Efeu - Die Kulturrundschau

Die Perücken gehen ins Krustige

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07.05.2018. Frank Castorfs siebenstündiger "Faust" reißt zum Beginn des Berliner Theatertreffen noch einmal die Gräben auf: Die SZ jubelt über die Kraft und Freiheit der alten Volksbühne, der Tagesspiegel erkennt auf Hysterie und Häme. Museen sind nicht mehr Orte der Kontemplation, sondern des Stadtmarketings, seufzt die NZZ. Die Jungle World lernt von der funkig-eckigen Musik der Band Les Truc, dass Einklang mit sich selbst nicht möglich ist: Der Mensch ist aus Dissonanzen gebaut.  Und die FAZ erinnert daran, dass 1968 auch das Jahr war, in dem Yves Saint-Laurant Coco Chanel ablöste.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.05.2018 finden Sie hier

Bühne


Castorfs Wahnsinnsensemle beim "Faust". Foto: Thomas Aurin


Am Wochenende wurde das Berliner Theatertreffen mit Frank Castorfs siebenstündigem "Faust" eröffnet. In der SZ ist Christine Dössel ganz erschlagen von dieser 20 Tonnen schweren Inszenierung, doch die 500.000 Euro, die die Wiederaufnahme gekostet hat, waren es wert, meint sie: "Ein Alters- und Meisterwerk Castorfs, in dem noch einmal zusammenkommt, was seine Volksbühnen-Ära prägte - angefangen bei der politischen Lesart der Stoffe (hier: der französische Algerienkrieg als historische Unterlage für Faust als weißen, übergriffigen Sabbergreis und Kolonisator), bis hin zu diesen expressiven Wahnsinnsschauspielern, denen man mal wieder fasziniert erliegt. Und in die man sich reihum verliebt: die radikalen Volksbühnen-Partisanen Marc Hosemann, Martin Wuttke, Alexander Scheer und Sophie Rois, die unvergleichliche Valery Tscheplanowa, die Granate Thelma Buabeng, die Circe Lilith Stangenberg, der rohe Frank Büttner - all diese Ausnahmekünstler, die eine so irre Kraft und Freiheit ausstrahlen; gerade auch die Frauen, deren Nacktheit und Sexiness erst mal ein Schock ist. Die aber so autark und selbstbewusst sind, dass man sich mit seinen politisch korrekten Bedenken ganz bieder vorkommt. Es ist das Beste der alten Volksbühne, das an diesem Abend noch einmal aufleuchtete und Wunderfunken sprühte. Aber es gibt kein Zurück mehr."

Tagesspiegel-Kritiker Rüdiger Schaper bekundet einmal mehr sein Unbehagen an Castorf: "Wer schreit, hat Recht. So ist das bei Castorf; Lautstärke als exzessiv gebrauchtes Stilmittel. Der Grundton nicht nur dieser Inszenierung liegt zwischen Hysterie und Häme." In der Nachtkritik, die die Stücke des Theatertreffens von außen betrachten lässt, erkennt die Politikwissenschaftlerin Paula Irmschler im "Faust" das "Star Wars der Theaterleute", und ebenda bespricht Juso-Chef Kevin Kühnert reichlich abgeklärt die Eribon-Inszenierung "Rückkehr nach Reims" der Schaubühne von Thomas Ostermeier und mit Nina Hoss.


Bloggerin An zwischen Laufsteg und Sweatshop. Bild Tanja Dorendorf / T+T Fotografie.

Begeistert kommt NZZ-Kritikerin Katja Baigger aus dem Stück "Sweatshop - Deadly Fashion", mit dem Sebastian Nübling und Güzin Kar den Untergang des Homo Zalando auf die Zürcher Pfauenbühne brachten: "Der 'Mode-Ticker' mit Trends, Sale und Super-Sale sowie angeblicher Nachhaltigkeit taktet den Alltag der westlichen Welt. Er spiegelt sich in dem täglichen Instagram-Wahnsinn der Teenager, dem Shopping per Klick, den Selfies, dem Kampf von Influencern um Follower. Hinter dem schillernden Catwalk-Gebaren der westlichen Welt aber sitzen Fabrikarbeiterinnen in Sweatshops, die in den Schwellenländern unter widrigen Umständen Kleider für diese narzisstische Selbstinszenierung nähen."

Besprochen werden die Hommage an Komikerin Liesl Karlstadt am Münchner Residenztheater (SZ, Nachtkritik), Volker Löschs Inszenierung von Hans Falladas "Kleiner Mann, was nun?" am Nationaltheater Mannheim (Nachtkritik) und Franz-Xaver Mayrs Dürrenmatt-Inszenierung "Romulus der Große" am Theater Basel (FAZ).

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Design

Die FAZ blickt in einer Doppelseite auf die Kultur des Jahres 1968 zurück. Ausführlich widmet sich Annabelle Hirsch dabei Yves Saint Laurents in diesem Jahr präsentiertem, transparentem Chiffon-Kleid (mehr zu dessen Entwicklung mit vielen Fotos hier). Entstanden ist das Kleid auch als Gegenentwurf zu Coco Chanel, erfahren wir von Hirsch: "Er verehre Coco Chanel wirklich sehr, so Saint Laurent, allerdings liebe er auch seine Zeit. Die Nachtclubs, die neuen Frauen, die Yéyés, all diese Dinge der Gegenwart, die mit Chanel und ihren Kostümchen nicht viel zu tun haben. Knapp fünf Monate später, im Juli 68, führte sein damaliges Lieblingsmodell, die schöne Danielle Luquet de Saint Germain (...) ein Kleid vor, das all dies, die Verführung, die Nachtclubs, das Nicht-Chanel-Sein und dafür absolut Gegenwart-Sein, vereinte." (Bild: Musée Yves Saint Laurent)
Archiv: Design

Kunst

Es ist lange her, dass Museen Orte der Kontemplation waren, des Sammelns, Bewahrens und Erforschens, stellt Sabine B. Vogel in der NZZ fest, mehr und mehr geraten sie in die Logik des Stadtmarketings oder privater Ökonomien: "Museen waren da zur Bildung des Bürgertums, dort wurde bestimmt, was wertvoll ist, dies ganz ohne ökonomische Verweise. Heute stehen Museen untereinander in Konkurrenz. Sie sind zu Freizeittempeln geworden, die Einnahmen generieren müssen. Das führt dazu, dass sich die Häuser über lange Schlangen vor den Kassen, Medienrummel, Promi-Gäste und eine Handvoll immergleicher Künstlernamen wie Warhol, Basquiat, Monet, Picasso definieren. Darin liegt die Gefahr einer intellektuellen Verflachung, was sich gerade in dem erschreckend sinnfreien Werbeslogan des unter neuer Direktion stehenden Wiener Belvedere andeutet: 'Da passiert was" - drei leere Worte, die auf Plakaten überall in der Stadt werben."

Weiteres: Anne Katrin Feßler meldet im Standard, dass die Erben von Joseph Beuys den Künstlernachlass an die Salzburger Galerie Ropac gegeben haben.

Besprochen werden die Ausstellung "African Mobilities" in der Pinakothek der Moderne in München (SZ), die Schau "Le Pietre di Venezia" mit den Venedig-Bildern des Kunstkritikers John Ruskin im Palazzo Ducale (SZ), die Ausstellung "Covered in Time and History" der kubanischen Videokünstlerin Ana Mendieta im Gropius-Bau (Tagesspiegel) und die Werkschau des Fotografen Axel Hütte in der Kunsthalle Krems (Standard).

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Film

Daniel Brühl "ist eine Art Sondergesandter deutschen Fördergelds", schreibt Matthias Dell im Freitag anlässlich von José Padilhas Thriller "7 Tage in Entebbe", der die Ereignisse der Flugzeugentführung im Jahr 1976 durch die Revolutionären Zellen mit einer Tanzperformance in Israel querschneidet (unsere Kritik hier). Brühl spielt darin den vom linken Buchhändler zum Terroristen gewandelten Wilfried Böse. Der "Film ist geschichtspolitisch auf Versöhnung aus, weshalb Brühl als guter Deutscher Wilfried Böse kritisch und zweifelnd zeigen kann." Schade findet es Dell jedoch, wie "langweilig Padilha den Stoff inszeniert. Die historischen Kostümierungen und Perücken gehen ins Krustige und die Tage quälenden Wartens auf eine israelische Entscheidung (in Wahrheit: auf den Einsatz der Spezialtruppe) werden als quälendes Warten direkt ans Publikum weitergegeben."

Weitere Artikel: Silke Janovsky und Carolin Ströbele sprechen mit Schauspieler Jörg Hartmann anlässlich der neuen "Weissensee"-Staffel unter anderem über die DDR. Claudius Seidl verneigt sich im doppelseitigen FAZ-Rückblick auf die Kultur des Jahres 1968 vor Blake Edwards anarchischer Komödie "The Party" mit Peter Sellers.

Besprochen werden Léonor Serrailles "Bonjour Paris" (taz) und der Dokumentarfilm "Von Siegern und Verlierern" über die "Eis am Stiel"-Filme (ZeitOnline).
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Literatur

Katrin Hillgruber berichtet in der FAZ vom Lyrikpreis Meran, wo die Schriftstellerin Kerstin Preiwuß für ihren Zyklus "Tödin" ausgezeichnet wurde: Darin "entwirft sie ein mythologisch unterfüttertes weibliches Pendant zum Sensenmann. Was sich als harmloser Reim einschleicht, entwickelt sich leise, aber ungeheuer kraftvoll zur vegetabilen Einübung ins Sterben, die sich in erstickendem Schilfgrün tarnt."

Weitere Artikel: Lissy Kaufman erinnert im Standard an den Schriftsteller Shai Agnon, den einzigen israelischen Literaturnobelpreisträher. Die Literatur entdeckt die Jagd, schreibt Gunda Bartels im Tagesspiegel. Frank Schätzing hat es mit seinem bei der Kritik verrissenen, in den Buchhandlungen prominent positionierten Thriller "Die Tyrannei des Schmetterlings" mal wieder erwartbar an die Spitze der Bestseller geschafft, glossiert Gerrit Bartels im Tagesspiegel. Im doppelseitigen FAZ-Rückblick auf die Kultur des Jahres 1968 erinnert sich Dietmar Dath an John Brunners "Stand on Zanzibar". Martin Krumbholz (NZZ) und Friedmar Apel (FAZ) schreiben zum Tod des Schriftstellers Ludwig Harig. Alex Rühle schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Schriftsteller Günter Herburger, den "Marathonmann der deutschen Literatur".

Besprochen werden Friederike Mayröckers "Pathos und Schwalbe" (Jungle World), Amos Oz' "Liebe Fanatiker" (Standard), Hans Magnus Enzensbergers "Überlebenskünstler. 99 literarische Vignetten aus dem 20 Jahrhundert" (FR), Josef Winklers "Lass dich heimgeigen, Vater, oder Den Tod ins Herz mir schreibe" (Tagesspiegel), Minetaro Mochizukis Manga-Adaption des Romans "Chiisakobee" (Tagesspiegel), Éric Vuillards "Die Tagesordnung" (Zeit) und neue Krimis, darunter Fuminori Nakamuras "Die Maske" (FAZ).

Eberhard Geisler schreibt in der online nachgereichten Frankfurter Anthologie über Helga M. Novaks "der kommt nicht an":

"Autobahnen schneiden den Weg ab
sie tauchen unter befriedete Flüsse
..."
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Musik

Mit ihrem neuen Album "Jardin du Boeuf" setzt die Band Les Trucs Mary Shelleys "Frankenstein" fort und wandelt zudem auf den Pfaden "der Avantgarde des 19. und 20. Jahrhunderts", erfahren wir in der Jungle World von Kristof Schreuf: "Les Trucs komponieren funkige Eckigkeit, sie stehen kühl und glamourös neben sich, und wissen, dass der Mensch aus Dissonanzen gebaut ist: 'Es gibt keinen Einklang, mit dem, was du bist', besingt Simon dieses akustische Selbstverständnis. Das hört sich nicht wie die Sehnsucht nach Schönklang an, sondern wie die eindrucksvolle Forderung, sich selbst fremd zu bleiben." Daraus ein aktuelles Video:



Jan Brachmann hat sich für die FAZ in Dresden die von Cristian Măcelaru dirigierte, europäische Premiere von Krzysztof Pendereckis sechster Sinfonie angehört, die einen chinesischen Liederzyklus darstellt. Dieser kommt Brachmann so vor, als schließe der Komponist "direkt an die Wiener Welt vor hundert Jahren an" und zwar insbesondere "an die dekorfreudige Nervenmusik, die sinnlich flirrende Moderne eines Franz Schreker, Alexander Zemlinsky oder Erich Wolfgang Korngold. ... Unausgegorenes, Zielloses wird man hier nicht finden. Das musikalische Bild vom perlenden Tau auf dem Gras - drei Solocelli mit Klarinette und Harfe - ist lakonisch, aber sinnlich stark. Die gekräuselte Wasseroberfläche des Teiches im "Nächtlichen Bild", mit polyrhythmischen Überlagerungen der Streicher, beschwört noch einmal das Raffinement von Richard Strauss."

Im Standard porträtiert Karl Fluch den Wiener Rap-Durchstarter Yung Hurn, dessen verpeilt-schlampige Arbeitsweise für einen "von Historie befreiten Zugang zum Hip-Hop" steht: "Diese Do-it-yourself- und Nix-scheißen-Haltung ist Punk in Reinkultur. Hip-Hop ist nur das zeitgenössische Gefäß, in das sich diese Haltung entlädt, Youtube ihr Vertriebskanal in die Welt, das Smartphone die Anbindung der Endverbraucher.In dieser Welt ist Yung Hurn heute ein millionenfach abgefragter Regent, seine Kunst der heiße Kot." In der FAS nähert sich Florentin Schumacher dem Phänomen:

Weitere Artikel: In The Quietus plaudert Irmin Schmidt über Can. Besprochen werden Drangsals neues Album "Zores" (FR), Marterias neues, unter dem Pseudonym Marsimoto veröffentlichtes Album "Verde" (taz), ein Sibelius- und Schostakowitsch-Abend der Violinistin Lisa Batiashvili mit den Berliner Philharmonikern (Tagesspiegel), ein jiddischer Liederabend mit Barrie Kosky (Tagesspiegel), ein Liederabend mit Ute Lemper (FR), Thomas Cremers neues Album (FR) und "Beyondless" von Iceage (Pitchfork).
Archiv: Musik