Efeu - Die Kulturrundschau

Debüt, Skandalaufregung, Genieverdacht

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15.10.2018. Die taz erkennt in ihrem Resümee der Buchmesse: Auf dem Buchmarkt sind schnelle Erfolge nicht mehr so leicht zu haben. Die Nachtkritik feiert mit Alice Birch am Berliner Ensemble  Punani Power, aber Marlene Streeruwitz muss draußen bleiben. Die NZZ horcht auf, wenn Paavo Järvi die Muskeln des Tonhalle-Orchesters spielen lässt. Die Welt blickt im Pariser Institut de Monde Arabe auf die gebrochenen Knochen Mossuls.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.10.2018 finden Sie hier

Literatur

Das war eine schöne Buchmesse mit vielen interessanten Momenten und Erlebnissen, resümiert taz-Kritiker Dirk Knipphals die letzten Tage in Frankfurt. Aufgefallen ist ihm bei all den Groß- und Kleinereignissen ein Thema am Rande, auf dass immer wieder die Sprache kam: Wer sich heute als Schriftsteller etablieren will, darf nicht mehr auf schnellen Erfolg dank einschlägiger Strategien hoffen: "Debüt, Skandalaufregung, Genieverdacht und, zack, fertig ist die Aufmerksamkeit. Genau so aber läuft es eben keineswegs mehr. ... Für Inger-Maria Mahlke kam der Erfolg erst mit dem vierten Roman. Für eine Autorin wie Lucy Fricke und ihren Bestseller 'Töchter' auch. Anke Stelling, die mit 'Schäfchen im Trockenen' so etwas wie den heimlichen Erfolgsroman dieses Herbstes geschrieben hat, musste ebenfalls erst Durststrecken überwinden, bevor sie mit ihren Themen durchkam." Die SZ-Autoren halten ebenfalls Rückschau auf die großen und kleinen Themen der letzten Tage. Axel Weidemann von der FAZ erlebte eine Buchmesse der allseits verfestigten Meinungen, bei der das Gespräch im Grunde gar nicht mehr vorgesehen war.

Weitere Artikel: In der Berliner Zeitung empfiehlt Susanne Lenz georgische Bücher. Magnus Rust (FR) und Burkhard Müller (SZ) gratulieren der Schriftstellerin Marie-Luise Scherer zum 80. Geburtstag. Besprochen werden Nick Drnasos für den Man Booker Prize nominierter Comic "Sabrina" (Tagesspiegel), Archil Kikodzes "Der Südelefant" (Tell-Review, Standard), Gabriele Tergits Erinnerungsband "Etwas Seltenes überhaupt" (Tagesspiegel), Magdalena Jagelkes "Ein gutes Verbrechen" (taz), Paul Beattys "Der Verräter" (FR) und neue Hörbücher, darunter Hannes Messemers wiederveröffentlichte Lesung aus dem Jahr 1979 von "Berlin Alexanderplatz" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Joachim Sartorius über Konstantinos Kavafis' "Zur Ruhe kommt":

"Es war wohl ein Uhr
In der Nacht oder halb zwei.
..."
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Kunst

Das Theater von Leptis Magna in Libyen. Bild Insitut du Monde Arabe

Zum Weinen schön findet Martina Meister die Ausstellung "Cité Millenaires" im Pariser Institut du Monde Arabe und ist sich sicher, dass sie Geschichte schreiben wird: Sie lässt in 3D die zerstörte Stätten des Weltkurturerbes von Aleppo, Palmyra, Mossul und anderen wiederauferstehen: "Den Auftakt macht die irakische Stadt Mossul. Es fühlt sich an, als flöge man drüber: Auf einer enormen Leinwand breitet sich das Bild der zerstörten Stadt aus, Tausende Bilder wurden aufgenommen mit Drohnen, wenige Wochen nach der Befreiung der Stadt, im Auftrag der Unesco. Zu sehen sind zerbombte Häuser, Krater, Ruinen, dazwischen das, was bleibt vom Leben. Mossul ist nicht tot, aber liegt einem zu Füßen wie ein verwundeter Körper. Die Knochen gebrochen, die Narben tief. Man muss sich dieses Erlebnis wie den Besuch eines 3-D-Kinos vorstellen, nur dass man nicht über Berge oder Vulkane fliegt, sondern über eine zerstörte Stadt im Irak. Im Vogelflug erreicht man die Al-Nourri Moschee, deren Turm fehlt. Plötzlich baut er sich wie durch Geisterhand wieder auf, er zeichnet sich in das Stadtbild hinein, so wie er vor der Sprengung aussah."

Weiteres: Der Standard meldet den Tod des spanischen Malers Eduardo Arroyo. Besprochen werden eine Ausstellung des Fotografen Nihad Nino Pušija über die lebenswelten europäischer Roma in der Berliner Galerie im Körnerpark (Tagesspiegel) und die Gruppenausstellung "Aktive Asche" im Bärenzwinger im Köllnischen Park in Berlin (taz).
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Bühne

Patrick Güldenberg, Lorna Ishema und Sascha Nathan in "Revolt. She said. Revolt again". Foto: Julian Roeder/Berliner Ensemble

In einem feministischen Doppel inszeniert Christina Tscharyiski am Berliner Ensemble Stücke von Alice Birch und Marlene Streeruwitz. Streeruwitz' Stück "Mar-a-lago", das die Lebenslügen von Frauen ausstellt, tritt Nachtkritikerin Gabi Hift regelrecht in die Tonne, nennt es zynisch und hämisch, reinsten Verrat, weil es die "Lebenslügen" von Schauspielerinnen aufzeigt, die sich hochgeschlafen haben. Richtig gut gefällt der Kritikerin dagegen Birchs "Revolt. She Said. Revolt Again", in dem sie "gemeinsames Nachdenken" ebenso erkennt wie einen Aufschrei der Wut: "Eine leidenschaftliche, verzweifelte Reise durch den Alltag von Frauen, die daran erinnert, wie tief unsere Sprache, unsere Sitten, all unsere grundlegenden Ideen über Arbeit und Privatleben vom Erbe der Gewalt durchdrungen sind. Die einzelnen Szenen haben Übertitel - der erste heißt: 'Revolutioniere die Sprache (kehr sie um)' -, die klingen wie Aufrufe eines Manifests. Diese Aufbruchsstimmung wird durch Songs der Rapperin Ebow unterstützt, in denen sie die Punani Power feiert und durch schnelle comicartige Videoclips der Künstlerin Dominique Wiesbauer, die Spaß durch Empowerment versprechen. Aber bald wird klar, dass diese Titel keine Anweisungen sind, wie man es richtig machen soll, sondern Strategien der Frauenbewegung beschreiben, die allesamt gescheitert sind."

Besprochen werden Sebastian Nüblings Theateradaption von Sasha Marianna Salzmanns Roman "Außer sich" am Gorki Theater (Tagesspiegel, Berliner Zeitung, Nachtkritik), Peter Turrinis tröstliches Stück "Josef und Maria" am Theater in der Josefstadt in Wien (Standard), Lot Vekemans' Stück "Momentum" in Düsseldorf (SZ, Nachtkritik), Christian Spucks Inszenierung von Schuberts "Winterreise" mit dem Zürcher Ballett (NZZ) Alfred Jarrys "König Ubu" am Zürcher Theater am Neumarkt (NZZ), Simon Stones "Griechische Tragödie" am Berliner Ensemble (Welt, FAZ), Albert Lortzings komische Oper "Zar und Zimmermann" an der Volksoper in Wien (Standard) und Alex Ollés Inszenierung von Arrigo Boitos Ideen-Oper "Mefistofele" in Lyon (FAZ).
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Musik

Dirigent Paavo Järvi hat in einer Konzertreihe in Zürich einen Vorgeschmack gegeben, womit ab der nächsten Saison zu rechnen ist, wenn er als Chefdirigent das Tonhalle-Orchester übernimmt. Im Vergleich zu früher klingt das Orchester "muskulöser, kantiger; stärker auf Reliefgebung, auf das Konturieren rhythmischer Details oder das Hervorheben einzelner Stimmen bedacht. Und Järvi musiziert gerne etwas rascher als gewohnt", schreibt Felix Michel in der NZZ. Bei der Zweiten Sinfonie von Brahms, die das Orchester noch vor wenigen Monaten unter anderem Dirigat gespielt hatte, zeigte sich besonders gut, "wo Järvi andere Akzente setzte - und wie alert und bereitwillig ihm das Orchester dabei folgte: Alles Motorische pointiert Järvi zusätzlich, bisweilen verlangsamt er hingegen ein Crescendo effektvoll. Wo er im Kopfsatz Gelegenheiten zum Atemholen auslässt, verharrt er im Allegretto-Satz überdeutlich auf notierten Zäsurpausen. Ein kontrastreiches Gestalten, das bei Brahms ästhetisch vielleicht doch weniger ergiebig ist als anderswo."

Weitere Artikel: Die NZZ hat Eleonore Bünings Rundgang durch die Diskografie Leonard Bernsteins online nachgereicht. Jörg Sundermeier porträtiert für die Jungle World den Berliner Musiker Chris Imler. Doreen Reinhard spricht für ZeitOnline mit dem Musiker Martin Rattke über Hoyerswerda. Für Pitchfork holt Susan Elizabeth Shepard das Debüt der B-52s wieder aus dem Plattenschrank. Der Philadelphia Inquirer bringt eine ziemlich großartige Strecke mit Fotos, die ein Plattenladenmitarbeiter in den 70ern und 80ern von diversen Rock-Acts geschossen hat.

Besprochen werden ein Konzert der Gruppe Gewalt (taz), in dessen Anschluss noch Jack White spielte (Berliner Zeitung, Tagesspiegel), das neue Album von Cat Power (taz), eine Bach-Aufnahme von Kim Kashkashian (Zeit), Udo Lindenbergs Autobiografie (FR) und eine Box mit Propaganda- und kritischen Songs zum Koreakrieg (SZ).

In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Katharina Cichosch über "Teenage Kicks" von den Undertones:

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Film

Auf Netflix läuft Paul Greengrass' "22. Juli" an, der nicht nur fast identisch so heißt wie Erik Poppes kontrovers diskutierter "Utøya 22. Juli" (hier unsere Kritik), sondern sich auch ebenfalls mit Anders Breiviks rechtsradikalem Anschlag befasst. Greengrass findet allerdings eine deutlich andere Strategie als Poppe, der Breivik zumindest im Filmbild gar nicht erst auftreten ließ, erklärt Tobias Kniebe in der SZ: Bei Greengrass geht es nämlich gar nicht so sehr um die Massaker selbst, "sondern um dessen Nachhall." Und damit "trifft Greengrass - der in Norwegen und ausschließlich mit norwegischen Darstellern gedreht hat, der internationalen Reichweite wegen aber in englischer Sprache - in der Folge klügere Entscheidungen als Erik Poppe".

Weitere Artikel: Beate Scheder porträtiert in der Berliner Zeitung die Schauspielerin Jana Fritzi Bauer. Besprochen werden Ramin Bahranis Neuverfilmung von "Fahrenheit 451" (SZ), Drew Goddards "Bad Times at the El Royale" (Freitag),
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