Efeu - Die Kulturrundschau

'Zisch' macht der Nebel

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.06.2018. Die Welt setzt sich den ikonischen Verführungen Mika Rottenbergs aus. Zeit Online  weint mit dem Vocoder-Android des Musikers Oneohtrix Point Never. Die nachtkritik wundert sich über die Duckmäuser*innen an deutschen Stadttheatern. Die NZZ liest Lyrik im Internet. Spon sieht eine Netflix-Dokureihe über die islamistischen Terroranschläge 2015 in Frankreich.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.06.2018 finden Sie hier

Kunst


Mika Rottenberg, Ausstellungsansicht mit Herdplatten. Foto: Markus Tretter. © Mika Rottenberg, Kunsthaus Bregenz

Hans-Joachim Müller besucht für die Welt eine Ausstellung der Videoarbeiten von Mika Rottenberg im Kunsthaus Bregenz, betrachtet Blondinen mit Ziegen, ein auf den Tisch klatschendes T-Bone-Steak und Perlenzüchterinnen bei der Arbeit. Man kann das Kapitalismuskritik nennen, überlegt er, aber das trifft es nur halb: "Die Intelligenz ihres Werks besteht im Triumph des Bildes über den Begriff, in den ikonischen Verführungen, die sie aus dem kruden Lebensstoff gewinnt" - wie im zweiten Stock, wo ein Kreis aus Herdplatten zu 240 Grad erglüht. "In den Stilpfannen kalkig wabernde Wasserkrusten. Und wenn es von oben in sie hineintropft, dann zischt ein Nebel auf wie bei einem gutmütigen Vulkanausbruch. Lagerfeuer? Alchemistenlabor? Werden gleich Hexendarstellerinnen auf Besen in den abgedunkelten Raum reiten? 'Zisch' macht der Nebel, steigt nach oben zu den Deckenfenstern, in denen eine Videoprojektion knallbunte Glasscherben durcheinanderrührt."

Judith Poppe stellt in der NZZ Rivka Vardi vor, die in Israel eine Kunstakademie für orthodoxe Frauen aufgebaut hat: "Allgemein bestehen in ultraorthodoxen Kreisen Befürchtungen, die Frauen würden unpassenden Inhalten ausgesetzt. Viele, die überlegen, an Oman-Bezalel zu studieren, müssen zuerst ihren Rabbi um Erlaubnis bitten. Tatsächlich ist der Lehrplan der gleiche wie an der regulären Bezalel. Doch das Unterrichtsmaterial wird vor dem Unterricht zensiert - 'gefiltert', wie es an der Schule heißt."

Weiteres: Im Interview mit dem Standard spricht die Künstlerin Florentina Pakosta, der gerade eine Retrospektive in der Albertina gewidmet ist, über männliche Machtgesten und gewalttätige Frauen. Cathrin Lorch darf sich für die SZ in der Münchner Neuen Sammlung Wandteppiche von Annie Albers angucken, die so empfindlich sind, dass man sie praktisch ununterbrochen im Dunkeln lagern muss und nicht zeigen kann. Besprochen wird die Ausstellung "Du bist Faust" in der Hypokunsthalle in München (Presse).
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Bühne

In der nachtkritik staunt Esther Slevogt über "Hysterisierung der Stadttheater-Diskussion" in Köln und anderswo: "Einerseits wird immer gezetert, das alte Intendantenpatriarchentum gehöre abgeschafft. Aber wenn der Intendant in Konfliktfällen nicht gleich als autoritärer pater familias den Rohrstock schwingt, ist es auch wieder nicht richtig. Und wieso können sich die Leute eigentlich nicht selbst verteidigen? Gibt's an unseren Theatern denn bloß Duckmäuser*innen, die schon der Wutanfall einer Intendantengattin in die Knie zwingt?"

Besprochen werden das Tanzstück "Monstres - On ne danse pas pour rien" des kongolesischen Choreografen DeLaVallet Bidiefono bei den Tanztagen Potsdam (taz) und die letzten Inszenierungen unter dem scheidenden Schauspielintendanten Armin Petras in Stuttgart (SZ).
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Stichwörter: Petras, Armin, Stadttheater

Literatur

Still und heimlich hat sich Lyrik zu einem Massenphänomen entwickelt, schreibt Gerhard Lauer in der NZZ. Allerdings nicht auf dem Buchmarkt, sondern im Internet. Beispiel Rupi Kaur, die ihre Gedichte erst auf Tumblr und mittlerweile auf Instagram einer Million Followern präsentiert und diese Reichweite in den Buchhandlungen tatsächlich auch monetarisieren kann. Die Dichterin verarbeitet rassistische Erfahrungen in ihren Werken, "am Ende geht es um Heilung. Das ist das Zauberwort, das Kaurs Gedichte immer wieder aufrufen, vor allem Heilung von den Verletzungen in Beziehungen. ... Sie erfüllen eine elementare Funktion der Literatur. Sie ermutigen, und sehr viel mehr sollen sie auch nicht tun. Spontanität geht mit der Authentizität des Sprechens über sich und den eigenen Körper zusammen, über Erfahrungen, die auch die Leserinnen Kaurs gemacht haben."

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel hat Klaus Hübner eine sehr gute Besprechung von Olga Martynovas Essayband "Über die Dummheit der Stunde" veröffentlicht. Dennoch würden ihr in dem Artikel "politische Äußerungen zugeschrieben, die ich in keiner Weise teilen kann", beschwert sich die Schriftstellerin in einem kurzen Statement, das Fixpoetry veröffentlicht hat. Die FR bringt eine epische Reisereportage des Schriftstellers Artur Becker, der in einer "Karawane der Poesie" durch Chile gezogen ist. Ulrike Baureithel hat für den Tagesspiegel beim Berliner Poesiefestival einen chinesischen Abend besucht. Im Logbuch Suhrkamp erinnert sich Schriftsteller Heinz Helle unter anderem an den ersten in der Pubertät gesehenen Porno, die Fixierungen, die daraus entstanden, und die Lust, solche Festschreibungen hinter sich zu lassen. Denis Scheck ergänzt seinen Welt-Literaturkanon um Lu Xuns "Tagebuch eines Verrückten".

Besprochen werden unter anderem Miriam Mandelkows Übersetzung von Jack Trevor Storys Krimi "Immer Ärger mit Harry" (NZZ), Jaume Cabrés "Eine bessere Zeit" (SZ), Mikołaj Łozińskis "Buch. Ein Familienroman" (Jungle World) und Maxim Kantors "Rotes Licht" (FR).
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Film



Mit der dreiteiligen Doku-Reihe "Angriff auf Paris" der Brüder Jules und Gédéon Naudet erinnert Netflix an die islamistischen Anschläge auf die französische Hauptstadt im Jahr 2015. Für die Naudets insofern bekanntes Terrain, da sie bereits die Anschläge auf das World Trade Center, die sie aus nächster Nähe verfolgt haben, filmisch aufbereitet haben. Dass "Angriff auf Paris" sehr mitreißend geraten ist, hält Oliver Kaever auf SpOn für ein Problem: "Wie schon bei '11. September' nutzen die Naudets einen immersiven Erzählstil, der sich aus dramaturgischen Konventionen des klassischen Hollywood-Kinos speist. ... "Angriff auf Paris" gibt den Überlebenden des Anschlags den Raum, über ihre Erfahrungen und Gefühle zu sprechen. Gleichzeitig funktionalisieren die Regisseure ihre traumatischen Erlebnisse und machen daraus massenkompatible Unterhaltungsware. Eine zweischneidige Angelegenheit." Für die FAZ berichtet Jürg Altwegg vom Pressetermin in Paris.

Weitere Artikel: Katrin Doerksen empfiehlt im Tagesspiegel die im Berliner Kino Arsenal gezeigte Reihe mit Filmen von Anna May Wong. In der Berliner Zeitung spricht Christian Bale über Waffengewalt in den USA und seinen neuen, im Tagesspiegel besprochenen Film, den Western "Feinde - Hostiles". Simon Reynolds meldet in seinem Blog, dass der auf die Übertragung von DJ-Sets spezialisierte Online-Anbieter Boiler Room mit 4:3 jetzt ein eigenes Segment für experimentelle Animations- und Avantgarde-Filme biette. Hier eine von Reynolds kuratierte Playlist, auf der sich unter anderem Jeff Keens "Cineblatz" von 1962 findet:



Besprochen werden Laura Bispuris "Meine Tochter" (Tagesspiegel, FAZ), das Familiendrama "Tully" mit Charlize Theron (Standard), Mia Spenglers "Back for Good" (Tagesspiegel, Berliner Zeitung) und die zweite Staffel der Serie "Westworld" (NZZ).
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Musik

Mit seinem neuen Album "Age of" hat sich Daniel Lopatin alias Oneohtrix Point Never vom Solipsismus seines bisherigen Projektkonzepts befreit und es für andere Künstler geöffnet, lernt tazler Steffen Greiner beim Berliner Pressetermin von dem New Yorker Elektromusiker. Früher baute Lopatin Soundschrott-Recycling-Collagen und schuf damit große Audio-Kunst, das neue Album ist "eingehegter und weniger mesmerisierend, aber auch viel strahlender in seiner Lust auf Pop, die auch dann noch durch Wurzelgeflechte aller Avantgarden hindurchscheint, wenn eine von Lopatins Hooklines ursprünglich für den R&B-Sänger Usher komponiert wurde." Ziemlich grandios findet Pinky Rose in der ZeitOnline-Popkolumne dieses Album, das sie eine "dystopische Genesis" erleben lässt: "Fließt da die Sehnsucht oder der Angstschweiß über, wenn in 'Babylon' der Vocoder-Android weint und das Cembalo in 'Age Of' von Aliens, Wiedergängern oder rebellierenden Dronen malträtiert wird? ... Lopatin beherrscht dieses Vibrieren der Schönheit inmitten des Grauens einfach meisterlich!" Wir vibrieren in Schönheit mit:



Weitere Artikel: Marion Löhndorf schreibt in der NZZ über "Game of Thrones"-Komponist Ramin Djawadi. Besprochen werden Alice Harnoncourts Buch "Wir sind eine Entdeckergemeinschaft" über Nikolaus Harnoncourt (Standard), Father John Mistys "God's Favorite Customer" (Pitchfork), Michael Wollnys Geburtstagskonzert in der Berliner Philharmonie (Tagesspiegel), ein Konzert der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen mit Igor Levit (Tagesspiegel), ein Konzert von Thom Yorke (NZZ), Yuja Wangs Klavierkonzert in Wien (Standard) und das neue Album der Arctic Monkeys, das "zeitgleich zum letzten Seufzer von Indierock kommt" (taz).

Außerdem melden die Zeitungen und Agenturen den Tod von Seeed-Frontman Demba Nabé. Das Video zum einstigen Gassenhauer "Dickes B" zeigt nochmal eindrücklich, wie enorm sich das um 2000 mitunter noch sehr graue Berlin seitdem verändert hat:

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