Efeu - Die Kulturrundschau

Bis ins Kokette oder Koboldhafte gesteigert

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24.03.2018. Der Tagesspiegel würdigt die große Irving-Penn-Retrospektive im C/O Berlin als Fotoausstellung des Jahres. Auf Zeitonline kann Friedrich Ani über Uwe Tellkamp nur mit dem Kopf schütteln. Die FR erfährt in einer Frankfurter Ausstellung, weshalb die Sanierung der Städtischen Bühnen mindestens 800 Millionen Euro kosten wird. In der Versorgerin erinnert Berthold Seliger an den Komponisten Jacques Wildberger. Und die taz lernt von Trajal Harrell den Unterschied zwischen einer butch femme und einer femme realness.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.03.2018 finden Sie hier

Kunst

Bild: Irving Penn. Ballet Society, New York, 1948 © Condé Nast

Für den Tagesspiegel hat sich Peter von Becker die große Irving-Penn-Retrospektive im C/O Berlin angesehen: Für ihn nach Stationen in New York und Paris schon jetzt die "Fotoausstellung des Jahres". Ob auf den Vogue-Titelseiten, auf denen Penn seine Modelle "bis ins Kokette oder Koboldhafte" steigert, den "existentiellen Porträts", etwa von George Grosz, Truman Capote oder Marcel Duchamp oder den für das Projekt "Worlds in Small Rooms" entstandenen Aufnahmen von Indios oder Tuaregs - stets ließ Penn seinen Modellen ihre eigene Würde, so Becker: "Penn schuf an Wegen oder Plätzen mit eine paar eingepflockten Leinwänden kleine mobile Ateliers mit Tageslicht und lud Männer aus Papua-Neuguinea in traditionellen Kriegsmasken oder tätowierte, in ihre schleierhaften Gewänder gehüllte Tuareg-Frauen oder Berberinnen in Marokko ein, bei ihm ihre Scheu vor Kameras und dem zunächst nur kolonialistisch wirkenden Blick seines kleinen Teams nach und nach abzulegen."

Im Zeitonline-Interview mit Katharina Böhm erklärt der Performancekünstler Christian Jankowski, weshalb er seine derzeit bei Grisebach in Berlin ausgestellten Bilder im Netz gefundener tableaux vivants von Kopisten in China malen lässt: "Die Kunst, die ich mache, ist ja eine Untergrabung bestimmter Werte. In diesem Feld zwischen zwei extremen Polen, Untergrabung und Hommage, bewege ich mich recht gern. Weil das so vieles zurückwirft auf den Betrachter und seine Perspektive. Die größte Chance der Kunst liegt in der Irritation des Betrachters. Ich kann durchaus verstehen, dass eine bestimmte Anmaßung und ein fehlender Respekt in meinem Vorgehen stecken, Kopisten aus China zu finden und mit ihnen ein Atelier in Shenzhen zu gründen."

Weiteres: In der NZZ geht Christian Herchenröder der Fälschungsgeschichte der Werke von Amedeo Modigliani auf den Grund: "Man kann ohne Übertreibung sagen, dass mehr Modiglianis nach seinem Tod als zu seinen Lebzeiten entstanden sind." Standard-Kritiker Roman Gerold entdeckt in der im Wiener Belvedere gezeigten Ausstellung "Klimt ist nicht das Ende", die einen Überblick über Kunstströmungen im Europa der Zwischenkriegszeit gibt, das "Internet von damals": "Weniger anhand von Nationalgrenzen lässt sich die Kunst jener Zeit nämlich fassen. Viel identitätsbestimmender waren für die Künstler Netzwerke, etwa die 'kosmopolitische' Vereinigung Abstraction-Création in Frankreich." Für die taz porträtiert Mounia Meibourg den Kameruner Sound- und Medienkünstler Em'kal Eyongakpa, der in Côte d'Ivoire den ersten Henrike-Grohs-Preis für afrikanische Künstler erhalten hat.
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Literatur

Die FAZ bringt eine Passage aus Gerhard Henschels für den Herbst angekündigtem "Erfolgsroman", in der es um eine Begegnung mit dem kürzlich verstorbenen Essayisten Michael Rutschky geht, bei dem nach dem Abendbrot "Monty Python's Flying Circus" auf dem Programm stand: "Das war ein Fest. Am meisten lachte Herr Rutschky über Graham Chapmans Einlage als Kulturpessimist, der über die Verdrängung der wahren Unterhaltung durch das Fernsehen klagte: Auf Weihnachtsfeiern habe er früher selbst gesungen und sich dabei mit stumpfen Instrumenten auf den Schädel geschlagen, um sich zu amüsieren. Und das machte Chapman nun vor: Er stimmte ein Lied an und haute sich dabei rhythmisch zwei Backsteine an die Schläfen."



Auf ZeitOnline schüttelt Krimi-Autor Friedrich Ani mit dem Kopf über Uwe Tellkamps Dresdner Äußerungen über Flüchtlinge: "Eine Meinung allein macht noch keinen klaren Kopf. ... Finden Sie, der Dresdner Autor hat Recht? Echt? Ich dagegen bin überzeugt, dass einhundert minus fünf Prozent der Deutschen Flüchtlinge für Notleidende halten, denen geholfen werden muss, und zwar aus den Mitteln unserer prall gefüllten Sozialsysteme. Woher ich das weiß? Ich bin das Volk. So wie Sie."

Weitere Artikel: Für die taz spricht Susanne Messmer mit Nicole Krauss über deren Roman "Waldes Dunkel". Dennis Scheck ergänzt seinen Welt-Literaturkanon um Grimmelshausens "Simplicissimus Teutsch". In der Literarischen Welt führt der Schriftsteller Christoph Höthker Protokoll über seine EasyJet- und AirBnB-Reise nach Lissabon. Germanist und Thomas-Mann-Herausgeber Hans Rudolf Vaget schreibt in der SZ über einen jüngst aufgetauchten Brief Gustav Mahlers an Thomas Mann, in dem dieser dem Literaten huldigt.

Besprochen werden unter anderem Andreas Maiers "Die Universität" (taz), Joshua Cohens "Dunkle Zahlen" (NZZ), Peter Stamms "Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt" (Freitag, FAZ),  Martin Walsers "Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte" (Welt), Jhumpa Lahiris "Mit anderen Worten" (taz), Hermann Kestens "Die fremden Götter" (Welt) und Thomas Stangls "Fremde Verwandtschaften" (SZ).
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Film

In der mecklenburgischen Kleinstadt Demmin brachten sich in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs Hunderte von Menschen aus Furcht vor der Roten Armee kollektiv um - heute halten Neonazis dort in aller Seelenruhe Aufmärsche ab. Mit seinem Dokumentarfilm "Über Leben in Demmin" wollte Matin Farkas auf der Suche nach den Ursachen "tiefer bohren", erklärt er Matthias Dell im Freitag-Interview. "In der Forschung gibt es den Begriff von der transgenerationellen Weitergabe des Traumas. Das heißt, dass über die Traumata, die unsere Vorfahren erlebt haben - auch die Täter, die im Krieg vergewaltigt und gemordet haben entgegen der sogenannten soldatischen Ehre - heute erst geredet werden kann. Solange diese Generation lebte, konnte das nicht benannt werden. Eine schwierige Diskussion, aber ich glaube, wir müssen sie führen, um zu verstehen, warum die Ungeheuer immer wieder kommen."

Für die SZ plaudert Tobias Kniebe mit Steven Soderbergh, der seinen neuen Psychothriller "Unsane" (unsere Kritik) auf einem iPhone gedreht und selbst ganz erstaunt ist, was für Resultate sich damit mittlerweile erzielen lassen: "Ich habe hier eine kleine anamorphotische Widescreen-Linse von der Firma Moondog Labs in der Tasche, die klemme ich jetzt an mein iPhone, so! Jetzt starte ich eine kleine App, Filmic Pro - und fertig ist mein Kino-Setup in höchster 4K-Auflösung. ... Ich erzähle das deshalb so ausführlich, weil ich die Menschen zum Nachmachen und Selberdrehen anregen möchte. Es wäre dümmlich, diese neuen Möglichkeiten nicht zu nutzen!"

Weitere Artikel: Im Filmdienst porträtiert Rainer Gansera Josef Bierbichler. In der NZZ schreibt Iso Camartin anhand von Ingmar Bergmans "Das Schweigen" über eine Kulturgeschichte des Schweigens. Les Inrocks melden, dass Thierry Fremaux keine Netflix-Produktionen im Wettbewerb von Cannes erlauben will, und auch keine Selfies auf dem roten Teppich: Sie machen das Defilee nämlich nicht nur langsam, sondern auch trivial. Beim Jüdischen Filmfestival in Wien wurde Yariv Mozers auf Archiv-Fundstücke basierender Interview-Porträtifilm "Ben-Gurion, Epilogue" gezeigt, berichtet Lutz Vössing auf Skug. In der taz empfiehlt Peter Nau Gerhard Lamprechts "Irgendwo in Berlin", den das Berliner Zeughauskino zeigt. Besprochen wird Alex Garlands auf Netflix gezeigter Science-Fiction-Film "Auslöschung" (critic.de).
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Musik

Warum ist der bedeutende Schweizer Komponist Jacques Wildberger heute eigentlich so weitgehend vergessen, fragt der Autor und Impresario Berthold Seliger auf der Website der österrechischen Zeitschrift Versorgerin. Und wo wird sein Erbe gepflegt? "Die beeindruckende und beklemmende Aufnahme von 'An die Hoffnung' mit Sylvia Nopper, Georg Martin Bode und dem Sinfonieorchester Basel unter Heinz Holliger ist eine der wenigen Aufnahmen, die heute von Jacques Wildberger zur Verfügung steht, man kann sie als gebrauchte CD oder auf Youtube finden. Das ist ja leider nicht unüblich bei den Werken moderner und zeitgenössischer Komponisten, umso mehr, wenn sie jenseits großer Kompositionskunst auch Widerspruch gegen die Zeitläufte einlegen: Im musikindustriellen Allerlei stehen ihre Aufnahmen kaum einmal zur Verfügung oder gehen unter, während die einschlägigen belanglosen Schönklang-Orgien, komfortabel und wartungsfrei, auf und ab gespielt und verkauft werden."



Sehr beeindruckend fand Freitag-Kritiker Michael Jäger Terre Thaemlitz' mit dem Ensemble zeitkratzer bei der MaerzMusik in Berlin aufgeführte Komposition "Deproduction". Darin geht es um Heteronomativität, um Missbrauch und häusliche Gewalt. Diese "Musik ist reine Revolte", schreibt Jäger. Die Komposition "beginnt mit etwas wie Vogelgezwitscher - als wenn die familiäre Situation Natur wäre -, ist dann beherrscht von einer immerzu wiederholten Figur der Cellistinnen, die an die übliche metaphysische Tragödienstimmung männlicher Musik erinnert. ... Die Tragödienmusik im Vordergrund erscheint nicht als Metaphysik des Unvermeidlichen, sondern als Bild von Gefängnismauern."

Weitere Artikel: In der taz porträtiert Johann Voigt die Berliner Produzentin Ziúr, deren experimenteller Techno darauf verzichtet, zum "militärischen Stampfen" einzuladen. Für die Zeit plaudert Christoph Dallach mit Jack White, dessen neues Album "Boarding House Reach" Karl Fluch im Standard bespricht (mehr dazu im Efeu von gestern). Für die SZ porträtiert Juliane Liebert den Produzenten Steve Albini, der mit seiner widerständigen Punk-Attitüde den Klang der Indie-Gitarrenmusik maßgeblich geprägt hat. Deutschlandfunk Kultur bringt Sabine Fringes' "Lange Nacht" über Claude Debussy, dessen jetzt auf Deutsch erschienene Briefe Volker Hagedorn in der Zeit bespricht. Jens Balzer erklärt im Rolling Stone, warum "Aumgn" von Can für ihn zu den besten deutschen Songs aller Zeiten gehört:



Besprochen werden die Wiederveröffentlichung eines 1985 enstandenen, kollaborativen Albums von Autorin Ursula K. LeGuin und Komponist Todd Barton (The Quietus), die ersten sieben Alben von Tom Waits (Pitchfork), die Ausstellung "Underground und Improvisation - Alternative Musik und Kunst nach 1968" in der Akademie der Künste in Berlin (Jungle World), ein Konzert von No Age (taz), neue Kassettenmusik (Skug) und das neue Album "Hormone Lemonade" von Cavern of Anti-Matter (Pitchfork), in das man auf Bandcamp reinhören kann.

Außerdem freut sich die Spex über Kaitlyn Aurelia Smiths neue, 22 Minuten dauernde Single "Abstractions", die mit experimentellem Material aus dem Nachlass von Harry Smith visuell unterlegt ist. Ein schönes audiovisuelles Langgedicht:


Archiv: Musik

Bühne

Im taz-Interview mit Astrid Kaminski spricht der amerikanische Choreograf Trajal Harrell, dessen Performance "In the Mood for Frankie" Ende März im Berliner Hau gezeigt wird, über die Verbindung von Tanz und Mode, antike Rollen und Roben und das Performen von Weiblichkeit: "Mein theoretisches Wissen beziehe ich aus dem postkolonialen Feminismus. Würden Sie mich in eine Vogueing-Kategorie verorten, so wäre es unter 'butch femme'. Das heißt: Ich laufe als Frau, bin aber Mann. Eine 'femme realness' wäre eine Person, die auch im echten Leben als Frau durchgehen könnte. Daher verbindet mich meine eigene Kategorie auch mit der Theatergeschichte, in der Frauen lange Zeit von Männern gespielt wurden. Als Künstler könnte es ihnen durchaus bewusst gewesen sein, dass sie in einer ungerechten Gesellschaft leben, in der es keine gleichen Rechte für alle gibt."

Weiteres: In der Welt schreibt Jürgen Flimm einen Nachruf auf das Kölner Millowitsch Theater: "Köln verliert, wie so viele Städte einen großen Teil einer unvergleichlichen Geschichte." Begeistert haben die Kritiker Nikolaus Habjans nach Paulus Hochgatterers Text "Böhm" inszeniertes Puppenspiel über den während des Nationalsozialismus gefeierten Dirigenten Karl Böhm im Schauspielhaus Graz aufgenommen: "Hochgatterer bietet keine simplen Erklärmuster an", lobt Norbert Mayer in der Presse. Weitere Besprechung in der FAZ. In der Welt zieht Manuel Brug mit Blick auf den letzten "Parsifal" von Simon Rattle in Baden-Baden Bilanz.

Besprochen wird Jefta van Dinthers Tanzperformance "Dark Field Analysis" im Tanzquartier Wien (Standard), Therese Willstedts Inszenierung von Georg Büchners "Woyzeck" am Schauspiel Köln (nachtkritik), Sandra Strunz' Inszenierung von Hans Falladas Roman "Jeder stirbt für sich allein" am Theater Bonn (nachtkritik) und die Oper "Der Tempelbrand" nach dem Roman von Yukio Mishima und der Musik Toshiro Mayuzumi beim Festival Arsmondo an der Opera national du Rhin in Straßburg (FAZ).

Archiv: Bühne

Architektur

"Hochaktuell und brisant" findet FR-Kritiker Christian Thomas die im Deutschen Architekturmuseum gezeigte Schau "Große Oper - viel Theater?" - führt sie ihm doch anhand verschiedener Beispiele vor Augen, weshalb sich die Planung der Sanierung bzw. des Neubaus der Städtischen Bühnen in Frankfurt noch lange hinziehen wird und schon jetzt mit Kosten von 800 Millionen Euro gerechnet werden muss: "Das Theater als Ort, an dem Tag und Nacht gearbeitet wird - Transparenz nicht nur als Schauwert, sondern als Legitimationsstrategie. Und nicht nur das Beispiel des National Theatre in London wird angeführt, um auf eine veränderte, umfassendere Nutzung von Theaterbauten hinzuweisen, eine womöglich zeitgemäßere, jedenfalls eine ganztägige, mit Buchshop, Café und Restaurant, anstelle des alleinigen Spielbetriebs, abends. Vielfältige neue Wege, auch in Gdansk. Umsichtige in Liverpool."

Am Beispiel des von dem Architekten Ole Scheeren - der schon den CCTV-Turm in Peking entwarf - als Museum, Auktionshaus, Hotel und Marktplatz gestalteten Hauptquartiers des Guardian Art Center zeigt sich Kai Strittmatter in der SZ, dass die Zeit der Aufbruchsstimmung in China vorerst vorbei ist: Denn Peking sei "eine Stadt, die den Bürgern deren Bedürfnisse immer wieder um die Ohren knallt. Ein politischer Ort, den die Macht immer wieder neu zu formen beliebt. Den idyllischen Hutongs südlich vom neuen Auktionshaus hat die Stadtregierung gerade im letzten Sommer das Leben ausgetrieben, Läden und Restaurants wurden über Nacht zugemauert. Weil Peking 'sauber' und 'ordentlich' werden soll, weil die Partei alles organisch Gewachsene misstrauisch beäugt und weil sie die Auswärtigen vertreiben will aus der Stadt."
Archiv: Architektur