Efeu - Die Kulturrundschau

Testosterongewitter

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.07.2018. Die NZZ untersucht den Trend zur Mini-Wohnung. Die Kunst ist frei in Deutschland, ruft der Tagesspiegel der Münchner CSU zu, die ihren Theaterintendanten einen Maulkorb verpassen möchte. Der Standard summt trotz der angestrengten Inszenierung eine Arie aus Berthold Goldschmidts Oper "Beatrice Cenci". In der taz erklärt Stooges- und Ramones-Entdecker Danny Fields wie man mit Strom aus einer angezapften Straßenlaterne ein tadelloses Album produziert.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.07.2018 finden Sie hier

Architektur

Bild: Tiny House Summer School des Bauhaus Campus Berlin


Können Mini-Wohnungen für Studenten und Singles helfen, das Wohnungsproblem lösen, wie es der Berliner Architekt und Designer Van Bo Le-Mentzel kürzlich in einem Vortrag versprach? Wie auch immer, Miniwohnung liegen jedenfalls im Trend, erklärt Sarah Pines in der NZZ: "Architektonisch variieren die Konzepte nur leicht: In der Nähe eines autarken Winzigraums (Wohnwagen, Zimmerwürfel), kleiner Studios (maximal 45 Quadratmeter) oder von Wohneinheiten, die zwischen Gebäude gequetscht wurden, findet sich immer ein Groß- oder Stadtraum zum Aufatmen. ... Die potenziellen Mieter aber unterscheiden sich voneinander. Neben Studenten und Menschen in Not werden solche mit diffuser Aufbruchsstimmung angesprochen, Menschen ohne Bindungen, die alleine leben und sich verwirklichen wollen, die also keine Großraumwohnung für die Großfamilie benötigen. Oder solche, die keine Lust auf WG haben. Es sind Menschen ohne viele Dinge, alles ist in der Cloud, auf dem Kindle, dem iPhone oder vorhanden draußen in der Stadt, dem Hub, dem Buzz."

Weitere Artikel: Antje Stahl stellt in der NZZ Christian Menns Biaschina-Viadukt und die Sunnibergbrücke als Beispiel für feinste Ingenieurskunst vor. In der Welt schreibt Richard Kämmerlings eine kleine Kulturgeschichte des Freibads.
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Bühne

Szene aus aus Berthold Goldschmidts Oper "Beatrice Cenci". Foto: © Bregenzer Festspiele, Karl Forster


Fast schon sauer kommt Standard-Kritiker Stefan Ender aus Berthold Goldschmidts Oper "Beatrice Cenci", mit der die Bregenzer Festspiele eröffnet haben. Regisseur Johannes Erath hat das Werk "zur schrillen Farce auffrisiert", klagt er. "In seiner Inszenierung tut der Deutsche sowieso alles Menschenmögliche, um es unmöglich zu machen, Goldschmidts 1950 fertiggestellte, aber erst 1994 szenisch aufgeführte Oper wiederzuentdecken." Alles Blendwerk hier, klagt Ender, aber "immerhin ein virtuoses: Die luxuriösen Kostüme von Katharina Tasch sind eine große Schau" und als es nach Hause geht, steigt die Laune des Kritikers wieder: "Auf der Autofahrt nach Hause hat man unverhofft einen Passagier mehr an Bord. Ein Ohrwurm fährt mit: 'Lächelst oder weinst du, Freund', Beatrices Arie vor ihrer Hinrichtung. Als ein schlichtes, trauriges Wiegenlied hat Berthold Goldschmidt diese komponiert, versüßt mit einem Schuss Rührseligkeit à la Erich Wolfgang Korngold. Es ist dies einer der wenigen Momente des Abends, der stimmig ist: Die Zeit und auch der bunte Jahrmarkt der Inszenierungsideen stehen für einige Momente still." (Weitere Besprechungen bei Bayern Klassik, in der neuen musikzeitung - hier und hier - und in der FAZ.)

Gestern wurde bekannt, dass die Münchner CSU "dienstaufsichtsrechtliche Maßnahmen" gegen die Intendanten der Kammerspiele und des Volkstheaters, Matthias Lilienthal und Christian Stückl, einleiten will, weil sie zur Anti-Rechtsruck-Demo "Ausgehetzt" am Sonntag aufgerufen haben. Verletzung des Neutralitätsgebots für städtische Einrichtungen, lautet der Vorwurf (unser Resümee). "Die Kunst ist frei in Deutschland", ruft Christiane Peitz im Tagesspiegel den Münchner Herren zu, "auch und gerade die staatlich subventionierte. Kulturschaffende dürfen sich genauso politisch einmischen wie andere Bürger. Wenn SPD-Politiker und Intendanten-Kollege Martin Kusej Parallelen zur Schikanierung der Künste in Polen, Ungarn oder Österreich ziehen, wenn Lilienthal von einer Orbánisierung nicht nur der Kulturpolitik spricht, übertreiben sie nicht." (In Moskau hat gerade ein Gericht entschieden, dass der russische Regisseur Kirill Serebrennikow mindestens einen weiteren Monat unter Hausarrest bleiben muss, meldet dpa).

Außerdem: In der taz schreibt Hana Yeung Pui Wan eine kleine Geschichte der Kung-Fu-Tänze.
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Literatur

Besprochen werden Adolf Muschgs "Heimkehr nach Fukushima" (NZZ), Christian Y. Schmidts "Der letzte Huelsenbeck" (online nachgereicht von der FAZ), Rachel Cusks "Kudos" (FR), Daniela Strigls unter dem Titel "Alles muss man selber machen" erschienene "Poetik der Kritik" (NZZ), Richard Fariñas Beatnik-Roman "Been Down So Long It Looks Like Up To Me", zu dem Thomas Pynchon das Vorwort verfasst hat (Tagesspiegel) und Susanne Fritz' "Wie kommt der Krieg ins Kind?" (Tagesspiegel).
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Design

Besprochen werden zwei Ausstellungen über 1968 und das Design, beide im Berliner Bröhan Museum (Tagesspiegel) und eine Ausstellung im HfG-Archiv in Ulm über die Schließung der Hochschule für Gestaltung im Jahr 1968 (SZ).
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Film



Denis Villeneuves "Sicario" bekam 2015 weitgehend fantastische Kritiken, das jetzt von Stefano Sollima vorgelegte Sequel fällt weitgehend durch: Der an der mexikanischen Grenze spielende, offenbar ziemlich düstere Actionthriller über islamistische Terroristen, die die USA infiltrieren, ist "gestrickt aus Motiven der Trump-Zeit", schreibt Paul Simon auf ZeitOnline: "In der Atmosphäre des Ausnahmezustands zelebriert der Film rauschhaft die Eskalation, die auch eine Eskalation der Mittel ist." Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche sieht in dem Film ein filmhistorisches Echo des Western und Kriegsfilms. "Dumm nur, dass Sollima, ein durchaus talentierter Regisseur, mit dieser politischen Gemengelage wenig anzufangen weiß. Schlüsselszenen des Vorgängers werden eins zu eins wiederholt, der Score imitiert das spektakuläre Sounddesign des kürzlich verstorbenen Jóhann Jóhannsson. In dem Testosterongewitter fehlt eine vermittelnde Instanz." Und die Gewaltdarstellung "ermüdet zunehmend", gähnt Tim Caspar Boehme in der taz.

Besprochen werden außerdem Susanna Nicchiarellis Biopic "Nico, 1988" (FAZ, unsere Kritik hier), Hans Weingartners Roadmovie "303" ("astreines Biedermeier", stöhnt Esther Buss im Tagesspiegel, "gefälliger Poesiealbumkitsch", jammert Alexander Buchholz in Das Filter, FR), Samuel Maoz' "Foxtrot" (Zeit) und Ol Parkers zweiter Teil des ABBA-Musicals "Mamma Mia" (Daniel Kothenschulte beschwert sich in der FR über das "fantasielose Skript und die indifferente Regie", Welt).
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Kunst

Vor wenigen Tagen berichtete die New York Times über den Eiertanz, den das Blanton Museum in Austin/Texas aufführt, um Vincent Valdez' sehr kritisch gemeintes Gemälde einer Ku-Klux-Klan-Gruppe ausstellen zu können (unser Resümee). Es hat alles nichts genützt. Nicht nur die Bürgerrechtsbewegung NAACP beschwert sich, dass ihr das Bild viel zu spät vorabgezeigt wurde. Auch Studenten der University of Texas protestierten gegen das Bild, berichtet der Guardian: "Einer der Vorwürfe der Studenten lautet, dass das Gemälde '- durch die Aufwertung, die es als Teil der Kunstwelt erfährt - die historische Gewalt verherrlicht', und auch, dass es von Valdez geschaffen wurde. 'Der Künstler ist Mexikaner und während die Mexikaner in der westlichen Hemisphäre Rassismus erlebten, terrorisierte und ermordete der KKK vor allem Afroamerikaner', heißt es in einer Beschreibung des Protestes, der zur Entfernung und Zerstörung des Bildes aufruft."

Weiteres: Das geplante Exil-Museum in Berlin soll auf dem Gelände hinter der Ruine des Anhalter Bahnhofs errichtet werden, berichtet Nicola Kuhn im Tagesspiegel. Öffentliche Gelder soll es für das Museum aber nicht geben, lernen wir in einem zweiten Artikel zum Thema.

Besprochen werden Retrospektive der Bauhaus-Weberin Anni Albers im Düsseldorfer K20 (taz), Ausstellungen von und über den chinesischen Maler Liu Xiaodong in der Kunsthalle Düsseldorf und im NRW-Forum (NZZ), ein Band zum Lebenswerks des Schweizer Fotografen Jakob Tuggener (NZZ) und die Jubiläumsschau zum 150. Geburtstag des Musée Réattu im provenzalischen Arles (FAZ).
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Musik

Dirk Schneider plaudert in der taz mit dem Stooges- und Ramones-Entdecker Danny Fields über dessen Leben und Werk. Auch David Peels "Marijuana"-Album von 1968 hat er zuwege gebracht - weil er fand, dass es nicht nur Alben über den Alkohol-Abusus geben sollte. Peel war damals Straßenmusiker. "Ich erzählte meinem Boss von der Idee, und wir machten ein Album, live aufgenommen am Washington Square: 'Have a Marijuana'. Die Aufnahme hat 1.500 Dollar gekostet, für den Strom hatten wir die Straßenlaternen angezapft, aber die Aufnahme war absolut professionell. Das Album hat sich ein paar Hunderttausend Mal verkauft. Mir war wichtig, dass der Schriftzug 'Marijuana' deutlich zu lesen war, die Eltern der Teenager sollten tot umfallen, wenn sie es sehen."

"Wie kaum ein zweites Genre trägt Rap einen Doppelcharakter zwischen Pop und Kritik in sich", schreibt Konstantin Nowotny in der Welt in einem Essay über Rap, Gewaltdarstellung und beider Verhältnis sowohl zur gesellschaftlichen Realität als auch zu den Erklärungsversuchen in den Feuilletons. Und "je offensiver dieser Doppelcharakter zum Vorschein kommt, desto mehr bringt er sämtliche andere Formen der Kunst mitsamt ihrer Kritiker in Bedrängnis. Gut so."

Weitere Artikel: Helmut Mauró gratuliert in der SZ dem Klassiklabel harmonia mundi zum 60-jährigen Bestehen. Das Technolabel Killekill bietet Sound-Workshops an, berichtet Jens Uthoff in der taz. Norbert Koch-Klaucke (Berliner Zeitung) und Jens Rosbach (Dlf Kultur) erinnern an Bruce Springsteens Konzert in Ost-Berlin, als die FDJ den US-Sänger nach Weißensee eingeladen hat und einige Hunderttausend Zuschauer gekommen waren. Außerdem bringt die Berliner Zeitung dazu eine Online-Reportage von Anne-Kattrin Palmer. Hier ein kleiner Ausschnitt aus dem Konzert:



Besprochen werden Konzerte von Ed Sheeran (Berliner Zeitung) und Norah Jones (FAZ), ein spanischer Liederabend von Rolando Villazón (SZ), eine Ausstellung von Adriana Mateos Jazzporträts im Bayerischen Hof in München (SZ), eine von Arte online gestellte Doku über Prince (FAZ) und neue Popveröffentlichungen (ZeitOnline), darunter das Comeback-Album der britischen Experimental-Band Pram, die sich dazu ein schönes Retro-Video gebastelt hat:

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