Efeu - Die Kulturrundschau

Es scheppert, witzelt und knallt an allen Ecken

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21.04.2018. In der FAZ lässt Helmut Krausser weder am deutschen Literaturkanon noch an der Gegenwartsliteratur ein gutes Haar: Belanglos und gaga. In der Welt geißelt Rainer Moritz die Literaturverlage, die das Lesen als Vanille-Eis für die Seele anpreisen. Die SZ schlendert geschockt über die Mailänder Möbelmesse: überall Farben, Konfetti, Lebensfreude! Die Musikkritiker streiten über Antisemitismus und Homophobie im Rap und im Dancehall.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.04.2018 finden Sie hier

Design


Blick in den Salone del Mobile

Max Scharnigg schlendert leicht geschockt für die SZ über die Mailänder Möbelmesse, lässt sich aber schnell von der allgemeinen Fröhlichkeit anstecken: "es scheppert, witzelt und knallt an allen Ecken. Schuld sind nicht nur die Farben, in die heute offenbar wirklich jedes neue Möbelstück getunkt wird, bevor es ins Schaufenster darf. Sie kommen immer noch aus der Bonbon-Pastell-Palette der letzten Jahre, aber die 'New'-Schilder stehen auch vor sehr viel Umbra, Senf, Rost und anderen nahrhaften Erdtönen. Ein Gang durch die notorischen Hallen 16/20 auf dem vollkommen überlaufenen Messegelände in Rho wirkt jedenfalls wie eine Schocktherapie gegen das zunächst perlweiße, später dann umfassend grau-graue Stilempfinden der Nullerjahre, dessen Ausläufer es jetzt gerade mal in die Privaträume schaffen. Vorbei, das Grauen! Genau wie der schwermütige Neo-Salon-Hype aus dem Jahr 2015, mit Samt, Messing und Kupfer. Jetzt sind stattdessen Konfetti, Lebensfreude, bunte Nudeln und Kordeln angesagt."
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Literatur

Schriftsteller Helmut Krausser hat es nochmal redlich mit Kleist versucht und ist darüber schier verzweifelt, gesteht er in der FAZ: "Ich glaube, ich habe in meinem gesamten Leben noch nie einen so durchgeknallten Schund gelesen", entfährt es ihm nach der Lektüre des "Käthchens von Heilbronn". Er hat nicht den blassesten Dunst, "warum man einem jungen Leser von heute empfehlen sollte, sich mit Kleist zu befassen." Seine Diagnose: Der deutsche Literaturkanon ist morsch geworden: Er ist "überholt, weltfremd, zufallsgeboren und ästhetisch höchst problematisch an. Belanglose Bücher bekommen bedeutende Preise, großartige Bücher werden ignoriert oder als trivial verfemt ... Die Lyrikszene ist weitestgehend gaga, praktisch jeder kann Büchnerpreisträger oder Literaturpapst werden."

Reichlich genervt zeigt sich Rainer Moritz, Leiter des Literaturhauses Hamburg, in der Welt von der grassierenden Wellness- und Wattebausch-Rhetorik, mit der Literaturverlage das Lesen verzweifelt als Vanille-Eis für die Seele anpreisen: "Wo immer das Lesen als glücksstiftende Maßnahme gefeiert wird, bleiben störende Faktoren außen vor. Kein Wort davon, dass es sehr viele anödende, peinigende, das Unglück mehrende Bücher gibt, und keines davon, dass es in der Literatur wie im Leben zuhauf Wesen gibt, die die Literatur ins Verderben gestürzt hat."

Nachdem die Schwedische Akademie in einer Pressemitteilung die schweren Vorwürfe gegen sie implizit bestätigt hat, ist der Ruf des Literaturnobelpreises erstmal dahin, meint in der SZ Thomas Steinfeld, der sich allerdings sehr wundert, dass die Akademie dafür in erster Linie die Berichterstattung verantwortlich macht. "Es gibt einen gemeinsamen Grund für die Unregelmäßigkeiten in und in der Umgebung der Akademie: Sie muss einigen ihrer Mitglieder zunehmend als private, ihnen persönlich zugehörige Veranstaltung erschienen sein." Ziemlich eindrucksvoll zudem, was für Wellen der Skandal in Stockholm schlägt: Am 19. April wurde dort vor der Akademie demonstriert, berichtet Hannes Langendörfer in der Welt, flankiert von einer beeindruckenden Fotoaufnahme: "Etwa 2000 Frauen (und Männer) bekundeten ihre Unterstützung für Sara Danius und forderten den vollständigen Rücktritt der Akademie. Überall sah man Schleifenblusen in allen Farben und Spielarten."

Weitere Artikel: Paris ist "nicht nur die Stadt der Intellektuellen, der Existenzialisten, der Surrealisten und der vielen anderen Kunstströmungen, sondern auch die der Lateinamerikaner, die dort geschrieben haben", betont die mexikanische Schriftstellerin Guadalupe Nettel im taz-Gespräch gegenüber Eva-Christina Meier. Ihr aktueller Roman "Nach dem Winter" handelt von einer Studentin, die aus Mexiko nach Paris kommt. Im amerikanischen Literaturbetrieb etabliert sich derzeit das Jobprofil des "Sensitivity Readers", der Romane hinsichtlich unsensibler Darstellungen von Minderheiten lektoriert. Erste, von Gerüchten beflügelte Aufschreie, dass hier die Kunst bevormundet werde, hält Adrian Daub in der NZZ für überzogen. Giacomo Maihofer porträtiert im Tagesspiegel den in Berlin lebenden, nigerianischen Autor Elnathan John. In Berlin präsentierten Jan Assmann und Dieter Borchmeyer eine neue, kommentierte Gesamtausgabe von Thomas Manns Josephs-Romanen vor, berichtet Gustav Seibt in der SZ. Für die Welt spricht Wieland Freund mit dem Cartoonisten Tom Gauld. Bettine Augustin befasst sich im langen DLF-Kultur-Feature mit dem Schriftsteller Emmanuel Bove. Außerdem bringt die Welt einen Auszug aus dem einzigen Romans des frühzeitig verstorbenen Beat-Poeten Richard Fariña, der nun unter dem Originaltitel "Been down so long it looks like up to me" auf Deutsch erscheint.

Besprochen werden die Neuübersetzung von James Baldwins "Von dieser Welt" (taz), Friedrich Christian Delius' "Die Zukunft der Schönheit" (Freitag), Franziska Hausers "Die Gewitterschwimmerin" (Berliner Zeitung), Milena Michiko Flašars "Herr Kato spielt Familie" (FR), Benjamin von Stuckrad-Barres Textsammlung "Ich glaub, mir geht's nicht so gut, ich muss mich mal irgendwo hinlegen" (Zeit), die Neuauflage von Jack Trevor Storys Thriller "Immer Ärger mit Harry" (Freitag), neue Bücher von Amos Oz (SZ) und Sutan Takdir Alisjahbanas "Verlieren und gewinnen" (FAZ).
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Bühne

Im Tagesspiegel sieht Rüdiger Schaper keinen Nachfolger für Chris Dercon an der Volksbühne in Sicht. Nur eins ist klar: "Man wird nach der Erfahrung mit Dercon sicher nicht noch einmal ein Experiment mit einer auswärtigen Persönlichkeit riskieren." Bernd Noack besucht für die NZZ die Schauspielerin Ingrid Caven, die an der Berliner Volksbühne mit Helmut Berger in Albert Serras "Liberté" spielt und der Demontage Chris Dercons ratlos gegenüber steht: "'Wenn Zerstörungswut in Selbstzerstörung umschlägt', meint sie zweifelnd, 'braucht man ja auch keine Kunst mehr, nicht wahr?'" Katrin Bettina Müller unterhält sich für die taz mit der Regisseurin Karin Henkel, die mit ihrer auf Euripides' "Troerinnen" beruhenden Inszenierung "Beute Frauen Krieg" zum siebten Mal beim Theatertreffen in Berlin eingeladen ist.

Besprochen werden Tschechows "Onkel Wanja" in der Inszenierung von Sebastian Schug am Nationaltheater Mannheim (nachtkritik), Sophia Bodamers Inszenierung von Elfriede Jelineks "Schatten (Eurydike sagt)" am Theater Luzern (NZZ, nachtkritik), drei Ballett-Abende von Wayne McGregor in München (FAZ) sowie Benjamin Brittens Oper "A Midsummer Night's Dream" und Gavin Bryars' "Marilyn Forever" in Wien (FAZ).
Archiv: Bühne

Kunst


Rosa Menckman, DCT:Syphoning. Foto: Rosa Menckman

Ursula Scheer hat für die FAZ die Schau "Open Codes" im ZKM Karlsruhe besucht und ist begeistert, dass der Betrachter hier nicht unter Dystopien begraben sondern zum selber Denken angeregt wird. Die Schau "legt Codierung als Kulturtechnik offen, die als Kunst der Kombinatorik bis in die mittelalterliche Theologie zurückreicht und über die philosophische Disziplin der Logik in die Mathematik und Elektronik wanderte. Historische Morsetelegraphen finden sich ebenso in der Ausstellung wie eine Enigma-Codiermaschine und frühe Transistoren. Gleich daneben stellen sich Fragen der Gegenwart: Nach welchen Kriterien entscheiden autonome Fahrzeuge, welches Leben sie im Unglücksfall schonen und welches opfern sollen? Was passiert, wenn zwei Bots miteinander flirten? Wie codiert ein Sprachcomputer Agenturmeldungen um, wenn er die Anweisung erhält, affirmative oder kritische Sprache zu verwenden? Wie schöpfen Bitcoin-Miner Werte?"

Weiteres: In der Welt schreibt Hans-Joachim Müller zum Tod des Kunsthistorikers Willibald Sauerländer.

Besprochen werden die Ausstellung "Poesie der Stille" im Wiener Leopold Museum, mit Bildern von Zoran Music, der an seine Zeit im KZ Dachau erinnerte  (Standard), die Ausstellung "Gurlitt Teil 2" im Kunstmuseum Bern (NZZ), die Schau "Neolithische Kindheit. Kunst in einer falschen Gegenwart, ca. 1930" im Haus der Kulturen der Welt (taz), die Ausstellung "Mit Haut und Haar. Frisieren, Rasieren, Verschönern" im Wien Museum (Standard) und die Ausstellung "Bewegte Zeiten. Der Bildhauer Erasmus Grasser" im Bayerischen Nationalmuseum in München (SZ, FAZ).
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Film

Unter dem Blogtitel "Konfetti" beginnt Lukas Foerster sein Stipendiatenblog beim Filmdienst. Programmatisch geht es ihm in den kommenden Monaten um "kleine, insulare Beobachtungen" und um "Lieblingsszenen in Lieblingsfilmen, um Zufallsfunde". Den Beginn macht Klaus Lemkes (kürzlich online gestellte) 70er-Liebeskomödie "Sylvie" und eine Szene darin, die auf dem Dach des World Trade Center gedreht ist: "Was mich an diesen Bildern fasziniert, ist das Nebeneinander von stilisiertem Kino-Pathos und Improvisation. Die Szene ist einerseits eine in jeder Hinsicht überlebensgroße, an den Maßstäben Hollywoods orientierte filmische Geste - und gleichzeitig wirkt sie wie eben mal so aus dem Ärmel geschüttelt. ... Die Geste wirkt gerade deshalb so groß, weil sie ausschaut, als sei sie der Laune des Moments entsprungen: zwei Leute schleichen sich auf ein Hochhausdach, ein dritter schnappt sich einen Hubschrauber und eine Kamera. Dazu passt, dass das World Trade Center zum Drehzeitpunkt gerade erst errichtet und noch nicht einmal eröffnet worden war." Auf Youtube kann man sich davon ein Bild machen:



Der Freitag setzt seine Interviewreihe mit Erinnerungen an den in Deutschland arbeitenden, iranischen Filmemacher Sohrab Shahid Saless fort. Behrang Samsami hat sich dafür mit der Schauspielerin Friederike Brüheim getroffen, die von ihren Erfahrungen berichtet: "Saless sagte: 'Ich bin kein Ingmar Bergman - keine Psychologie!' Er hat zwar bestimmte Dinge vorgegeben, aber keine Haltung im Einzelnen."

Weitere Artikel: "The Handmaid's Tale" nach der gleichnamigen Vorlage von Margaret Atwood ist die Serie zur Stunde, die kulturelle Entsprechung zu #MeToo, unterstreicht Katja Belousova in der Welt anlässlich der soeben erschienenen zweiten Staffel. Martin Dahms bringt in der FR Hintergründe zum internationalen Erfolg der spanischen Serie "Haus des Geldes". Leonie Bartsch wirft für ZeitOnline einen Blick in neue Serien, die sich mit den Lebens- und Erfahrungswelten Jugendlicher befassen. Philipp Stadelmaier gratuliert in der SZ Claire Denis zum 70. Geburtstag. Denis bringt gerade ihren neuen Film heraus, "Let the sunshine in" mit Juliette Binoche. Dazu gibts äußerst lebhafte Interviews in The New Statesman, im Independent und in der Irish Times.

Besprochen werden Gerd Kroskes Dokumentarfilm "SPK Komplex" (Tagesspiegel, mehr dazu hier), Sebastian Brauneis' Thriller "Zauberer" nach einem Drehbuch von Clemens J. Setz (Standard) und die zweite Staffel der HBO-Serie "Westworld" (FAZ).
Archiv: Film

Musik

Was bleibt von der Echo-Debatte, vom Skandal rund um Farid Bang und Kollegah und deren antisemitische Schlagseiten? Die Feuilletons sortieren die Lage. Für ein komplettes "Elend" hält Jens Uthoff im taz-Kommentar die ganze Debatte und die Reaktionen: Ärgerlich sind nicht nur Allgemein-Verteufelungen des Genres, sondern insbesondere auch die Ignoranz von Betrieb und Öffentlichkeit, mangels Interesse an der Kunstform Rap antisemitische Tendenzen lange Zeit schlicht nicht zur Kenntnis genommen zu haben.

In der Welt eilt Felix Zwinzscher den verfemten Genres zur Hilfe: Es gelte, von den Exzessen der dummen Kerle unbedingt zu abstrahieren und die lichten Seiten des Genres zu betonen - etwa die Alben des frischen Pulitzer-Preisträgers Kendrick Lamar, der der Poesie zu neuem Glanz verhelfe: "Die Geschichte des Hip-Hop ist untrennbar mit der Geschichte afroamerikanischer Lyrik verbunden, die wiederum ihre Wurzeln in den Spiritual-Gesängen der amerikanischen Sklaven hat. ... 'Bei jedem genauen Hinhören zeigt sich, dass die besten Raps in der Regel in einen hohen Gang poetischer Effizienz gegen die fast an Eliot erinnernden hartnäckigen Einschränkungen des komplexen rhythmischen Anspruchs einerseits und der Forderung fast sinnverwandter Reime andererseits schalten', preist David Foster Wallace." Für den Tagesspiegel dröselt Gerrit Bartels die verschiedenen Konstellationen und historischen Schichtungen des deutschsprachigen Raps auf.

Kunst-Apologetik wollen Verena Mayer, Jens-Christian Rabe und Thorsten Schmitz nicht so ohne weiteres gelten lassen. Auf der Seite Drei der SZ zeichnen sie ein großes Bild der Lage vom antisemitischen Vorfall vor kurzem in Prenzlauer Berg bis zur Echo-Debatte: Sicher, Rap hat mit Ermächtigung der migrantischen Unterschicht zu tun, hat eigene ästhetische Codes. Doch bei genauerem Hinsehen zeige sich in manchen Stücken eben doch "ein klarer, habitueller Antisemitismus, meist nicht in offen antisemitischer Agitation, aber als skrupelloses Spiel mit antisemitischen Klischees. Und zwar auch und gerade in den Texten der größten Stars. ... Der Hirnstunt all jener Freunde der Gegenwartskultur, die Kollegah und deutschen Gangsta-Rap verteidigen, geht folglich so: Bitte das alles nicht zum Nennwert nehmen, sondern als geiles Abbild der Straße betrachten, obwohl doch genau darauf alles, was da gereimt wird, abzielt: Es soll ja beim Nennwert genommen werden. Es ist ja eben keine irre Travestie-Show wie bei Rammstein."

Auch das Dancehall-Genre hat einen üblen Leumund, etwa was Homophobie betrifft: Im taz-Gespräch bringt Kulturwissenschaftler Patrick Helber allerdings unter Verweis auf "Ambivalenzen" und subversiver Aspekte des Genres viel, sehr viel pädagogisches Verständnis selbst noch für derbe homophobe Textzeilen auf: Die seien gewiss nicht appetitlich, aber im Grunde doch gar nicht ernst gemeint. Statt Konzerte - wie kürzlich das von Bounty Killer in Berlin - abzusagen, solle man sie lieber stattfinden lassen und draußen demonstrieren und diskutieren. Oh weh.

Weitere Artikel: Jens Blankennagel meldet in der Berliner Zeitung, dass der internationale Star-DJ Avicii im Alter von nur 28 Jahren gestorben ist. Besprochen werden das neue Album "FAKE" von Die Nerven (taz), ein Auftritt von Mahalia (Tagesspiegel) und ein Konzert der Band Imagine Dragons (FR).
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