Efeu - Die Kulturrundschau

In schönster Eigensinnigkeit

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10.10.2018. Und schon wird das neue Museum des 20. Jahrhundert in Berlin das Doppelte kosten, bemerkt die SZ zu den revidierten Plänen von Herzog und de Meuron, dafür bleibt die Platane stehen. Auf der Buchmesse lauscht sie gebannt Chimamanda Adichies Appell für mehr Frauenrechte. In der FR erklärt sich der Autor Davit Gabunia auch die Homophobie in Georgien mit einem Hass auf Frauen. Der Tagesspiegel bemerkt eine neue, geradezu luxuriöse Fülle in der Ausstattung von DDR- Filmen. Und der Guardian schwelgt in der Strenge und Sinnlichkeit von Anni Albers Webarbeiten.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.10.2018 finden Sie hier

Architektur

Jetzt mit Freitreppe: Der neue Entwurf für das Museum des 20. jahrhunderts. Abbildung: Herzog und de Meuron

Aus dem Lehrbuch der Nachverhandlungen: Die Architekten Herzog & de Meuron haben ihre vielkritisierten Pläne für das Berliner Museum des 20. Jahrhundert revidiert, meldet Peter Richter in der SZ. Das Bierzelthafte sei der "Kunstscheune" jetzt genommen, gibt er zu, und auch die prächtige Platane wird gerettet. Aber: "In den Renderings wird eher von ewigem Winter ausgegangen, in dem das Museum die Stadt beleuchtet. Hier werden nun die vielen neuen Öffnungen wichtig: gläserne Fronten, eine Freitreppe im Außenraum und große verschiebbare Wände wie die Tore von Flugzeug-Hangars ... Nur dass das alles nicht für die ursprünglich verlautbarten 200 Millionen zu haben sein wird, sondern nach den aktuellen Kalkulationen mehr als das Doppelte kosten wird, beschäftigte in Berlin so recht keinen." Das eine - Verkleinerung des Museums, um mehr Abstand zur St.-Matthäus-Kirche und zur Platane zu haben - hat mit dem anderen - gesteigerte Kosten - zu tun, erklärt Markus Woeller in der Welt: "Um trotz der kleineren Außenmaße die gewünschten 9000 Quadratmeter Ausstellungsfläche zu erhalten, muss die Baugrube vertieft werden. Das ist, neben den explodierenden Preisen im Baugewerbe, einer der Gründe für die Verteuerung."
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Kunst

Anni Albers: Camino Real, 1969. The Josef and Anni Albers Foundation / Tate Modern


Im Guardian jubelt Adrian Searle über die grandiose Anni-Albers-Schau, die bei ihrer Station im Düsseldorfer K20 viel zu wenig Aufsehen erregte, nun aber in der Londoner Tate zu sehen ist: "Selten kommt man mit soviel Auftrieb, Freude und Lust aus einer Ausstellung wie aus dieser zu Anni Albers. Ihre Kunst befriedigt das Auge und den Geist, und wenn man sie berühren dürfte, würde sie dies auch mit dem Tastsinn tun. Man möchte das Flechtwerk fühlen, mit den Finger über die Fransen und die stolzen Fäden streichen, über Festes und Lockeres und in ihren Webarbeiten die Unterschiede spüren zwischen Weich und Drahtig, Metallisches und Kunststoff. Viellleicht spielt auch der Geruch eine Rolle, aber eher in der Vorstellung. Sinnlichkeit - die ans Sexuelle grenzt - und geometrische Strenge, Ähnlichkeit und Abweichung, Vergnügen, die sich wiederholen sollen, ziehen sich in dieser Albers-Ausstellung durch ein Lebenswerk."

Besprochen werden die Schau "Phantastisch!" zum Archiv des Universalkünstlers Alfred Kubin im Münchner Lenbachhaus (SZ) und die Ausstellung der südkoreanischen Künstlerin Lee Bul im Berliner Gropiusbau (taz).
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Bühne

Karlsruhes neue Schauspieldirektorin Anna Bergmann startet ihr Feminat mit dem Ibsen-Projekt "Nora, Hedda und ihre Schwestern", das die drei großen Frauendramen des Norwegers miteinander verschränkt. In der SZ freut sich Adrienne Braun über Bergmanns gelungen Start, in der FAZ atmet auch Martin Halter am Ende des Abends irgendwie erleichtert auf: "Dass Mann und Frau nach so viel Missverständnissen, Missbrauch und Männergewalt noch miteinander reden können, ist fast ein Wunder. "

Besprochen werden Christopher Rupings zehnstündiger Theatermarathon "Dionysos Stadt" an den Münchner Kammerspielen (taz) sowie die beiden Berliner Opernpremieren von Bergs "Wozzeck" und Cherubinis "Medea" (bei der NZZ-Kritikerin Eleonore Büning nur die Stimme von Sonya Yoncheva erfreute, Berliner Zeitung).
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Design

Contemporary Muslim Fashion im de Young Museum in San Francisco. Mehr Bilder von der Ausstellung bei Dezeen


Fasziniert schlendert NZZ-Kritikerin Lilian Pfaff durch die große, "sehr differenzierte" Ausstellung "Contemporary Muslim Fashions" im de Young Museum in San Francisco: "So wie der Islam ein multikultureller Glaube ist, so ist auch die Kleidung nicht nur von religiösen Traditionen geprägt, sondern von weltweiten Modetrends und den ästhetischen Vorlieben aus den unterschiedlichen Regionen", erfährt sie hier. "In Malaysia, einem der führenden Modemärkte, würden traditionelle Textilien mit zeitgemäßen Schnitten und feministischen Ideen verbunden, das wird während einer Führung für die Presse in diesen Ausstellungsräumen immer wieder betont. Tatsächlich sind polemische Urteile hier fehl am Platz. Im wichtigsten Modemarkt, in Indonesien, war das Kopftuch politisch etwa so aufgeladen, dass es zum Zeichen des Widerstands gegen das Regime von Präsident Suharto wurde." Dass es heute genau umgekehrt ist und das Kopftuch für eine immer rigidere Religionsanschauung steht, sollte man aber vielleicht auch erwähnen.
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Literatur

Großen Beifall hat Chimamanda Ngozi Adichie für ihre Eröffnungsrede zur Frankfurter Buchmesse geerntet. Ihr flammender Appell für mehr Frauenrechte weltweit "war in einer Phase, in der die Ratlosigkeit angesichts sinkender Buchverkaufszahlen mit Händen zu greifen ist, ein Paradebeispiel dafür, wie Literatur und das Sprechen darüber Bedeutung und Relevanz erlangen können", schreibt Christoph Schröder in der SZ und zitiert die nigerianische Schriftstellerin: "'Es ist an der Zeit, beim Geschichtenerzählen Mut zu zeigen. Es ist an der Zeit zu sagen, dass wirtschaftliche Überlegenheit nicht moralische Überlegenheit bedeutet. Es ist an der Zeit für Männer, Bücher von Frauen zu lesen.'"

Dazu passend kommt Marie Schmidt in der SZ auf die im Rahmen der Buchmesse vorgestellte Studie "Sichtbarkeit von Frauen in Medien und Literaturbetrieb" zu sprechen, deren Fazit besagt, dass in der Literaturkritik mehr Bücher von männlichen Autoren besprochen werden, mehr Männer als Frauen Kritiker sind, Bücher von Frauen eher selten von Männern besprochen werden und dass männliche Kritiker obendrein noch im Schnitt längere Texte verfassen als ihre Kolleginnen. Vorschnelle Schlüsse sollte man daraus allerdings nicht ziehen, meint Schmidt: Es könne ja etwa "sein, dass Frauen seltener als Männer schwere, Epochen und Geistesgrößen in ihrer Totalität darstellende Monografien oder Romane schreiben. Und warum mag das so sein, und werden solche Bücher womöglich selbstverständlicher als seriös und relevant wahrgenommen als andere?"

Im FR-Gespräch erklärt der georgische Autor Davit Gabunia, warum er sich mit der Homophobie in seinem Land auseinandersetzt: Für ihn "ist sie Ausdruck einer Männlichkeitskrise. Und wenn wir tiefer graben, führt das zu einer allgemeinen Misogynie, einem Hass auf Frauen. ... Ich meine die Männlichkeit in einem patriarchalen Sinn, diese traditionelle, brutale, machohafte Männlichkeit, die besagt, dass der Mann der Kopf und der Ernährer der Familie ist. Diese Art von männlicher Identität zerbricht gerade. Und das wollte ich zeigen, nicht als Katastrophe, sondern indem ganz normale Leute etwas Außergewöhnliches tun."

Weitere Artikel: Dirk Knipphals freut sich in der taz noch einmal über den Deutschen Buchpreis für Inger-Maria Mahlke, "weil damit ein Autorinnenleben gewürdigt wird, das in schönster Eigensinnigkeit und offenbar jenseits literarischer Moden voranschreitet". Auf Tell Review unterzieht Sieglinde Geisel den preisgekrönten Roman dem berüchtigten Page-99-Test: "Deutlich spürbar ist der Wille zum Stil", lautet der Befund mit vorsichtiger Skepsis. Arno Widmann hat sich für die FR mit dem Verleger Ingo Držecnik getroffen, dessen Berliner Elfenbein Verlag mit dem Kurt-Wolff-Preis ausgezeichnet wurde. Andrea Dernbach porträtiert im Tagesspiegel die italienische Bestsellerautorin Francesca Melandri. Claus-Jürgen Göpfert führt in der FR durch den georgischen Pavillon der Frankfurter Buchmesse. Alex Rühle führt in der SZ ein "zumindest denkbares" Interview mit zwei Angestellten über ihr Dasein als Nicht-Schriftsteller: "Ich schweige ja nun schon seit 48 Jahren", erklärt ein gewisser Herr Parzmann,  "und denke, wenn man genau hinhört, kann man mein Schweigen in Epochen unterteilen: Desinteresse. Kritische Apathie. Kampfesmut. Momente der Hoffnung."

Besprochen werden Wolf Haas' "Junger Mann" (Welt), Adolf Endlers "Kleiner kaukasischer Divan. Von Georgien erzählen" (FR), Vincenzo Todiscos "Das Eidechsenkind" (NZZ), Ursula Krechels "Geisterbahn" (FR), Steffen Menschings "Schermanns Augen" (Berliner Zeitung), Peter Neumanns "Jena 1800" (SZ), Delphine de Vigans "Loyalitäten" (FAZ) und eine Ausstellung im Frankfurter Struwwelpeter-Museum zum georgischen Märchen "Tsikara" (FR).
Archiv: Literatur

Film

Szene aus Andreas Dresens "Gundermann"


Die DDR als Boutique und Vorstellung: Matthias Dell hat für den Tagesspiegel genau hingesehen, wie jüngere Filme insbesondere in den Interieurs die DDR darstellen. Als interessant sind ihm dabei lediglich Matti Geschonnecks "In Zeiten des abnehmenden Lichts" und Andreas Dresens "Gundermann" aufgefallen, die sich mit neuen Ideen von der Vorstellung der DDR als reinem Retro-Fundus emanzipieren: "In beiden Fällen reagieren die Interieurs auf die plakative Routine, mit der die DDR im deutschen Kino über ihre signifikantesten Objekte zu Tode entworfen wurde: Sie wiederbeleben das Erscheinungsbild der DDR mit einer geradezu luxuriösen Fülle und Unordnung, und sie verzichten auf die üblichen Requisiten-Klischees in der DDR-Ausstattung." Außerdem erfahren wir von der Ausstatterin Susanne Hopf, wie schwierig es mittlerweile in der gründlich aus dem Straßenbild wegsanierten DDR ist, noch günstige Orte für Außendrehs zu finden.

Weitere Artikel: In der Berliner Zeitung gratuliert Ralf Schenk dem Regisseur Günter Stahnke zum 90. Geburtstag. Besprochen werden Drew Goddards Neo-Noir-Thriller "Bad Times at the El Royale" (Standard), die Serie "American Vandal" (FR) und die Comicverfilmung "Venom" mit Tom Hardy (SZ).
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Musik

Im großen Tagesspiegel-Gespräch schwärmt Andrea Zietzschmann, die Intendantin der Berliner Philharmonie, von der bisherigen Zusammenarbeit mit Kirill Petrenko, der ab August 2019 seinen Posten als Orchesterleiter antreten wird und entgegen seinem Medien-Image als unkommunikativer, zurückgezogener Künstler hinter den Kulissen offenbar den intensiven Austausch sucht. Auch erste Blicke auf Petrenkos Fokus kann sie bereits gestatten: "Ein Komponist, der seltener präsent war und mit dem sich Petrenko künftig beschäftigen will, ist Mendelssohn Bartholdy. Einen höheren Anteil werden künftig auch russische Werke haben."

Weitere Artikel: Krautrock-Historiker David Stubbs hat sich für The Quietus mit Hans-Joachim Roedelius zum Gespräch getroffen. In der NZZ führt Thomas Schacher durch das frisch eröffnete Joachim-Raff-Archiv in Lachen. Für die Welt plaudert Felix Zwinzscher mit Funny van Dannen.

Besprochen werden Marie Davidsons Album "Working Class Woman" (SpOn, "eines der besten elektronischen Alben der letzten Zeit", jubelt Lars Fleischmann in der taz), das Album "Mad Woman" von Wolfman (NZZ), das Album "Mudboy" von Sheck Wes (Pitchfork), ein Konzert der St. Petersburger Philharmoniker unter Yuri Temirkanow (Standard) und weitere Popveröffentlichungen, darunter das neue Album von John Grant (SZ) und die neue Single von Lana del Rey (Standard).

Archiv: Musik