Efeu - Die Kulturrundschau

Ich muss Beethoven sein

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.11.2018. NZZ und Hyperallergic betrachten indische Kunst. Die FAZ vermisst die unabschließbare Reflexivität in der Netflix-Version von Orson Welles' Filmruine "The Other Side of the Wind". Die Welt stört die allzu gut gemeinte Oswalt-Kollehaftigkeit in Adina Pintilies Film "Touch Me Not". Die taz porträtiert den Komponisten und Kornettisten Rob Mazurek und sein Exploding Star Orchestra, die das Berliner Jazzfest eröffnen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.11.2018 finden Sie hier

Kunst

Manaku von Guler, Krishna umschwärmt. Folio aus der Guler Gitagovinda-Serie, 1730, Guler, Pahari-Gebiet, Indien, Geschenk Sammlung Horst Metzger, Museum Rietberg


Maria Becker besucht für die NZZ eine Ausstellung im Zürcher Museum Rietberg mit Bildern der Brüder Manaku und Nainsukh, die im 18. Jahrhundert in Indien lebten. Beide lernten das Handwerk von ihrem Vater, der ebenfalls Künstler war, erzählt Becker: "Die Vorzeichnungen und Entwürfe für Bilder - die Ausstellung zeigt mehrere von ihnen - blieben in der Familienwerkstatt und wurden immer wieder verwendet. Auf ihrer Grundlage besprach man gemeinsam Kompositionen und Farben von neuen Bildserien. Manches wurde übernommen, anderes modifiziert und bereichert. Auch bei Manaku und Nainsukh ist die Nähe zur Kunst ihres Vaters Pandit Seu erkennbar, und noch bei den Enkeln und Cousins der Brüder schimmern die alten Vorlagen durch neue Moden und Darstellungsweisen hindurch. So wanderten die Urbilder durch die Generationen und schufen ihren eigenen Familienmythos."

Akbar Padamsee, "Lovers" (1952)
Eine schöne Ergänzung: Zachary Small lässt sich in der Ausstellung "The progressive Revolution" im Asia Society Museum in New York in die Anfänge der abstrakten Malerei in Indien einführen, die sich nach der Teilung entwickelte. Doch wie kann man das zeigen, ohne die indischen Künstler zu Nachahmern westlicher Kunst zu degradieren, fragt er sich in Hyperallergic? "Im letzten Teil der Show, genannt 'Masters of the Game', erklärt 'Progressive Revolution', dass Indiens Künstler sich von einer Reihe traditioneller Volks- und High-Art-Stile inspirieren ließen, um ihre eigene Version des Modernismus zu kreieren. Auch wenn die meisten Arbeiten im Finale der Schau nach der Auflösung von PAG entstanden sind, zeigen sie doch alle einen einheitlichen Ansatz, um die kulturellen Sitten der indischen Gesellschaft zu überwinden. Dieser letzte Abschnitt ist vollgepackt mit historischen Juwelen von herausfordernder visueller Pracht. Erotische männliche und weibliche Akte beherrschen die Wände der Galerie und spiegeln die Posen jahrtausendealter Skulpturen wider. Werfen Sie einen Blick auf 'Shiva und Parvati' (aus der Übergangszeit, Ende des 10. bis Anfang des 11. Jahrhunderts) und denken Sie an M. F. Husains 'Ewige Liebende' (1968), um einen guten Vergleich zu ziehen. Im Katalog der Ausstellung, aber nicht in der Ausstellung zu sehen, war Husains Interpretation des göttlichen Duos als normales Paar in nackter Ruhe ein skandalöser Schritt für die indische Gesellschaft."

Weiteres: Im Standard schreibt Roman Gerold zum 100. Todestag von Egon Schiele.

Besprochen werden die Ausstellung "Rückbindung an Welt" mit Werken von Hicham Berrada, Lucy Dodd und Sam Falls im Frankfurter Kunstverein (FR), DDR-Fotografien von Ute und Werner Mahler in der Berliner Galerie Springer (Tagesspiegel), die Welt der Kabbala im Jüdischen Museum in Wien (Presse), die Scherenschnitte Hans Christian Andersens in der Bremer Kunsthalle (online nachgereicht von der FAZ), Wes Andersons Bilderwelten im KHM Wien (Presse) und eine Ausstellung zur kunstgeschichtlichen Rezeption von Ovids Dichtungen, "Ovidio. Amori, miti e altre storie", in den Scuderie del Quirinale in Rom (FAZ).
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Bühne

Georg Beck resümiert in der neuen musikzeitschrift die erste Amtszeit von Stefanie Carp als Leiterin der Ruhrtriennale. In der nachtkritik ruft Sophie Diesselhorst zu Spenden für das Flüchtlingsprojekt Grandhotel Cosmopolis Augsburg auf. Michaela Schlagenwerth fordert in der Berliner Zeitung den Bund auf, das Wuppertaler Tanztheater finanziell zu unterstützen.

Besprochen werden Mozarts "Zauberflöte" am Staatstheater Darmstadt (FR), Dietrich W. Hilsdorfs Inszenierung der "Götterdämmerung" in Düsseldorf (nmz), Wagners "Die Meistersinger von Nürnberg" in Mannheim (nmz), Milena Michaleks Stück "Mütter" am Kosmostheater Wien (nachtkritik) und Balanchines Choreografie "Jewels" (online nachgereicht von der FAZ).
Archiv: Bühne

Film



Rund hundert Stunden Material hinterließ Orson Welles für seine Filmruine "The Other Side of the Wind", an der er über mehrere Jahre arbeitete, sofern sich irgendwo Mittel und Zeit auftaten. Netflix hat das Konvolut nun in Form gebracht und macht es der Öffentlichkeit zugänglich - präsentiert als eine Art definitive Version über der "Directed by Orson Welles" steht, auch wenn an dieser Auswahl- und Schnittfassung verschiedene Leute mitgewirkt haben. Bei Bert Rebhandl hinterlässt diese demonstrative Eindeutigkeit ein durchaus mulmiges Gefühl, wie er in der FAZ schreibt: "Denn Netflix als Streaming-Portal wäre ja eigentlich der ideale Ort, um 'The Other Side of the Wind' auch unter anderen Aspekten vorzustellen als dem eines verspätet eingelösten Autorenwillens mit einer unterschobenen Ausgabe 'letzter Hand'. In der Literaturwissenschaft gibt es bei vergleichbaren Werken spannende, konkurrierende Editionsprojekte, in der Filmgeschichte hingegen werden Varianten gerade einmal als Füll- und Bonusmaterial und als Beigabe für Fans begriffen. 'The Other Side of the Wind' hat aber als eigentliches Thema (und jenseits der Psychologie von Welles) die Spannung zwischen Werkformat und unabschließbarer Reflexivität. Diesen entscheidenden Aspekt kassieren die Produzenten und Netflix jetzt vermutlich für alle Zeiten ein."

Kühles Weiß: Adina Pintilies "Touch Me Not"

In der taz spricht Barbara Wurm mit Filmemacherin Adina Pintilie über ihren Berlinale-Gewinnerfilm "Touch Me Not", dessen intime Annäherung an Menschen mit Körpern, die gängigen Normen und Idealen nicht entsprechen, bei der Festivalpremiere für einige Abscheu unter den Kritikern geführt hat: "Meine Absicht war zunächst, dieses vermeintlich gesicherte Wissen zu vergessen, um auf Neuentdeckung gehen zu können und mit offenen Augen zu erfahren, wie Intimität wirklich funktioniert. Wenn Menschen solche Erfahrungen machen, sind die oft gar nicht so rosig wie erwartet. Die Realität ist oft widersprüchlich, Emotionen sind komplex." In der Welt äußert Cosima Lutz, die zur Verteidigung des Films zwar prinzipiell bereit ist, dennoch Vorbehalte, zumindest was eine laborartige Anordung in dem zwischen Dokumentar- und Fiktionsformat changierenden Film: "In kühles Weiß getaucht, in strengen Linien angeordnet und garniert mit traurigen Yuccapalmen, versuchen die Figuren dieses Films in all seiner ungelenken, allzu gut gemeinten Oswalt-Kollehaftigkeit, einer irdischen Jenseitserfahrung auf die Spur zu kommen, einer leiblichen Himmelfahrt. Aber braucht's das wirklich noch im 21. Jahrhundert? Und wo bleibt in diesem kalten Labor - noch so ein Vorwurf an Pintilie - die Sinnlichkeit?" Karsten Munt empfindet den Film in der Berliner Zeitung als "autoritär".

Weitere Artikel:Barbara Wurm empfiehlt in der taz eine Berliner Filmreihe zum litauischen Kino. Hanns-Georg Rodek berichtet für die Welt von den Hofer Filmtagen, bei denen sich der nicht-filmgeförderte Film einmal wieder und jetzt aber wirklch von seiner besten Seite und in Aufbruchsstimmung zeigt: Insbesondere mit Gregor Erlers "Der letzte Mieter" ist unbedingt zu rechnen, versichert Rodek.

Besprochen werden Dante Lams auf Heimmedien veröffentlichter Blockbuster "Operation Red Sea", der tazler Ekkehard Knörer Lams den alten Zeiten des Hongkong-Kino-Rabaukes nachtrauern lässt, Benedikt Erlingssons Groteske "Woman at War", die laut NZZ-Kritiker Geri Krebs den Aufschwung des isländischen Kinos belegt, und Nikolaus Leytners Verfilmung von Robert Seethalers Roman "Der Trafikant", die bei der Kritik weitgehend durchfällt (NZZ, Berliner ZeitungTagesspiegel),
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Literatur

Hartmut Finkeldey seziert auf Tell-Review Gryphius' Barockgedicht "Tränen des Vaterlands 1636". In einer NZZ-Glosse lässt Sarah Pines Ingeborg Bachmann unter Social-Media-Eindrücken ein Gedicht schreiben.

Besprochen werden unter anderem Hans Magnus Enzensbergers "Eine Handvoll Anekdoten" (Zeit), Kathrin Gerlofs "Nenn mich November" (Berliner Zeitung) und Paolo Giordanos "Den Himmel stürmen" (FAZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Musik

Die Feuilletons küren ihre Favoriten für das heute in Berlin beginnende Jazzfest (siehe dazu auch schon die Empfehlung im gestrigen Efeu). Jens Uthoff porträtiert in der taz den Komponisten und Kornettisten Rob Mazurek, der mit seinem Exploding Star Orchestra heute den Auftakt gibt. "Dass das Kollektiv von Sun Ra inspiriert ist, wirkt offensichtlich. ... Wie Sun Ra erzählt er selbst mit seinem Ensemble eine Science-Fiction-Story mit den Mitteln des Jazz, verlegt die Utopien, die auf Erden unmöglich geworden sind, in den Weltraum." Gemeint ist das Album "Galactic Parables Vol. 1", aus dem es eine Hörprobe auf Youtube gibt:



Tim Caspar Boehme stellt in der taz die Gitarristin Mary Halvorson vor, die in diesem Festivaljahrgang Artist in Residence ist: "Ein Glücksfall", denn Halvorson ist "eine der ausgeprägtesten Stimmen im Jazz". Eine Hörprobe aus ihrem Album "Away with you", das sie am Abschlussabend spielen wird, gibt es auf Youtube:



Im Tagesspiegel empfiehlt Stefan Hentz die New Yorker Trompeterin Jaimie Branch, "ein Kraftpaket mit einem gehörigen Schuss Punk-Attitüde, eine Berserkerin, die musikalische Konventionen allenfalls beachtet, um sie zu umgehen." Ein Live-Eindruck vom Anfang des Jahres:



Für die Zeit hat Christina Rietz Andris Nelsons als neuen Chefdirigenten des Leipziger Gewandhausorchesters einer Weile begleiten können und ist dabei zu folgenden Beobachtungen gelangt: "Wenn das Leichte in der Kunst immer das Schwere ist, dann leistet Andris Nelsons Schwerstarbeit genau dann, wenn seine Begeisterung und sein Frohsinn keine Grenzen zu kennen scheinen. Wie man Beethoven aus der Halbdistanz dirigieren könne, das wisse er nicht, sagt der Dirigent. Er fühlt sich wie ein Schauspieler, der verschiedene Rollen spielen muss, auf die Gefahr hin, sich in ihnen zu verlieren. 'Ich muss Beethoven sein, ich muss Mahler sein, ich muss Tschaikowsky sein, ich muss jeder einzelne Charakter einer Oper sein', sagt er. An einem wilden Abend Ende Juni ist Nelsons weder Mahler noch Tschaikowsky, sondern ein Cowboy auf einem Pferd."

Weitere Artikel: Die FAZ setzt Funny van Dannen und PeterLicht zum Plaudern an einen Tisch. Besprochen werden Wayne Shorters Comic-CD-Box-Kombination "Emanon" (Standard), Jens Friebes neues Album "Fuck Penetration" (Tagesspiegel) und das Comebackalbum von Culture Club mit Boy George (FR). Außerdem präsentiert das Logbuch Suhrkamp die 61. Folge von Thomas Meineckes "Clip//Schule ohne Worte":

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