Efeu - Die Kulturrundschau

Rolle knallt gegen Leben

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.11.2018. Auf der Anti-Biennale in Athen wandelt die NZZ zwischen Cyborgs und Geisterwesen.  Der Tagesspiegel verabschiedet Werner Ružička, der 34 Jahre lang die Duisburger Filmwochen leitete. Im Standard erklärt der ungarische Autor Zoltán Danyi, wie er von Proust lernte, den Ersten Weltkrieg zu verstehen. Die Nachtkritik lauscht in Dresden der Meth-Poesie von Goethe und Eric Stehfest. Und die NZZ widmet sich dem Brennstoff der Literatur.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.11.2018 finden Sie hier

Bühne


Eva Hüster, Moritz Kienemann, Jannik Hinsch in "9 Tage wach". Foto: Sebastian Hoppe / Staatsschauspiel Dresden

Stark und eindringlich findet Tobias Prüwer in der Nachtkritik Sebastian Klinks Dresdner Bühnenfassung von Eric Stehfests auobiografischen Drogenreport "9 Tage wach". Zumal er auch eine frühe Form der Meth-Poesie vom guten alten Goethe kennenlernte: "Hab oft einen dumpfen düstern Sinn / Ein gar so schweres Blut! / Wenn ich bei meiner Christel bin, / Ist alles wieder gut." In der Berliner Zeitung erzählt Doris Meyerhenrich, wie eine Performance der Künstlerin Ann Liv Young, die Meyerhenrich zufolge seit Jahren erfolgreich die Therapeuten-Bitch "Good Sherry" gibt, ins Hässliche kippte: "Rolle knallt gegen Leben und das Spiel wird zum realen Machtkampf. Ein Albtraum und Desaster, bis die Show vom Haus abgebrochen wird. Weinende Gesichter."

Besprochen werden Barbara Bürks und Clemens Sienknechts Tschechow-Show "Wonkel Anja" (Nachtkritik), Michael Endes Familienstück "Satanarchäolügenialkohöllischen Wunschpunsch" am Pfauen in Zürich (NZZ), die Rekonstruktion der "Bayadère" am Staatsballett Berlin (NZZ), Wilke Weermanns Theaterexperiment "Odem" am Staatstheater Kassel (Nachtkritik) und das Festvial "Theater der Dinge" in der Berliner Schaubude (taz, Tagesspiegel).
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Literatur

Mit seinem Romandebüt "Der Kadaverräumer" geht Zoltán Danyi den Spuren nach, die der Balkankrieg in den Menschen hinterlassen hat. Als Mittel zur Traumabewältigung sieht er seinen Roman und Literatur generell allerdings nicht, wie er im Standard-Interview betont: "Aber wenn man glaubwürdig beschreibt, wie man sich anstrengt, sie zu bewältigen, und dennoch scheitert, kann daraus ein Stück Literatur werden. ... Ich betrachte Geschichte mehr aus der Perspektive der Literatur. Die Ursachen des Ersten Weltkrieges verstand ich nach der Lektüre von Marcel Prousts 'Auf der Suche nach der verlorenen Zeit'. Folgt man den subtilen Änderungen der Empfindungen und Gefühle und den weniger subtilen Änderungen der politischen Ansichten, die Proust beschreibt, merkt man, wie sie in eine Situation führen, in der Krieg unvermeidlich wird."

Paul Jandl befasst sich in der NZZ mit dem Verhältnis zwischen Alkohol und Literatur: "Alkohol, das ist diese etwas andere Literatur. Wie beim Schreiben selbst wird die Wirklichkeit durch den Alkohol ins Mögliche transzendiert, und die richtig großen Trinker kannten dabei den Unterschied zwischen Amateuren und Profis. In seinem 1913 erschienenen Roman 'König Alkohol' stellt Jack London die geistlosen Säufer neben die, denen die Gabe der drogeninduzierten Erleuchtung gegeben ist. Im 'weißen Licht des Alkohols' gelangt der Schriftsteller an die 'gnadenlosen, gespenstischen Syllogismen der Weißen Logik'. Es hat nicht wenige Autoren gegeben, die sich die Droge auf ähnliche Art schöngesoffen haben."

Ein bisschen nachgereicht wirkt Tobias Sedlmaiers NZZ-Interview mit FAZ-Kritiker Simon Strauß über dessen Debütroman "Sieben Nächte", der Anfang des Jahres Wellen im Feuilleton schlug. Im Gespräch bekräftigt Strauss sein Plädoyer für einen neuen "Begriff des Konservativen": "Hilfreich wäre es zum Beispiel, einen intellektuellen Pakt mit jungen, selbstbewussten, liberalen Muslimen zu schließen. ... Wenn man den muslimischen Hintergrund ernst nimmt, findet man ein reges Interesse an Transzendenz, Anbindung an die Vergangenheit und der Vorstellung, dass das Gegenwärtige nicht alles ist. Über Fragen des kulturellen Gedächtnisses kann ich vielleicht mit einem Muslim besser sprechen als mit einem rechten Identitären oder einem linken Aktivisten, der allein auf Identitätspolitik setzt."

Weitere Artikel: Ronald Pohl nutzt eine Stippvisite der Schriftstellerin Hillary Mantel in Wien für ein kurzes Standard-Gespräch. Die Zeit bringt Auszüge aus dem Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Hans Magnus Enzensberger. Der Western-Comic erlebt derzeit eine Renaissance, schreibt Christoph Haas im Tagesspiegel. Im ZeitMagazin träumt der Krimiautor Håkan Nesser.

Besprochen werden Olivier Guez' "Das Verschwinden des Josef Mengele" (Jungle World), Judith Schalanskys "Verzeichnis einiger Verluste" (Tagesspiegel), Tom Franklins "Krumme Type, krumme Type" (FR), Norbert Christian Wolfs Studie "Revolution in Wien. Die literarische Intelligenz im politischen Umbruch 1918/19" (Standard), Mayo Thompsons "Art, Mystery" (taz), Gerhard Henschels "Erfolgsroman" (Tagesspiegel), Jane Gardams "Weit weg von Verona" (online nachgereicht von der FAZ), Vladimir Sorokins "Manaraga. Tagebuch eines Meisterkochs" (Berliner Zeitung) und zwei Bände mit Essays und Erinnerungen der Fotografin und Modedesignerin Soupault (SZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Hans Maier über Hermann Lenz' "Leben und Kunst":

"Bäume wie starrende Knochen
Nach Verwesung riechende Leiber
..."
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Kunst

Panos Sklavenitis: "Cargo". Athen Biennale

Die Documenta hat Athen im vorigen Jahr zu einer Kunststadt gemacht, Künstler in die Stadt geholt und neue Räume erschlossen, weiß Sabine B. Vogel in der NZZ. Aber die Kuratoren der Anti-Biennale wollen auch wirklich etwas über die Krise sagen: "Was die drei dafür in den desolaten Büros des ehemaligen Telekommunikationshauses, der verfallenen Bibliothek und einem ehemaligen Hotel zusammengetragen haben, erzeugt eine zutiefst verstörende, dystopische, schrille Stimmung. In den Skulpturen, Performances und vor allem Videos treffen Cyborgs auf Geisterwesen und parafiktionale Alternativen auf ausweglose Absolutismen. Da entführt uns Joey Holder in die Welt der Konspirationstheorien, und Rachel Maclean lässt eine niedliche Alice in ein mörderisches Wesen mutieren. Eine ganze Etage ist kafkaesken Zuständen gewidmet, eine andere zeigt Wellnessphantasien und Selbstoptimierungen als individuelle Rückzugsorte."

Weiteres: Das "Who is who" der Moderne entdeckt Ingeborg Ruthe in der Ausstellung der euphorisch bis sarkastischen Novembergruppe in der Berlinischen Galerie. In der FR erhebt Mahret Kupka Einwände gegen die Ausstellung "Das Bild von Afrika", mit der die Frankfurter Schirn Kunsthalle den Kolonialmaler Wilhelm Kuhnert aus der Versenkung holt: "Die Großwildjagd war im Rahmen des europäischen Kolonialismus ein zentrales Herrschaftsritual."

Besprochen werden eine Schau über die kurze, aber pompöse Regentschaft der "Malerfürsten" in der Bonner Kunsthalle (FR), eine Schau des Malers Johann Heinrich Füssli im Kunstmuseum Basel (Welt) und eine Ausstellung zum Parallelismus des Schweizer Malders Ferdinand Hodler im Kunstmuseum Bern (FAZ).
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Film

Auf 42 Jahrgänge bringt es die Duisburger Filmwoche, 34 davon hat Werner Ružička als Leiter verantwortet. Jetzt verabschiedet er sich von seinem Posten. Dass der Name einer Nachfolgerin zwar bereits kursiert, unter den Verträgen aber noch keine Tinte trocknet, bereitet Hannah Pilarczyk auf SpiegelOnline Sorge: "Riskiert die Stadt Duisburg etwa das Aus dieses Ausnahmefestivals? Es wäre ein niederschmetterndes Signal für den deutschsprachigen Dokumentarfilm. ... Wie in Duisburg über Film gesprochen wurde, ist in seiner Genauigkeit wie auch in deren lustvoller Übersteigerung ins verbale Ornament immer noch einmalig. Überforderung war dabei einkalkuliert, vor allem beim Publikum."

Im Tagesspiegel verabschiedet sich Silvia Hallensleben von Ružička, der "sich stets dezidiert als Anwalt nicht nur des Dokumentarfilms im Allgemeinen, sondern auch der eingeladenen Filme im Speziellen sah. Wenige können so treffsicher wie er aus einer scheinbar belanglosen, gar missglückten Arbeit das Besondere herauskitzeln und verbalisieren - auch wenn sich unter die echten auch mal vergiftete Komplimente mischen." Nicht zuletzt legt uns Hallensleben einen gerade erschienenen Gesprächsband mit Ružička ans Herz (hier eine ausführliche Leseprobe als pdf).

Weitere Artikel: Edith Kresta berichtet in de taz von Filmfestspielen in Carthage, wo ihr in gleich drei tunesischen Spielfilmen "eine neue Vaterfigur" begegnet ist: "Keine Keine selbstherrlichen, unfehlbaren Patriarchen", sondern "sensible, gebrochene, suchende Männerfiguren." Hanns-Georg Rodek spricht in der Welt mit Philipp Kadelbach über dessen (von Elmar Krekeler ziemlich hochgejazzte) Serienadaption von Patrick Süskinds Bestseller "Das Parfüm" (mit deren Produzent Oliver Berben spricht der Kurier). Alle in der Kategorie "bester Film" für den Europäischen Filmpreis nominierten Filme sind Cannes-Premieren, hält Christiane Peitz im Tagesspiegel fest.

Besprochen werden Kirill Serebrennikows "Leto" (Freitag), neue Heimmedienveröffentlichungen, darunter eine BluRay von Mario Bavas Sandalenfilm-Gruselklassiker "Vampire gegen Herakles" (SZ), und die Netflix-Serie "Ozark" (NZZ).
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Musik

Keine Musik ist in Deutschland derzeit so erfolgreich wie der Deutschrap - mit all dem Sexismus und der materialistischen Prahlerei, die offenbar Teil der DNA des Genres sind, kommentiert Gerrit Bartels im Tagesspiegel mit galligem Blick darauf, dass der rustikale Antifaschismus von Feine Sahne Fischfilet allenthalben skandalisiert wird, während die Kids sich in den Charts ganz andere Weltbilder abholen: Die Texte im Deutschrap sind "so platt und offensiv wie möglich, und die Kids finden es super. Keine Atempause, Nummer-eins-Hits werden gemacht. Gut nur, dass niemand genau hinhört, ist ja bloß eine Parallelwelt."

Mit "Unschuld und Verwüstung" hat Barbara Morgenstern "das vielleicht tollste, sicher aber rundeste und facettenreichste Werk ihrer Laufbahn" vorgelegt, jubelt Stephanie Grimm in der taz. Angereichert mit "avantgardistischen Sounds, die sich erstaunlich geschmeidig ins Ohr fräsen", behandeln die Songs Geschichten aus der Lebensmitte. Wir hören rein:



Weiteres: "Indie-Rock ist nicht tot. Er steuert nur stramm auf seine Rente zu", lautet Jens-Christian Rabes SZ-Fazit nach dem Besuch des Rolling Stone Weekender nördlich von Lübeck. Jan Feddersen plaudert in der taz mit der israelischen Sängerin Netta Barzilai, die im Mai den Eurovision Song Contest gewonnen hat und sich schon sehr auf den kommenden Wettbewerb in Tel Aviv freut: "Diese Party ist für alle, an den Stränden, in den Clubs, auf den Straßen, überall. Die Menschen wissen ja gar nicht, wie toll Israel ist. Sie werden es im Mai herausfinden können." In der FAZ resümiert Jan Brachmann die Badenweiler Musiktage. Besprochen werden Cros Auftritt in Berlin (Berliner Zeitung), neue Bücher über Wagner (NMZ), Herbert Grönemeyers neues Album "Tumult" (SZ) und weitere Musikveröffentlichungen, darunter zwei Editionen mit Opern von Gioachino Rossini (FAZ).

In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Jan Wiele über Harold Arlens und Ted Koehlers "Ill Wind":

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