Efeu - Die Kulturrundschau

Umwerfend enthusiastischer Ernst

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29.03.2018. In ihrem Blog stellt die Erbin des Wollschläger-Nachlasses Gabriele Gordon klar: Hans Wollschläger wollte seine Übersetzung des "Ulysses" selbst überarbeiten und das auch nur in Kleinigkeiten. Die SZ fürchtet um den Hollywood-Actionfilm, wenn der Berliner Senat Rainer Rümmlers Unterführung am ICC schließt. Und sie geht in die Knie vor dem Bach-Dirigenten Raphaël Pichon. Die NZZ besucht Ägyptens größtes unabhängiges Kulturfestival. Mit #metoo ist es nicht getan, erklären die Schauspielerin Bibiana Beglau (Welt) und die Theaterregisseurin Pınar Karabulut (nachtkritik): Die Veränderungen müssen in den Grundstrukturen stattfinden.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.03.2018 finden Sie hier

Literatur

Die Erbin des Nachlasses von Hans Wollschläger, Gabriele Gordon (sie ist nicht die Witwe Hans Wollschlägers, wie wir fälschlich geschrieben haben), wurde stark kritisiert, weil sie eine überarbeiteten Version von Wollschlägers "Ulysses"-Übersetzung von 1975 nicht zur Veröffentlichung zulässt. In ihrem Blog, das sie unter ihrem Geburts- und Autorennamen Gabriele Wolff führt, geht sie en detail auf die Vorwürfe und die ihrer Ansicht nach verzerrte Berichterstattung ein und hält fest: "Am 29.11.2005 schrieb Hans Wollschläger im Zuge der Bemühungen um eine Überarbeitung seiner Ulysses-Übersetzung auf ein entsprechendes Verlagsschreiben vom 9.11.2005, in dem es lediglich im Textanpassungen wegen der neueren englischen Textfassung geht: 'Nun sind nach meiner Kenntnis für die Übersetzung relevant nicht allzu viele Druckfehler der alten englischen Ausgaben; ich schätze, es sind kaum mehr als zwei Dutzend Stellen. Trotzdem würde ich gern, vorausgesetzt, Sie planen einen wirklichen Neusatz, bei dieser Gelegenheit auch den Gesamttext einer Durchsicht unterziehen, um winzige, meist das Klanggefälle betreffende Knicke auszubügeln. […] Die Arbeit selbst aber sollte jedenfalls meine Sache sein, wobei ich versprechen kann, jede gut begründete Anregung mit Geduld und nach Kräften zu bedenken.' Damit ist klargestellt, daß die Initiative vom Verlag ausging, Wollschläger selbst das letzte Wort haben und die Gelegenheit nutzen wollte, seine Übersetzung zu verbessern. Erst im Jahr 2007 wurden die Planungen konkreter."

Kristina Maidt-Zinke berichtet in der SZ vom Schweizer Literaturfestival "Eventi letterari Monte Verità", das in diesem Jahr unter dem Motto "Utopie von der Natur" stattfand. Natur ist am Austragungsort zwar reichlich anzutreffen, doch ruft sie in der Autorin wenig utopische Gedanken hervor: "Schläft die Natur in den Tiefen des von der letzten Eiszeit hinterlassenen Sees, in den majestätisch schweigenden Alpengipfeln oder in den scheintot gestutzten Platanen am Lungolago? Und wird sie sich irgendwann schrecklich erheben und ihre Erfindungen wieder vernichten, weil der Mensch, nachdem er auf dem großen Gedanken einer Schöpfung zweitausend Jahre herumgekaut hat, fest entschlossen scheint, sich nicht mehr um dieselbe zu scheren?"

Der hiesige Krimi-Markt wird überschwemmt, schreibt Thekla Dannenberg im Perlentaucher: Zu leiden hat darunter nicht nur die Branche, deren Umsatz trotz Zuwachs im Angebot sinkt, sondern auch die Autoren, die abseits der etablierten Namen kaum mehr heraus stechen, und die Kritik: "Kein Mensch kann bei solch einer Massenproduktion den Überblick behalten. Gute Titel gehen unter, begraben unter Unmengen von Schund." Immerhin: Mit dem von Thomas Wörtche herausgegebenen Band "Berlin Noir" gibt es doch eine Orientierungshilfe: "Eine wahre Fundgrube an Berliner Geschichten."

Weitere Artikel: "Verleger müssen keine Meinungs-Eunuchen sein", hält Peter von Becker in seinem Tagesspiegel-Nachklapp zur Tellkamp-Debatte fest.

Besprochen werden unter anderem Martin Walsers Blog-Roman "Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte" (Berliner Zeitung), ein Abend mit Nora Bossong (Tagesspiegel), Jurek Beckers "Am Strand von Bochum ist allerhand los - Postkarten" (FR), Mark Twains und Philip Steads "Das Verschwinden des Prinzen Oleomargarine" (Welt), Jens Sparschuhs "Das Leben kostet viel Zeit" (Tagesspiegel), Alice Schmidts "Tagebücher der Jahre 1948/49" (SZ) und Nicole Krauss' "Waldes Dunkel" (FAZ).
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Architektur

Der Berliner Senat will Rainer Rümmlers Unterführung zwischen Internationalem Congress Centrum (ICC), Busbahnhof und S-Bahn (Bild) schließen, meldet Peter Richter in der SZ. Anwohner und Touristen meiden sie, weil sie nach Urin stinkt, unheimlich ist und die Rolltreppen immer kaputt sind. Doch zugleich ist die Unterführung ein beliebter Drehort für Hollywoodfilme: "Vielleicht weil man ihr so ansieht, dass sie mit allen Mitteln das Gegenteil eines Angstraums sein wollte, sondern modern, optimistisch und geradezu poppig. Erstens ist es der größte Säulenwald zwischen der Mezquita von Córdoba und dem Krematorium Baumschulenweg (das seinerseits allerdings wiederum die Mezquita von Córdoba zum Vorbild hat). Durch die niedrige Höhe der Decke kommt man sich nur weniger vor wie in einem Wald, sondern eher wie zwischen den Wurzeln. Zweitens sind Wände und Säulen sehr, sehr orange." Vielleicht kann man einen Club draus machen, oder einen Ausstellungsort, schlägt Richter vor. Oder vielleicht kann die Stadt einfach die Rolltreppen regelmäßig warten lassen?

Besprochen wird die Ausstellung "Große Oper - Viel Theater? Bühnenbauten im europäischen Vergleich" im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt (FAZ).
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Film


Kein Interesse an konkreter historischer Realität: "The Death of Stalin" von Armando Iannucci.

Zwar sanft mau, doch hier und da doch recht unterhaltsam findet Perlentaucher-Kritiker Lukas Foerster Armando Iannuccis Polit-Groteske "The Death of Stalin", der bei der russischen Obrigkeit für beträchtliche Schaumproduktion vor dem Mund geführt hat: Dem Filmemacher geht es jedoch nicht darum, "die Mechanismen eines totalitären Staates nachfühlbar zu machen, sondern darum, den homo politicus endgültig als jenen zynischen Wendehals zu enttarnen, der er in Iannuccis Schaffen schon immer war." Doch "Iannuccis Methode (...) stellt kein Instrumentarium dafür bereit, die Differenz zwischen einer aus dem Ruder laufende Mediendemokratie und einer paranoiden Diktatur zu denken. In diesem Fall heißt das vor allem, dass die konkrete historische Realität des Stalinismus den Film herzlich wenig interessiert."

Barbara Schweizerhof hält in der taz fest: "Wirklich zum Ablachen ist der Film nicht", der Film "funktioniert weniger als gag-getriebene Komödie denn als bittere Farce." Ronald Pohl vom Standard sah "eine brillante Satire." In der SZ lobt Alexander Menden "die großartige Besetzung", die "an der Atmosphäre überhitzter, passiv-aggressiver Boshaftigkeit großen Anteil hat." Und in Smithsonian verspricht Jackie Mansky nichts weniger als "die wahre Geschichte vom Tode Stalins".

Reißschwenk von Russland in die USA: Susan Vahabzadeh fühlt in der SZ den schwachen Puls von Hollywood, dessen Zahlen in diesem Jahr schlecht aussehen: Zwar jubelt man dort über den sensationellen Erfolg von "Black Panther" - doch jenseits davon gibt es bloß lange Gesichter: "Nur zwei der fünf weltweit erfolgreichsten Filme sind aus den USA. ... Der asiatische Markt, von dem Hollywood sich in den letzten Jahren abhängig gemacht hat, versorgt sich nämlich mittlerweile selbst."

Weitere Artikel: In der taz empfiehlt Andreas Hartmann eine Reihe im Berliner Kino Arsenal mit den Filmen von Terence Davies. Außerdem legt uns in der taz Peter Nau Paolo und Vittorio Tavianis "Cäsar muss sterben" ans Herz, der ebenfalls im Arsenal läuft.

Besprochen werden Robert Sigls wiederaufgeführter Gothic-Horrorfilm "Laurin" aus dem Jahr 1989 (Perlentaucher, taz), Michael Ciminos in einer luxuriösen Neuauflage erschienener "Heaven's Gate" (Filmgazette), Hans Traubs ursprünglich in der Nazi-Zeit veröffentlichtes und jetzt wiederherausgegebenes "Wörterbuch des Films" (Tagesspiegel), eine Ausstellung über die italienischen Cinecittà-Studios in Rom (SZ) und die vom Ersten online gestellte Verfilmung von Oliver Storz' Roman "Die Freibadclique" (FR, FAZ, ZeitOnline).
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Kunst

Besprochen werden die Ausstellung "All too Human" mit figürlicher Malerei des 20. Jahrhunderts in der Tate Britain (FR), "Reinhold Nägele. Chronist der Moderne" im Kunstmuseum Stuttgart (Welt), die Ausstellung "Annette & Erasmus Schröter: Montevideo" im Museum der bildenden Künste in Leipzig (FAZ), die Ausstellung "Robots et autres accidents de Tom Gauld, une autre façon de voir l'histoire" im Musée Historique de la ville de Strasbourg (FAZ) und die Bruce-Nauman-Ausstellung im Schaulager Basel (SZ).
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Bühne

In der NZZ berichtet Susanna Petrin über das D-Caf, Ägyptens größtes unabhängiges Kulturfestival. Die Zensurbehörde macht es dem Festivalleiter Ahmed El Attar nicht einfach: Es gibt sie "in Ägypten, seit in den 1950er Jahren mit Nasser das Militär die Macht ergriff. Aber noch nie habe sie so lückenlos funktioniert wie unter Abdel Fatah al-Sisi, das bestätigen viele Kenner der Szene. Kommerzielle Filme wurden schon immer streng überprüft. Doch kleine Theaterproduktionen schlüpften früher oft durch die Maschen. In einer Stadt von über 20 Millionen Einwohnern ließ man durchgehen, was nur rund 200 Leute zu sehen bekamen. Doch nun ist der Zensur keine Aufführung zu unwichtig. Ein Stück kann jederzeit abgesagt werden. Wer offen die Regierung oder das Militär kritisiert, muss gar damit rechnen, als Landesverräter ohne Umschweife im Gefängnis zu landen."

In der Welt unterhält sich Elmar Krekeler mit der Schauspielerin Bibiana Beglau über ihren neuen Film "1000 Arten, den Regen zu beschreiben", über #metoo und das Theater und über die Kunst, eine Haltung zu gewinnen: "Wir sprechen doch jetzt von ganz tiefen, bis ins Innerste der Menschen verwurzelten, in Jahrhunderten gewachsenen Strukturen, Verhaltensformen, Denkmodellen. Das geht tiefer, wird lange dauern, hoffentlich verebbt es nicht. Mit 'MeToo' ist es jedenfalls nicht erledigt. Und wir Frauen machen ganz viel auch falsch jetzt, weil wir gar nicht wissen, wie wir es richtig machen können. Aber wir müssen es machen, spaßvoll und kraftvoll."

Im Gespräch mit der nachtkritik fordert die Regisseurin Pınar Karabulut: "Der Veränderungsdruck muss steigen! Wir müssen beginnen, uns alle genau jetzt zu hinterfragen. Die Veränderungen müssen in den Grundstrukturen stattfinden - das sind immer die schmerzlichsten Veränderungen, da die Privilegierten lernen müssen zu teilen. Auch Frauen müssen beginnen, ihre patriarchalen Denkmuster und Überlebensstrategien einzutauschen. Ich habe oft genug hören müssen, wie Frauen schlecht übereinander sprechen. Das ist so langweilig. Es wird momentan viel über das Thema der Frauenpräsenz im deutschsprachigen Theater gesprochen, aber zu einer Lösung kommen wir nicht."

Weiteres: Torben Ibs besucht für die taz den in Leipzig arbeitenden Theaterregisseur Philipp Preuss. Im Tagesspiegel berichtet Frederik Hanssen von den Osterfestspielen in Baden Baden.

Besprochen werden Wagners "Parsifal" von Dieter Dorn und Simon Rattle bei den Festspielen in Baden-Baden (FR), "Lugano Paradiso", ein Doku-Drama über Schweizer Innen- und Außenpolitik seit dem Zweiten Weltkrieg (NZZ), Leonard Bernsteins Oper "A Quiet Place" in der Kammeroper (Standard), Robert Wilsons Inszenierung "Adam's Passion" auf Musik von Arvo Pärt im Berliner Konzerthaus am Gendarmenmarkt (Tagesspiegel) sowie zwei Gottfried-von-Einem-Opern, "Der Besuch der alten Dame" am Theater an der Wien und "Dantons Tod" an der Wiener Staatsoper (NZZ, nmz).
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Musik

In der SZ fällt Reinhard J. Brembeck auf die Knie vor dem Dirigenten Raphaël Pichon, dessen "Johannes-Passion" alleine schon die Reise ins französische Caen wert sei: Denn "Pichon ist der derzeit spannendste und visionärste unter den Bach-Dirigenten. Mit lässiger Selbstverständlichkeit kombiniert er die Lehren des von ihm als Guru verehrten Harnoncourt mit einer romantischen Klangsinnlichkeit, die auf Empfindungstiefe zielt, auf Meditation, auf unbedingt Existenzielles. ... Wie Harnoncourt versucht er, ein Verstehen zu ermöglichen, versucht, die nötigen Werkzeuge dafür zu konstruieren, und geht mit einem umwerfend enthusiastischen Ernst von den Wurzeln der Musik aus." Hier dirigiert Pichon einige von Bachs Kantaten:



Erstaunlich findet Michael Fischer an dem Skandal rund um die 30 Jahre alte Heimatlieder-Platte, die Heino der NRW-Heimatministerin Ina Scharrenbach überreicht hat, nicht die Lieder und die Platte an sich, sondern die Gereiztheit der "hochgekochten" und "verkürzten" Berichterstattung, erklärt der Musikhistoriker im taz-Gespräch gegenüber Katja Kullmann: NS-Propaganda finde sich auf der Platte nicht, wohl aber Lieder aus dem 19. Jahrhundert, die eben auch bei Nazis geträllert wurden. "Ein Lied an sich kann sozusagen unschuldig sein, was seine Entstehung und Intention betrifft. Aber es kann in einem spezifischen Moment missbraucht werden - dann verliert es gewissermaßen seine Unschuld. Dann hat man heute zu Recht keine Lust mehr, es zu singen."

Weitere Artikel: Marion Löhndorf berichtet in der NZZ von einem Londoner Auftritt Brian Enos. Andrian Kreye hat sich für die SZ mit dem Vibrafonisten Karl Berger zum Gespräch getroffen.

Besprochen werden das Album "New Path" des Duos Essaie Pas, das dafür Motive aus Philip K. Dicks Drogenparanoia-Roman "Der dunkle Schirm" aufgreift (taz), John Eliot Gardiners Biografie "Bach. Musik für die Himmelsburg" (taz) und die Salzburger Konzerte der Dresdner Staatskapelle unter Christian Thielemann (FAZ).
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