Efeu - Die Kulturrundschau

Ein einziger Imperativ

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10.08.2018. Die SZ erliegt Cecilia Bartoli als schaumgeborener Venus in Rossinis Oper "L'italiana in Algeri". Die FR feiert begeistert die Leo-McCarey-Retrospektive in Locarno. Die taz ist entsetzt: ein uralter Protestsong der Bots soll die neue "Aufstehn"-Hymne werden? Die NZZ schaudert: Zuviel positive Zukunftsideen im Londoner Victoria and Albert Museum.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.08.2018 finden Sie hier

Bühne

Szene aus Rossinis "L'italiana in Algeri" 2018. Foto: © Salzburger Festspiele / Monika Rittershaus


Staunend sieht SZ-Kritiker Michael Stallknecht zu, wie Cecilia Bartoli "nur von Schaum bedeckt" in einer Badewanne auf die Bühne gefahren wird, einer schaumgeborenen Venus gleich. Und das ist nicht das einzige Ereignis in Rossinis Oper "L'italiana in Algeri". Die Sänger, die Regisseure Moshe Leiser und Patrice Caurier, Dirigent Jean-Christophe Spinosi, alle geben ihr Bestes in dieser Salzburger Inszenierung: "Wo sonst Sänger und Regisseure sich bei Rossini gern auf Stereotype beschränken, da begibt sich hier das gesamte Team auf die Suche nach den menschlichen Seiten der Figuren. Rossini erscheint seinem Vorbild Mozart nahe, bei dem das Begehren ebenfalls die zentrale Antriebskraft ist. Der Abend ist fraglos eine starke Aktualisierung, wie sie bei derartigen Direkttransfers in die Gegenwart in der Oper nicht immer gelingt. Die Debatte über 'Me Too' hallt in ihm ebenso nach wie die über den Zusammenstoß von Kulturen mit unterschiedlichen Wertvorstellungen. Doch Leiser und Caurier kommen dabei ohne Zeigefinger aus, weil vor dem Begehren alle gleichermaßen machtlos - und gleichermaßen lächerlich sind." Amüsiertes Lob auch von Stefan Ender im Standard.

Sehr klug hat sich die Ruhrtriennale-Intendantin Stefanie Karb im Streit um die Israel-Boykottbewegung BDS nicht verhalten, aber immerhin steht sie für einen ernsthaften Diskurs. Die Politiker, allen voran NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU), haben sich dagegen mit politikertypischer Feigheit aus der Situation gezogen, findet Stefan Keim in der Welt: "Dass NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) nun die Ruhrtriennale komplett boykottiert, weil eine dort nicht mehr auftretende Band mit einer Israel-Boykottbewegung sympathisiert, ist ein bedenkliches Zeichen für den demokratischen Diskurs. Es genügt die Andeutung, irgendwo könne radikales Denken im Spiel sein, und schon springt der Landesvater in Deckung. Um bloß nicht einen kleinen Flecken aufs weiße Hemd zu bekommen, wenn es irgendwo spritzen sollte."

Außerdem: Zuviel Technik und zuwenig Sprache erlebt Bernd Noack an deutschen Theatern, klagt er in der NZZ. Es geht ihm dabei "um die erkenn- und erspürbare Aufregung, die ein unbequemes Wort hinterlässt".

Besprochen werden Dušan David Pařízeks Adaption von David Grossmans Roman "Kommt ein Pferd in die Bar" bei den Salzburger Festspielen (nachtkritik, Standard) sowie "Do's & Don'ts - eine Fahrt nach allen Regeln der Stadt" mit Rimini Protokoll beim Sommerfestival Kampnagel in Hamburg (nachtkritik).
Archiv: Bühne

Musik

Ziemlich schauderhaft findet Arno Frank in der taz die Vorstellung, dass der reichlich angestaubte Protestrock-Klassiker "Aufstehn" der Bots, getextet und immer wieder aktualisiert von Dieter Dehm, nun tatsächlich zur Hymne von Sahra Wagenknechts "Aufstehen"-Bewegung werden könnte. Nach einer ausgreifenden Text-Exegese stellen sich Frank mehrere Fragen: "Wo bitte bleibt das Narrativ? Die positive Erzählung, die es heute braucht? Geschlagene sieben Minuten lang ist zu allerlei Flötenklängen und akustischen Gitarren vom Aufstehn die Rede und davon, wer alles sich jetzt zu erheben habe. Ein einziger Imperativ. Du sollst! Alle sollen! Gibt es im Sommer, dessen offizieller Hit die neue Interpretation eines italienischen Partisanenliedes von 1945 ('Bella Ciao') ist, wirklich keine zeitgemäßere Hymne für die Bewegung? Eine, die für Bewegung sorgt statt für lähmendes Entsetzen? Und wer nicht zum Aufstehen aufgefordert wird, das sind die Migranten."

Weitere Artikel: Für Skug führt Lutz Vössing durch Holger Czukays Solo-Arbeiten, soweit es durch die früher im Jahr erschienene Box "Cinema" erschlossen ist. Adrian Schräder stellt in der NZZ die Band Altin Gün vor, die von den Niederlanden aus türkischen Psych-Rock spielt. Tobi Müller macht sich in der NZZ Gedanken über den Techno der 90er und die Fitnessbewegung der Gegenwart. SZ-Kritiker Jan Kedves sucht beim Video zu Sophies Stück "It' okay to cry" nach Erlösung von der Hitze.



Besprochen werden Tirzahs Album "Devotion" (taz, Pitchfork), ein Auftritt von Bukahara (FR), Kamasi Washingtons Mainzer Konzert (FR) und Anna Prohaskas Liederabend im Kloster Eberbach (FR).
Archiv: Musik

Film

Cary Grant vermisst Ginger Rogers in Leo McCareys "Once upon a honeymoon" von 1942


Ganz Locarno befindet sich im fröhlich lachenden Taumel. Zumindest, wenn man Daniel Kothenschulte in der FR glauben kann, der begeistert von der Leo McCarey gewidmeten Retrospektive berichtet. Insbesondere McCareys Stummfilme würden frenetisch gefeiert: "Die meisterhaften Langfilme von Chaplin, Harold Lloyd und Keaton haben uns vergessen lassen, zu welcher modernen Kunstform der Kurzfilm in den Hal-Roach-Studios gereift war - maßgeblich dank Leo McCarey. ... Es heißt, die große Zeit des Stummfilms in Hollywood sei eine Zeit der Unschuld gewesen. Für McCarey und seine Komiker aber ging es weniger um Poetisierung der Wirklichkeit als um eine analytische Bestandsaufnahme und die Bloßstellung der gesellschaftlichen Doppelmoral." Richtig populär wurde McCarey schließlich mit seinen Screwball-Komödien im Tonfilm, erklärt Esther Buss in der Jungle World: In seinen besten Filmen entwickle er gar "einen gewissen 'McCarey-Touch'. Musik spielt eine große Rolle, ebenso ein ungewöhnlich lebendiger, immer wieder auf Improvisation zurückgreifender Schauspielstil - in der gut geölten Hollywood-Maschinerie ein kleiner Systemausreißer."

Und hier McCareys wunderbarer Film "Ruggles of Red Gap" von 1935 - eine Emanzipationskomödie mit Charles Laughton:



Die für 2020 angekündigten Pläne der Academy, die Live-Übertragung der Oscar-Verleihung zu kürzen, sie nochmals um zwei Wochen nach vorne zu verlegen (was insbesondere die Berlinale interessieren dürfte) und mit der Kategorie "bester populärer Film" die Großproduktionen wieder zurück ins Programm zu holen, hält Thomas Klein von der Berliner Zeitung für keine guten: "Wer die besten Filme gegen die beliebtesten stellt, macht Umsatzzahlen preiswürdig und künstlerische Ambition zur Nischen-Sache." Auch Jürgen Schmieder ist in der SZ verzweifelt angesichts dieses Modernisierungsprogramms: "Es ist wirklich so hanebüchen, wie sich das nun liest. ... Mit dieser Entscheidung gibt die Akademie ihre Rolle als Bewahrer der Filmkunst zugunsten höherer Einschaltquoten auf." Und Wenke Husmann von ZeitOnline sieht in einer Auszeichnung für den größten Publikums "eine Ehrung, die nicht nur sinnlos wäre, sondern auch gleich noch das Publikum für dumm verkauft."

Weitere Artikel: Urs Bühler gratuliert dem Locarno-Maskottchen Pardo zum 50. Geburtstag. Fritz Göttler (SZ), Andreas Platthaus (FAZ) und Hans Helmut Prinzler (Tagesspiegel) schreiben Nachrufe auf den Filmhistoriker Enno Patalas.

Besprochen werden Cory Finleys "Vollblüter" (Tagesspiegel), Mike Newells "Deine Juliet" (Tagesspiegel), Jon Turtletaubs Haifisch-Blockbuster "The Meg" (Zeit, unsere Kritik hier) und Annekatrin Hendels Dokumentarfilm "Familie Brasch" (Berliner Zeitung).
Archiv: Film

Literatur

Tom Kuhn berichtet im Logbuch Suhrkamp von seiner Erfahrung, in den letzten Jahren gemeinsam mit David Constantine Betrolt Brechts Gedichte ins Englische übersetzt zu haben: "Vor uns lag die Herausforderung, uns in unterschiedlichen Formen und Stimmen zu äußern, und in unserem Versuch, an Brechts sprudelnde Kreativität, sprachlichen Erfindungsreichtum und politische Empörung heranzureichen, haben wir mit unserer eigenen poetischen Sprache gerungen. Eindringlich ist uns wieder und wieder klar geworden, wie aktuell diese Gedichte sind. Bei manchen können sich einem die Nackenhaare zu Berge stellen, als wären diese Zeilen gestern geschrieben worden."

Besprochen werden Maxim Billers "Sechs Koffer" (Tagesspiegel, SpOn, NZZ, Spex), die Wiederveröffentlichung von James Baldwins "Beale Street Blues" (Standard), Daan und Thomas Heerma van Voss' Thriller "Zeuge des Spiels" (SZ) sowie Flix' Comicalbum "Spirou in Berlin" (FAZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Body Code Animation: 'Visualising the code of life', Drew Berry, The Walter and Eliza Hall Institute of Medical Research. © E.O.Wilson Biodiversity Foundation


Viel zu optimistisch ist NZZ-Kritiker Oliver Herwig die Ausstellung "The future starts here" im Victoria and Albert Museum in London. Statt einer grundsätzlichen Kritik an der Moderne findet er hier Objekte, die Probleme flexibel und gemeinschaftlich im kleinen Rahmen angehen: "Da sind gelungene Crowdfunding-Aktionen wie die gelbe Fußgängerbrücke Luchtsingel in Rotterdam, die nun dank der Investition Hunderter Bürger Gleise und Straßen überspannt und ehemals getrennte Stadtteile wieder zusammenfügt. Daneben stehen autonome Fahrzeuge sowie ein Modell für ein überkonfessionelles Gotteshaus in Berlin. Die eindrucksvollen Initiativen belegen das, was Soziologen die neue 'Wir-Kultur' nennen. Weil sich der Staat aus vielen Bereichen zurückzieht oder einfach zu lange plant, übernehmen Graswurzel-Bewegungen die Verantwortung für das Wohlergehen der Gesellschaft. Pragmatismus von unten hat, jedenfalls wenn man dem Victoria and Albert Museum glaubt, Zukunft, gewürzt mit dem Gefühl, dass hier wirklich etwas für die Gemeinschaft bewegt wird".

In der SZ berichtet Catrin Lorch über die neuesten Wendungen im Kassler Streit um den Obelisken des Künstlers Olu Oguibe: Während die einen den Obelisken an seinem jetzigen Platz auf Dauer ablehnen, andere das mit Hitlers Säuberungspolitik vergleichen und die Stadt einen Kompromiss bzw. einen neuen Standort sucht, hat sich Oguibe "im Streit um den Ankauf kaum zu Wort gemeldet, vielleicht auch, weil er als ehemaliger Aktivist gelernt hat, seine Interessen Zug um Zug voranzubringen. 'Man muss solche Situationen angehen wie ein Schachspiel", sagt er: "Vieles ist möglich, wenn man alle Figuren im Blick hat.'"

Besprochen werden eine Ausstellung mit Hofkultur und Hofkunst unter den Kurfürsten von Sachsen im Palast der Großfürsten in Vilnius (FAZ) sowie die Installation "Farbdialog" mit der das Corbusierhaus im Berliner Westend seinen Sechigsten feiert (Tagesspiegel).
Archiv: Kunst