologie eine Art Botanikschwindel. Beziehungsweise eine Überredungskunst. Den Pflanzen in speziellen Begrünungssystemen wird nämlich suggeriert, sie seien, was Wasser und Nährstoffe angeht, bereits 'im Schlaraffenland'. Deshalb tun sie fürderhin, so Plattner, genau das nicht, was Pflanzen sonst immer erdwärts tun: sich in Richtung Nährstoffe auszuwurzeln. Letztlich aber bedeutet dies: Der Wasserverbrauch von Begrünungen reduziert sich laut G.K.R. 'um bis zu achtzig Prozent auf nachhaltige Weise'." Mehr zu Plattners Idee in der Abendzeitung.

So soll er aussehen, der neue Flughafen von Istanbul. Foto: Grimshaw Architect


In der FAZ ist Ulf Meyer schon jetzt hingerissen vom neuen Flughafen in Istanbul, dem größten Europas, den der britische Architekt Nicholas Grimshaw entworfen hat: "In nur etwas mehr als drei Jahren wurde der Flughafen gebaut: zwei Terminals für 90 Millionen Passagiere. Später kommen weitere Landebahnen und Terminals dazu. Mehr als 6000 Hektar Wald im Staatsbesitz wurden dafür gerodet und 600 000 Bäume gefällt. Die Anbindung an die Stadt per Metro ist vorbildlich, Berlins Pannen-Airport kann von alledem nur träumen". Außerdem soll er gut aussehen und ein Shoppingparadies werden, behauptet Meyer.
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Bühne

Im Tagesspiegel porträtiert Sandra Luzina die Regisseurin Anna Bergmann, deren Bühnenadaption von Ingmar Bergmans "Persona" heute am Deutschen Theater Berlin Premiere hat. Über die Theatergrenzen hinaus bekannt wurde sie mit ihrer Ankündigung als Schauspieldirektorin am Badischen Staatstheater Karlsruhe, eine 100 Prozent Quote für Frauen einzuführen: "Es ist natürlich eine radikale Setzung, die sie macht. Zum Vergleich: Der Verein 'Pro Quote Bühne', der sich im Oktober 2017 gegründet hat, hat die Theater aufgefordert, 50 Prozent Frauen zu engagieren. Ein paritätisches Verhältnis von Frauen und Männern hält auch Bergmann langfristig für erstrebenswert. Aber erst einmal will sie ein Zeichen setzen - und das patriarchale System ein bisschen erschüttern. 'Man kann nur über politisches Handeln etwas bewegen', erklärt sie, und manchmal seien extreme Maßnahmen notwendig, um wirklich etwas zu erreichen. Doch die Resonanz sei bislang überwiegend positiv, versichert Bergmann."

Besprochen werden Martin McDonaghs Weihnachtsmärchen "A Very Very Very Dark Matter" im Londoner Westend (SZ), Barrie Koskys Inszenierung von Leonard Bernsteins "Candide" an der Komischen Oper Berlin (SZ) sowie Rameau-Konzerte und -Aufführungen in der Staatsoper Berlin (Tagesspiegel).
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Film

Disney ist schuld: "The House that Jack Built" von Lars von Trier
Im Standard-Interview klagt Lars von Trier über sein Leid darüber, dass ihm sein neuer Film, die Serienkiller-Farce "The House that Jack Built" (unsere Kritik hier), in mancher Hinsicht zu populär geraten sei: "Es wird immer schwieriger, Dinge einfließen zu lassen, die nicht schon benutzt sind. Ich gebe Disney dafür die Schuld. Ich habe als Kind Donald-Duck-Hefte gelesen, und alle Geschichten sind darin auf die gleiche Weise gemacht." In der Zeit tritt derweil Jens Jessen den Film in die Tonne - und dessen Fürsprecher gleich mit: "Trier-Experten sind Besessene des Details, die souverän über die womöglich verrottete Grundsubstanz hinweggehen und sich auf das Klein-Klein der Verweise und delikaten Bedeutungsspuren konzentrieren, die der Regisseur stets reichlich auslegt. Oder, um es großzügiger zu formulieren: Lars von Trier hat eine Neigung zur metaphysischen Überhöhung der Gewalt, und zweifellos wird es ihm auch mit 'The House That Jack Built' wieder gelingen, viele zu überzeugen, dass seinen Blutorgien beachtlicher Tiefsinn zugrunde liege."

Besprochen werden Adam Price' neue, von Arte online gestellte Serie "Die Wege des Herrn" (FR, FAZ, ZeitOnline), Gilles Paquet-Brenners Agatha-Christie-Verfilmung "Das krumme Haus" (Berliner Zeitung), Debra Graniks "Leave No Trace" (Standard), die italienische Netflix-Serie "Baby" über junge Prostituierte in Rom (FAZ) und die polnische, unter anderem von Agnieszka Holland inszenierte Netflix-Science-Fiction-Serie "1983", die von einer Parallelwelt erzählt, in der der Eiserne Vorhang nie eingerissen wurde (FAZ).
Archiv: Film

Design

In der Welt geht Peter Praschl auf die Knie vor dem vor acht Jahren gestorbenen Designer Alexander McQueen, dem ein neuer Kino-Dokumentarfilm die Reverenz erweist: McQueen war ein irrwitziges Wunderkind, ein Berserker seines Metiers, erklärt Praschl - obwohl all der geballte Irrsinn bei ihm "nur dazu da war, etwas zu sagen und auszudrücken. Wenn Mode etwas ist, das entsteht, damit die Leute etwas Hübsches, Zeitgemäßes, Beeindruckendes anzuziehen haben, dann machte McQueen keine Mode. Er erzählte Geschichten. Er schuf mit Stoff, Stickereien, Schmuck, Federn, Tierknochen andere, neue Menschen. Er machte aus ihnen etwas, was sie nie zuvor gewesen waren und was man nicht einfach dadurch wird, dass man sich irgendetwas anzieht. Plötzlich waren sie nicht mehr Models, sondern Gestalten aus verrutschten Träumen, dem Unbewussten, den unterirdischen Strömen der Geschichte", eben "Geschöpfe ganz eigener Art".

Hier die BBC-Doku "The Works" - Alexander McQueen "Cutting Up Rough" 1997, in der man dem Meister bei der Arbeit zusehen kann:


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Musik

Schade findet es taz-Kritiker Johann Voigt, dass der Rapper Anderson .Paak auf "Oxnard" auf eine pubertär-sexistische Sexprotz-Nummer nicht verzichten konnte - ansonsten wäre das neue Album nämlich geradezu erlesen makellos ausgefallen und ist in jedem Fall auch für Menschen mit einer ansehnlichen Jazzsammlung im Regal interessant. "'Oxnard' wird durch die Mitarbeit von Produzenten-Titan Dr. Dre im besten Sinne zu einem Flickenteppich aus den wichtigen Spielarten afroamerikanischer Musiktradition. Disco-Joints wechseln sich mit Soul-, Jazz, R&B-Zwischenspielen ab. Irre klöppelnde Percussions rutschen zwischen funky Streicherarrangements. Zwischendurch kommen Conscious-Rapper zu Wort: J. Cole zum Beispiel, Q-Tip von A Tribe Called Quest und sein Kumpel Kendrick Lamar. ... Die Songs suggerieren einem, dass in dem Moment, in dem .Paak singt, alles in Ordnung ist, obwohl gar nichts in Ordnung ist. Manchmal wird 'Oxnard' zur watteweichen Wohlfühlkur. Doch dann kommt "6 Summers", und damit kehrt die Realität ein und mit ihr Donald Trump." Hier die ziemlich tolle Kollaboration mit Q-Tip:



Weitere Artikel: Jan Kedves hat sich für die SZ mit Chic-Musiker Nile Rodgers zum Plausch getroffen. Im ZeitMagazin träumt Irmin Schmidt. In der FAZ gratuliert Anja-Rosa Thöming der Musikwissenschaftlerin Silke Leopold zum 70. und Jakob-Johannes Koch dem Pianisten Jörg Demus zum 90. Geburtstag. Taz-Kritiker Andrew Müller lässt sich von der "Magie der Repetition" auf dem neuen Album von BEAK> verzaubern.



Besprochen werden eine Biografie über Nico (Berliner Zeitung), das neue Album von Earl Sweatshirt (Pitchfork), das neue Album von The 1975 (Pitchfork), ein Abend mit Wayne Kramer in Berlin (taz), Sylvie Courvoisiers und Irene Schweizers Hommage an Cecil Taylor beim Festival Unerhört (NZZ), ein Brahms- und Dvorák-Abend der Wiener Symphoniker mit Philippe Jordan und dem Geiger Nikolaj Szeps-Znaider (FR), ein Auftritt der Sopranistin Lisa Larsson (NZZ), Fjaaks Album "Havel" (taz), ein Rameau-Konzert des Ensembles Les Musiciens du Louvre (Tagesspiegel) und Myss Ketas Konzert im Berghain (Berliner Zeitung).
Archiv: Musik