Efeu - Die Kulturrundschau

Hier die Enge, da die Weite

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07.03.2018. Die NZZ porträtiert die Gruppe Forensic Architecture, die Menschenrechtsverletzungen mit der Rekonstruktion von Tatorten nachgeht. Die SZ besucht den kubanischen Schriftsteller Angel Santiesteban, der mit Ironie und Sarkasmus dem sozialistischen Trugbild beikommen will. Im Guardian beklagt Joel Meyerowitz, dass die Handys der Straße die Sexiness genommen haben. Die taz schwebt mit Alexander Hacke und Danielle de Picciotto nach Krems und in die Mojave-Wüste. SZ und Welt jubeln über den Einzug von Serge Dorny und Vladimir Jurowski in die Bayerische Staatsoper.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.03.2018 finden Sie hier

Architektur


Gegenuntersuchung zur Aussage des Verfassungsschutzmanns Andres Temme in Bezug auf den Mord an Halit Yozgat in Kassel, 6 April 2006.

Das Institute of Contemporary Arts in London zeigt gerade die Arbeit der Gruppe Forensic Architecture, die von dem israelischen Architekten Eyal Weizmann geführt wird und sich zur Aufgabe gemacht hat, Menschrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen zu rekonstruieren. Sie arbeiten mit Opfern der Bombardements in Syrien, Palästinensern in der Westbank, Angehörigen der NSU-Opfern in Deutschland. In der NZZ erklärt Antje Stahl die Arbeit der Gruppe: "Forensic Architecture ist eine junge Wissenschaft und erhebt den Anspruch, nachvollziehbare Sach- und Kausalzusammenhänge der Rhetorik sich bedroht fühlender Amtsträger gegenüberzustellen. Nur geht es Weizman nicht um DNA-Spuren, es werden keine psychiatrischen Gutachten oder rechtsmedizinischen Befunde erstellt, Weizman ist ausgebildeter Architekt und rekonstruiert Tatorte: Wohnungen, Gebäude, Städte, mitunter ganze Regionen. Seit vielen Jahren wird Forensic Architecture dabei vom European Research Council unterstützt und ist an die Goldsmiths-Universität in London angeschlossen, was vielleicht nicht die politische Unabhängigkeit dieser heroischen Mannschaft aus Architekten, Journalisten, Filmemachern und IT-Spezialisten garantiert, aber zeigt, dass ihre Methoden auf akademischem Boden entstanden sind."
Archiv: Architektur

Bühne

Als großes Glück bejubelt Reinhard Brembeck in der SZ, dass Serge Dorny Intendant der Bayerischen Staatsoper in München wird - Dresden hatte sich einst mit seinem Rauswurf blamiert, woraufhin er die Oper von Lyon zu einem der interessantesten Orte der Opernwelt machte: "Er ist ein Intellektueller, umfassend gebildet, Gesellschaftsvisionär, Kunstliebhaber, Konzept- und Kommunikationsmeister, Workaholic, Manager. Solch eine Kombination von Fähigkeiten ist selten." Und auch mit der Verpflichtung von Vladimir Jurowski als neuen Generalmusikdirektor hat die Stadt "das große Los gezogen", ergänzt Wolfgang Schreiber in der SZ. Jurowski ist Chefdirigent beim Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin. Mit den beiden Spitzenspielern werde die Staatsoper zum Bayern München der Opernwelt, schwant Manuel Brug in der Welt.

Weiteres: Im Standard sprechen Luk Perceval und Tobias Moretti über ihre Zusammenarbeit für das  Demenzdramas "Rosa" im Wiener Akademietheater.

Besprochen werden Kay Voges' Inszenierung von Thomas Bernhards "Theatermachern" in Dortmund (die Martin Krumbholz in der SZ urkomisch findet), Heinz Holligers Oper "Lunea" nach dem Libretto von Händl Klaus am Opernhaus Zürich (Standard, FAZ), Hans Neuenfels' Inszenierung der "Salome" an  der Berliner Staatsoper (Berliner Zeitung, NZZ), das dokufiktionale Stück "Dschihadista" im Heimathafen Neukölln (Tagesspiegel) und französische Produktionen beim Mainzer Tanzfestival "Update" (FR).
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Kunst

Cristina de Middel & Bruno Morais: Über kulturelle Vorherrschaft. Aus der Serie "Excessocenus", 2016.
Daniele Muscionico feiert in der NZZ die spanische Fotografin Cristina de Middel, die mit ihren semifiktionalen Bildern den dokumentarischen Anspruch des Mediums "mit den Mitteln der Kunst tiefergelegt" habe. Die Galerie Coalmine in Winterthur zeigt ihre Serie "Excessocenus": "Die Fotos sind Phantasien von der anderen Seite des westlichen, weißen Konsum- und Wohlstands-Spiegels. Gelbe Hühnerfüße ragen wie Bäume in einen blauen Himmel; die Hausziege am Strick hat zwei Köpfe - und zwei Stricke; auf einer gigantischen Mülllandschaft wächst eine Plasticpalme, eine Schwimmhilfe vom Strand; auf den rauchenden Resten verkohlter Baumstümpfe wirft sich ein Mann in einem Superman-Kostüm in Positur. Wer will es der humanistischen Fotografie verbieten, Mittel der Selbstironie einzusetzen?"

Im Guardian erfährt Stuart Jeffries vom gestern achtzig gewordenen amerikanischen Fotografen Joel Meyerowitz, warum die Straßenfotografie passé ist: "'Niemand sieht den anderen mehr an. Jeder klebt an seinem Telefon.' Aber sie existiert doch noch? Sie läuft, aber nicht mehr in der alten Weise. Die besten Straßenfotografen zeigen heute Menschen, die vor Reklametafeln zu Zwergen werden. Die Straßen haben ihren Reiz verloren.'"

Besprochen werden die Ausstellung "Zwischen den Welten" mit Werken des Malers Josef Scharl im Bremer Museum in der Böttcherstraße (SZ), die Austellung des Malers, Grafikers und Bildhauers Thomas Schütte im Kunstverein Oldenburg (taz), Feleksan Onars Installation "Zwischenlandung" im Aleppo-Zimmer des Museums für Islamische Kunst (Tagesspiegel).
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Literatur

Ralph Hammerthaler hat für die SZ den kubanischen Schriftsteller Ángel Santiesteban besucht, der in seiner Heimat Repressalien bis hin zu Haftstrafen ausgesetzt ist und seine Kräfte vor allem daraus zieht, wenigstens im Ausland veröffentlicht zu werden, etwa auch in Deutschland. Als Hammerthaler bei ihm eintrifft, wartet Santiesteban auf die Möglichkeit zur Ausreise. Für den kubanischen Sozialismus hat er wenig übrig, er nennt ihn "Diktatur. Er spricht es gelassen aus. ... Wird sich durch den angekündigten Generationswechsel in der Politik etwas verändern? Müde lächelnd schüttelt Ángel den Kopf: Das ist ein Trugbild."

Der Literatur kommt die Reue als Thema abhanden, notiert die Schriftstellerin Dana Grigorcea im Freitext-Blog auf ZeitOnline und berichtet davon, wie sie mit einer älteren Dame, einer Zufallsbegegnung, im Flugzeug stundenlang Gedichte rezitierte: Am Ende "liefen der Frau Tränen über die Wangen, und ich hielt ihren Arm ebenfalls fest. In allen Gedichten spürte man ein Bedauern über die Vergänglichkeit und gleichzeitig einen milden Trost, der von der Formvollendung des Ausdrucks ebendieses Leides rührte."

Weitere Artikel: In der NZZ rührt Manuel Müller die Werbetrommel für Pierre Assoulines Zürcher Georges-Simenon-Vorlesung und die Neuausgabe der Maigret-Romane im Kampa Verlag. Die Branchen-Initiative "Verlage gegen Rechts" will sich per Crowdfunding gegen rechte Verlage auf Buchmessen positionieren, meldet Mladen Gladic im Freitag. Für den Standard plaudert Doris Priesching mit Ferdinand von Schirach unter anderem über dessen neues Buch "Strafe". Die FR bringt einen Auszug aus Olga Martynovas Krim-Tagebuch.

Besprochen werden Bettina Wilperts "Nichts was uns passiert" (Freitag), Josefine Rieks' Debüt "Serverland" (Tagesspiegel), Monika Marons "Munin oder Chaos im Kopf" (Berliner Zeitung), Katja Bohnets Krimi "Kerkerkind" (Welt), Dror Mishanis "Die schwere Hand" (Standard), Sayaka Muratas "Die Ladenhüterin" (Zeit), Michael Chabons "Moonglow" (Tagesspiegel) und die Faksimile-Ausgabe von Mary Shelleys Frankenstein-Manuskript (Welt).
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Film



In "Molly's Game" spielt Jessica Chastain eine Frau, die sich in einem von Männern dominierten Feld nach oben arbeiten muss. Tagesspiegel-Redakteurin Christiane Peitz hat sich mit der Schauspielerin zum großen Gespräch getroffen, die unter anderem erklärt, mindestens einen Film pro Jahr unter einer Frau zu drehen, um ihnen "Sprungbretter" zu bieten. An einen linearen historischen Fortschritt in der Darstellung von Frauen im Kino glaubt sie übrigens nicht: "Eher im Gegenteil. In den dreißiger Jahren gab es tolle Charaktere, man denke nur an Katherine Hepburn oder Greer Garson. Das hielt sich nicht lange, was vielleicht mit dem immer rigideren Moralkodex in Hollywood zu tun hatte. Frauen wurden bald auf Stereotype zurechtgestutzt."



In der Welt erinnert sich Regisseur John Carroll Lynch an den im vergangenen Jahr hochbetagt gestorbenen Schauspieler Harry Dean Stanton, der meist auf markante Nebenrollen abonniert war, in "Lucky" aber kurz vor seinem Tod nochmal eine Hauptrolle bekam. Wenn Fans ihn ansprachen, sah Stanton "plötzlich irgendwie aus wie 40. Die Verwandlung war erstaunlich. Beim Reinkommen hatte Harry noch wie das Porträt des Dorian Gray ausgesehen und dann, diese jungen Fans vor Augen, wurde er auf einmal der Dorian Gray aus Fleisch und Blut." Stantons letzter Film "Lucky" läuft morgen in den Kinos an, besprochen wird er im NDR von Katja Nicodemus, in SZ und FAZ.

Weitere Artikel: Dorian Waller empfiehlt im Standard das Tricky Women Festival in Wien, bei dem von Frauen gedrehte Animationsfilme gezeigt werden. In der SZ berichtet Gerhard Matzig, dass die im Film "Three Billboards Outside Ebbing, Missouri" gezeigte Protestform - mit gehijackten Werbeflächen auf Missstände hinweisen - weltweit Nachahmer findet. Besprochen wird eine große ARD-Aufarbeitung des Gladbecker Geiseldramas (Welt, FAZ).
Archiv: Film

Musik

Jens Uthoff spricht in der taz mit den Musikern Danielle de Picciotto und Alexander Hacke, die Berlin vor einigen Jahren zugunsten eines Lebens als internationale Bohème-Nomaden aufgegeben haben und nun mit dem Album "Menetekel" zurückgekehrt sind, das an sehr unterschiedlichen Orten entstanden ist. "Der eine Ort: eine mittelalterliche Kirche im österreichischen Krems, die Hackedepicciotto im Rahmen eines Stipendiums zum Experimentieren mit Hall, zur Auseinandersetzung mit der Architektur nutzten. Und der andere Ort: ein Studio in der Mojave-Wüste in Kalifornien, durch dessen gläserne Front sie auf Sand und Kakteen blicken konnten. Hier die Enge, da die Weite." In voller Länge hören kann man das Album hier.

In der SZ unterhält sich Jonathan Fischer mit Afrobeat-Musiker Seun Kuti, der sich über den Enthusiasmus wundert, mit dem man in afrikanischen Ländern auf Ryan Cooglers Blockbuster "Black Panther" reagiert: "Da geht es um ein imaginäres Königreich Wakanda, eine Art Himmel, um uns Schwarze ruhigzustellen. Aber kann uns Science-Fiction erlösen?"

Weitere Artikel: Volkan Ağar schreibt in der taz über das Elevate-Festival in Graz, wo ihn die reichlich dargebotene experimentelle Musik von Caterina Barbieri und Ana Threat weit mehr überzeugte als die teils recht platten politischen Diskussionen. Im "Unknown Pleasures"-Blog des Standard erinnert Karl Fluch an Eddie Hinton, dem als "weißer Otis Redding" eine Karriere in Aussicht stand, die sich nie erfüllte. Wir erinnern uns mit:



Besprochen werden Kendrick Lamars Berliner Auftritt (taz, Berliner Zeitung), das neue Album von Adele-Entdecker Richard Russell (Standard), David Byrnes neues Album "American Utopia", das laut Christian Schachinger "auf nicht ganz frischen Zutaten basiert" (Standard),  ein Beethoven-Konzert des London Symphony Orchestra mit dem Pianisten Piotr Anderszewski unter Sir John Eliot Gardiner (FR), ein Konzert der Pianistinnen Martha Argerich und Lilya Zilberstein (Standard), ein Konzert des Rundfunk-Sinfonieorchesters unter Vladimir Jurowski mit modernen Shakespeare-Vertonungen (Tagesspiegel) und neue Popveröffentlichungen, darunter das "vollends gelungene" neue Album der Young Fathers (SZ). Daraus ein Video:

Archiv: Musik