Efeu - Die Kulturrundschau

Der Künstler kann sich nicht aus dem Staub machen

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14.03.2018. Heute Abend eröffnet die Leipziger Buchmesse. Der Umgang mit der neuen Rechten wird die Hauptfrage werden, glaubt die FAZ. In der SZ erkundet Durs Grünbein, wieviel Gemeinheit die Meinungsfreiheit ertragen muss. Die NZZ streift durch die Literatur des Gastlands Rumänien. Nach dem Rauswurf James Levines wirft der Boston Globe einen Blick auf den kultisch-elitären Zirkel, den der Maestro um sich gescharrt hatte. Und ZeitOnline fürchtet, dass anspruchsvolle Filme demnächst nicht mehr ins Kino kommen, sondern online versendet werden.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.03.2018 finden Sie hier

Literatur

In der SZ versucht Durs Grünbein, Uwe Tellkamps Gesprächspartner bei der heftig diskutierten Dresdner Veranstaltung, die Lage rückblickend zu sortieren. Im Hinblick auf die Meinungsfreiheit, deren angebliche Einschränkung durch Linke das Thema des Abends war, stellt er fest: "Das Hetz-Vokabular kommt eindeutig von rechts" und "das Morden, die rohe Gewalt, die Brandstiftereien und Sprengstoffanschläge kommen, seitdem die RAF in der Versenkung verschwunden ist, wieder verstärkt von rechts. ... Es sind die Rechten, die unter Ausländern Terror verbreiten, die Rechten, die einen 'Systemwechsel' herbeibomben wollen. Jüngstes Beispiel: der Prozess gegen die Freitaler Gruppe der Bombenleger. Ganz offen wird in gewissen Kreisen der Alternativdeutschen bereits von 'artfremden' Völkern und 'erbbiologisch Minderwertigen' schwadroniert."

Und von der Meinungsfreiheit hat Grünbein jetzt auch keine so gute Meinung mehr: "Aha, Meinungsfreiheit ist auch die Freiheit, sich mit den Meinungen der anderen gemein zu machen. Hinter der Meinungsfreiheit verbirgt sich mitunter jede Form von Gemeinheit, wie sie sich gerade in unserer Zeit drastisch zeigt."

Dazu auch: Dirk Pilz wirft in seiner Nachtkritik-Kolumne Tellkamp vor, in Dresden "Lügen" verbreitet zu haben, was nun jedoch "in alle Richtungen entschuldigt und relativiert" werde. Im Gespräch auf Deutschlandfunk Kultur erklärte der Literaturwissenschaftler Dieter Borchmeyer indessen vor kurzem, sich sehr über diese "Literaturstreitsstafette" zu wundern, die immer wieder zu beobachten sei: "Das ist eine regelrechte Medieninszenierung." Der Tagesspiegel hat anlässlich des Tellkamp-Streits Gregor Dotzauers Besprechung von Tellkamps Roman "Der Eisvogel" aus dem Jahr 2005 online gestellt: Der Roman ist ein "Plädoyer für eine konservative Revolution", schrieb Dotzauer damals.

Heute Abend wird die Leipziger Buchmesse eröffnet. In der FAZ zeichnet Andreas Platthaus ein Stimmungsbild der im Vorfeld angespannten Situation nach den Konfrontationen zwischen links und rechts auf der Buchmesse in Frankfurt, Tellkamps umstrittenen Äußerungen und der Ankündigung rechter Verlage, auch in Leipzig Präsenz zu zeigen, worauf sich viele nicht-rechte Verlage in der Initiative #VerlageGegenRechts vorbereiten: "Die Leipziger Gretchenfrage lautet: Wie hältst du's mit der Rechten?" In der taz berichtet Sarah Ulrich von den Leipziger Vorbereitungsmaßnahmen: Das Frankfurter Debakel im letzten Herbst solle sich keinesfalls wiederholen.

Die taz bringt heute ihre Literaturbeilage, bei deren Produktion Dirk Knipphals aufgefallen ist, wie sehr sich die Gegenwartsliteratur mit der Geschichte beschäftigt - allerdings auf eine Weise, die das Heute perspektiviert: "Es ist eben kein Rückzug aus der Gegenwart, sich für solche Stoffe zu interessieren. Es ist eher ein Interesse für die Gegenwart: einer reichen, als gelebtes Leben begriffenen Gegenwart nämlich, die sich auf die Tagesaktualität keineswegs reduzieren lässt." Wir werten die Literaturbeilage in den kommenden Tagen aus. Darin besprochen werden unter anderem Arno Geigers "Unter der Drachenwand", Julia Schochs DDR-Roman "Schöne Seelen und Komplizen" und der abschließende Band aus Elena Ferrantes Neapolitanischer Saga.

Rumänien ist das Gastland der Leipziger Buchmesse. Mit vierzig finanzierten Übersetzungen werde "vergleichsweise aus dem Vollen geschöpft. Das muss man auch, um die Lücke zu füllen, welche die Wahrnehmung der rumänischen Literatur im deutschsprachigen Raum seltsamerweise immer noch prägt", schreibt Markus Bauer in der NZZ. Insbesondere kleinere Verlagshäuser machen sich hier bemüht, erklärt er im weiteren und empfiehlt Romane und Bücher von Lavinia Braniste, Ovidiu Nimigean und Carmen-Francesca Banciu. Viel Freude hatte unterdessen Freitag-Kritiker Mladen Gladic an Ștefan Agopians noch unter Ceaușescu geschriebenem "Handbuch der Zeiten": "Kann sein, dass wir es hier mit der Kunst zu tun haben, die Leo Strauss für das Schreiben im Totalitarismus ausgemacht hat: der Kunst, der exoterischen Bedeutung eines Textes eine esoterische mit auf den Weg zu geben, damit, wer eingeweiht ist, zwischen den Zeilen lesen kann. Vielleicht. Vielleicht ist's auch nur ganz große Trinker-Prosa mit bösem Ende, wie sich das für Trinker-Prosa gehört. Was für ein Text jedenfalls, ey!"

Bots liefern bei Twitter nicht nur Hate Speech, sondern durch Dekontextualisierung auch reine Poesie, schreibt Dorothea Studthoff im Suhrkamp-Blog logbuch und zitiert ein Tweet des Bots "Kochkunst Ebooks":


"Wer jetzt bereits einwerfen will, dass die reine Dekontextualisierung nicht ausreiche, um einen Text zu Poesie zu machen", so Studthoff zu diesem Tweet, "dem sage ich: 'Zur bequemeren Reinigung können Sie die Tür aus- und auseinanderbauen, die Aufnahmegitter mit Flexi-Clip-Vollauszügen (falls vorhanden) ausbauen, die katalytisch emaillierte Rückwand ausbauen sowie den Oberhitze-/Grillheizkörper absenken.' (Gebrauchs- und Montageanweisung Herde und Backöfen - Miele, S.63)"

Und dann wird auch noch Jochen Schimmang siebzig! Sandra Kegel (FAZ) und Thomas Schaefer (taz) gratulieren dem Schriftsteller und stets offenen Kritiker, der aus dem nordischen Oldenburg heraus immer wieder "Melancholie und subversive Renitenz" in den Literaturbetrieb hauchte. Wir gratulieren ebenfalls ganz herzlich.

Besprochen werden unter anderem Matthias Senkels "Dunkle Zahlen" (FR, Tagesspiegel), Lukas Bärfuss' "Krieg und Liebe" (NZZ) und Jörg-Uwe Albigs Novelle "Eine Liebe in der Steppe" (FAZ).
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Musik

Die New Yorker Metropolitan Opera hat die Zusammenarbeit mit James Levine nach Vorwürfen sexuellen Missbrauchs nach eingehender Prüfung beendet. "Ein Schritt von immenser Tragweite", schreibt dazu Christian Wildhagen in der NZZ, schließlich war Levine über vierzig Jahre der "nahezu einhellig gefeierte Musikdirektor" des Hauses. Allerdings wirft das für Wildhagen auch Fragen auf: "Dass die Leitung der Met in der methodisch wenig transparenten Untersuchung zu Levine auffällig früh von jedem Vorwurf der Mitwisserschaft und Vertuschung freigesprochen wird, erscheint angesichts der Umstände weder glaubhaft noch hilfreich. "

Sehr lesenswert auch Malcolm Gays und Kay Lazars große Reportage im Boston Globe über die kultisch-elitären Zirkel der "Leviniten", die James Levine seit den sechziger Jahren um sich scharte und damit Bedingungen schuf, die sexuelle Übergriffe, über die im Betrieb seit Jahrzehnten Gerüchte kursierten, erleichterten. "Frühere Mitglieder, von denen viele später in den besten Orchestern des Landes spielten, sagen, der Maestro habe sie dazu ermuntert, Beziehungen zu Menschen außerhalb der Gruppe abzubrechen. Er ermunterte sie dazu, keine Zeitung mehr zu lesen, den Fernseher nicht mehr einzuschalten und den Kinobesuch mit Uneingeweihten zu unterlassen. Levines Dominanz grenzte ans Absolute, sagen sie, wenn er seine Schüler in nächtlichen Treffen nahe zu sich heranholte, bei denen es um alles mögliche ging: von Kammermusik über Opernstudien bis zu Vertrauenstests und anonymem Gruppensex, von dem er behauptete, er würde ihren musikalischen Fähigkeiten nutzen. 'Ich dachte, es handelt sich um Sex, um mich nach vorne zu bringen, Sex, um etwas zu verbessern', sagt der Violinist Albin Ifsich, der später zum New Jersey Symphony Orchestra ging. 'Offensichtlich war das nicht der Fall. Aber es wurde uns eingeredet."

Weitere Artikel: In der SZ-Popkolumne freut sich Jan Kedves unter anderem am neuen Album von Meshell Ndegeocello, das nur Coverversionen enthält. Für ZeitOnline berichtet Birthe Mühlhoff von dem Genuss, sich auf Youtube das Gehirn mit stundenlangen White-, Brown- und Pink-Noise-Videos zu massieren. Lust bekommen? Bitte:



Besprochen werden die Erstaufführung von Lera Auerbachs "72 Angels" durch die Zürcher Sing-Akademie und das Raschèr Saxophone Quartet (NZZ), ein Kammermusik-Konzert der Geigerin Vilde Frang (NZZ), ein Konzert des Cellisten Arseniy Chubachin (Tagesspiegel), ein Beethoven- und Rachmaninow-Abend in München mit Jewgenij Kissin (SZ), ein Auftritt von Franz Ferdinand in München (SZ) und das Debüt "Of Two Minds" der österreichischen Band Naked Cameo (Standard).
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Bühne

In der SZ berichtet Christine Dössel von einem bundesweiten Treffen deutscher Theatermacherinnen, die bei dem es um all die Themen ging, die seit Jahren nicht voran kommen: Pay Gap, Kinderbetreuung, Repräsentation: "Beschämend sind auch die Zahlen der 2016 veröffentlichten Studie "Frauen in Kultur und Medien" des Deutschen Kulturrats. Demnach ist der Anteil von Direktorinnen im Theaterbereich zwischen 1994 und 2014 von 19 auf 22 Prozent gestiegen. Lausige drei Prozent in 20 Jahren! 78 Prozent der Intendanzen haben Männer inne. Bei 70 Prozent der Inszenierungen führen Männer Regie."

Weiteres: Manuel Brug erzählt in der Welt, wie der deutsche Regisseur Michael Sturm mit dem jüdischen Dirigenten Gabriel Chmura im polnischen Poznan Wagners "Meistersinger" inszeniert. 

Besprochen werden Strauss' "Arabella" im Staatstheater Wiesbaden (FR), Dennis Kellys Monolog "Girls and Boys" am Berliner Ensemble (Tagesspiegel) und Calixto Bieitos szenische Umsetzung von Verdis "Messa di Requiem" in Hamburg (FAZ).
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Film

Sehr bedauerlich finden es viele, insbesondere in den sozialen Medien, dass Alex Garlands neuer, auf einer Vorlage von Jeff VanderMeer beruhende Film "Annihilation" mit Natalie Portman in der Hauptrolle nach enttäuschenden Testvorführungen von Paramount am Kino vorbei direkt an Netflix verscherbelt wurde: Was als zu sperrig und anspruchsvoll für das Kino empfunden wird, wird somit wohl künftig direkt Online ausgestrahlt, so der Tenor einiger kritischer Stimmen. Auch Markus Ehrenburg hat auf ZeitOnline bei der Sichtung die Leinwand vermisst, sah er doch "ein furioses Meisterwerk" mit "Bildern, die das Gehirn überfluten" und "einer Tonspur in Dauerfesselung", oder kurz: um "philosophisch ambitionierte Science-Fiction".

Außerdem: Für critic.de spricht Michael Kienzl mit dem Schauspieler Franz Rogowski. Besprochen werden Sean Bakers farbenfrohes "Florida Project" mit Willem Dafoe (SZ, Standard) und Robert Schwentkes "Der Hauptmann" (ZeitOnline).

Das Deutsche Filmmuseum in Frankfurt hat außerdem ein Filmgespräch mit Lav Diaz online gestellt, der dort seinen Film "The Woman Who Left" präsentiert hat (hier unsere Kritik):


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Architektur

Die New York Times meldet, das Vorwürfe sexueller Belästigung nun auch den Architekten Richard Meier treffen.
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Stichwörter: Sexuelle Belästigung

Kunst


Gerhard von Graevenitz. Ausstellungsansicht. Haus Konstruktiv in Zürich.

So sehr sich Gerhard von Graevenitz auch bemühte, Kunst demokratischer zu machen, den Zufall und den Betrachter miteinzubeziehen, NZZ-Kritiker Thomas Ribi erkennt doch in einer Retrospektive im Zürcher Haus Konstruktiv: "Der Künstler kann sich nicht so leicht aus dem Staub machen. Er hat am Ende immer mehr Macht über das Werk, als ihm lieb ist. Selbst wenn er so viel Bestimmungsgewalt abgibt, wie er kann. Kunst ist eben nicht demokratisch. Und wer den Zufall plant, indem er die Rahmenbedingungen eines Werks bestimmt, ist König."

Weiteres: Auf Hyperallergic empfiehlt Tanner Trafelski die Dokumentation "Black Is the Color" über schwarze Kunst in den USA. Dem Handel mit afrikanischen Bronze-Plastiken steht einiges an Aufklärung bevor, vermutet Ingo Barlovic im Tagesspiegel. Gerade wurde in Würzburg eine Benin-Bronze versteigert, die wahrscheinlich Beute einer Strafexpedition gegen das Königreich Benin war. Heikel: "Früher galt auf dem Kunstmarkt nur als echt, was aus der Strafexpedition stammte." Ingeborg Ruthe berichtet in der FR, dass die Berliner Museen aus dem Nachlass des NS-Kunsthändlers Erhard Göpel ein bedeutendes Konvolut aus Gemälden, Zeichnungen und Grafiken von Max Beckmann erhalten.

Besprochen werden die Paul-Klee-Ausstellung "Konstruktion des Geheimnisses" in der Pinakothek der Moderne in München (Standard) und eine Schau der New Yorker Kunstveteranin Joan Jonas in der Londoner Tate (Guardian).
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