Efeu - Die Kulturrundschau

Nur mit etwas zu viel Wobble

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19.06.2018. Die SZ erkundet in Frankfurt mit Lucian Freud und Frank Auerbach das im Fleisch verborgene Individuum. Der Guardian versucht Christos Grabpyramide im Hyde Park zu enträtseln. In der Jungen Welt nimmt sich Anke Stelling die Platzhirsche der Debattenkultur vor. In der FR spricht Linn Ullmann über 10.000 Tonnen Zement, die auf ihr lasten. Und die NZZ feiert Harry Kupfers Berliner "Macbeth"-Inszenierung mit Anna Netrebko und Plácido Domingo als Sternstunde der Oper.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.06.2018 finden Sie hier

Bühne

Oh Wollust des Thrones: Anna Netrebko in Harry Kupfers "Macbeth"-Inszenierung. Foto: Bernd Uhlig / Berliner Staatsoper


Als Opernsternstunde feiert Eleonore Büning in der NZZ Harry Kupfers Inszenierung von Verdis "Macbeth" an der Berliner Staatsoper. Toll, wie der 83-Jährige im Realismus der alten Schule dem Berliner Premierenpublikum Shakespeares alte Erkenntnis um die Ohren haut, dass Macht geil macht. Atemberaubend auch Anna Netrebko und Plácido Domingo in den Titelpartien: "Sie singt, volltönend, giftgeifernd, guttural: 'O voluttà del soglio!' - 'Oh Wollust des Thrones! Oh Zepter, endlich gehörst du mir!' Ihr Ehemann auf der Bühne, der eigentliche Zepterbesitzer, ist zwar sichtlich nicht mehr der Jüngste, offiziell 77, inoffiziell indes wohl fast so alt wie der Regisseur. Doch den stählernen Kern und die Kraft seiner Stimme hat sich Plácido Domingo bewahren können. Technik und Stütze sind noch immer vorbildlich, und sogar einen gewissen erotischen Schmelz, den er einst als Tenor verströmte, kann man in dieser seiner neuen Baritonpartie wahrnehmen. Das sorgt für erstaunliche Glanzlichter: Selten gab es, in Erscheinung und Ausdruck, einen so glaubhaft starken, zugleich an sich zweifelnden, zynisch zerrissenen Macbeth zu hören, nur mit etwas zu viel Wobble, auf Dauer." Weitere Besprechungen in Tagesspiegel, FAZ und SZ.

Besprochen werden Bernhard Aichners Thriller "Die Totenfrau"  an den Innsbrucker Kammerspielen (Standard), die Performance "Chekhov - Fast & Furious" des französisch-österreichischen Kollektivs Superamas (Standard), Thomas Jonigks Inszenierung von Ferenc Molnárs "Liliom" in Wiesbaden (FR), András Dömötörs Inszenierung von Gorkis Familientragödie "Die Letzten" am Berliner Maxim Gorki Theater (FAZ) und David Aldens Inszenierung von Richard Wagners Oper "Lohengrin" in der Londoner Covent-Garden-Oper (FAZ).

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Literatur

Für die Berliner Zeitung hat Arno Widmann Linn Ullmann getroffen, die sich in ihrem neuen Roman "Die Unruhigen" mit ihrer Familiengeschichte befasst. Dass ihre Eltern Ingmar Bergman und Liv Ullmann sind, war für die norwegische Schriftstellerin mitunter eine Herausforderung: "Die Namen! Meine berühmten Eltern. 10.000 Tonnen Zement lasteten da auf mir. Eine Zeile, in der diese Namen vorkommen, ist nicht mehr frei. Pseudonyme? Wie lächerlich wäre das gewesen! ... Beinahe hätte es wegen der Namen ja das Buch nicht gegeben. Da versteht es sich fast von selbst, dass die Frage des Namengebens, des Namenänderns, der Bedeutung von Namen eine Rolle spielen musste. All die Namen, die mein Vater meiner Mutter in seinen Filmen gab, und am Ende, als wir uns schriftlich verabreden und wir jeweils den Namen des anderen darunter schreiben. Dazwischen immer wieder Namen, Namen, Namen."

Die Junge Welt bringt Anke Stellings Vortrag, den sie bei der Tagung "Literatur in der neuen Klassengesellschaft" in Dortmund hielt. Darin nimmt die Schriftstellerin die Torwächter des Elfenbeinturms ins Visier: "Der Nabelschauvorwurf ist ein Machtinstrument, dazu da, Subjektivität zu verhindern, Stimmen zu unterdrücken und Hegemonie zu behalten. Er trifft diejenigen, deren Los es zu sein hat, zu dienen und sich selbst zurückzunehmen. ... Die Könige der Debattenkultur behaupten, es mache Spaß, sich so richtig zu streiten. Und dass wir das verlernt hätten. Und dass man sich doch bitte nicht so anstellen soll. Ich bezweifle zutiefst, dass es das gibt: Leute, die sich gerne streiten. Ich kenne nur Leute, die gerne recht haben - und sich deshalb notgedrungen streiten. Je sicherer und aufgehobener man sich fühlt, um so leichter. Je abhängiger, abgehängter und verunsicherter man ist, umso schwerer fällt's."

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel denkt die dänische (oder auch nicht-dänische) Schriftstellerin Janne Teller über nationale beziehungsweise europäische kulturelle Identität nach. Jan Jekal (taz) und Vincent Sauer (SZ) berichten von der Berliner Literaturkonferenz "Ängst is now a Weltanschauung", die sich mit der "Erosion der Demokratie" befasste.

Besprochen werden unter anderem Elfriede Jelineks unverfilmt gebliebenes Drehbuch "Eine Partie Dame" aus den frühen 80ern (Standard), Dogan Akhanlis "Verhaftung in Granada oder: Treibt die Türkei in die Diktatur?" (NZZ), Stéphanie Kalfons "Die Regenschirme des Erik Satie" (Zeit), Catalin Mihuleacs "Oxenberg & Bernstein" (NZZ), Gipis Comic "Die Welt der Söhne" (SZ) und Hannah Arendts Briefwechsel mit diversen Freundinnen (FAZ).
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Kunst

Christo: Mastaba, 1958-2018. Foto: Serpentine Gallery

Im Serpentine-See des Londoner Hyde Parks hat Christo gestern eine neue Skultptur eröffnet. Die Mastaba. Auf dreißig mal vierzig Meter und zwanzig Meter Höhe hat der bulgarische Verpackungskünstler 7506 Ölfässer in Form eines altägyptischen Grabbaus geschichtet. Im Guardian senkt Adrian Searle den Daumen: Als Intervention im öffentlichen Raum habe die Mastaba weder Zauber noch politische Dimension, weder Leichtigkeit noch Schwere. Und schlimmer: "Keine Feinheit, keine Größe." In der SZ attestiert Alexander Menden dem Werk etwas ratlos "Massenappeal" und "Selfietauglichkeit".

Lucian Freud: Girl Sitting, 1987.  Bild: Städel Museum / The Lucian Freud Archive / Bridgeman Images

Das Frankfurter Städel-Museum übernimmt von der Londoner Tate Modern die große Schau mit Porträtbildern von Lucian Freud und Frank Auerbach. In der SZ ist Gottfried Knapp überwältigt von diesen beiden Menschen-Bildnern: "Sie porträtierten ausschließlich Menschen aus dem eigenen Umkreis und ließen, um an das von Kleidern verhüllte und im Fleisch verborgene Individuum möglichst nahe heranzukommen, die ins Atelier geladenen Nachbarn und Freunde so lang in Ruhepositionen verharren, bis aller Darstellungsehrgeiz verflogen war, alle gesellschaftlichen Regeln verblasst waren und die Körper sich auf kreatürliche Weise gehen ließen. Ein idealer Punkt war erreicht, wenn die Gesichter sich wie im Schlaf entspannten und das Fleisch dorthin sank, wo es von Natur aus hingehört."

Weiteres: In der NZZ trauert die amerikanische Autorin Sarah Pines um die Kunstwelt, der Genie und Erhabenheit abhanden gekommen sind: "Erfolg ist alles, genauer: Geld ist alles. Der materielle Erfolg eines Werks - er ist Antriebskraft, höchste Autorität und damit die letzte Aura einer entzauberten Welt." In der FAZ berichtet Andreas Rossmann, dass der alte Atheist Gerhard Richter der Stadt Münster ein Kunstwerk stiftet: "Zwei Graue Doppelspiegel für ein Pendel" für die 2017 profanierte Dominikanerkirche.

Besprochen werden die Ausstellung "Der Regung Regel" der Künstlerin Ulla von Brandenburg auf der Mathildenhöhe Darmstadt (taz) und die Schau zur maritimen Kulturgeschichte "Europa und das Meer" im Deutschen Historischen Museum in Berlin (Tagesspiegel).
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Film

Besprochen werden Chloé Zhaos halbdokumentarischer Film "The Rider" (taz) und Sabine Michels "Montags in Dresden" (Berliner Zeitung).
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Stichwörter: Zhao, Chloe, Chloe, Michel, Sabine

Musik

Ziemlich umgehauen hat Jonathan Fischer "Deran", das neue Album von Bombino, der andernorts schon zum besten Gitarristen der Welt hochgejazzt wurde. "Deran" ist an den hiesigen Vorstellungen von Rock'n'Roll aufregend vorbei gespielt, schreibt Fischer in der Afropopkolumne der SZ: "Vertrackte Schaukel-Rhythmen, pentatonische Riffs, ein lässiges Spiel mit Tuareg-Traditionen und einem Groove gewordenen Insch'allah. Der Funk mag jenseits des schwarzen Atlantiks gerne als Springteufel daherkommen, hier aber schleicht, schlurft und federt er. Ein hypnotisches Kreiseln, geschoben von verhaltenen, staubtrockenen Gitarrenriffs." Da hören wir gerne rein:



Weitere Artikel: In der FR bringt Melanie Reinsch Informationen zum neuen Streamingdienst von Youtube, mit dem Google Spotify Konkurrenz machen will. Jan Brachmann schreibt in der FAZ zum Tod des Dirigenten Gennadi Roschdestwenski. NPR meldet, dass der Rapper XXXTentacion auf offener Straße erschossen wurde. Außerdem führt Pitchfork anhand von 50 Songs durch die Geschichte der queeren Popgeschichte.

Besprochen werden das nach einigen Jahren Ehekrise erlösende Versöhnungsalbum von Beyoncé und Jay-Z (Pitchfork, Tagesspiegel, ZeitOnline), ein Konzert von Animal Collective (Tagesspiegel), eine große Aufführung von Beethovens Neunter in Frankfurt (FR) und die Arte-Sendereihe "Bob Dylans Amerika" mit Wolfgang Niedecken (FR, FAZ).
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