Efeu - Die Kulturrundschau

Verteilungskampf im kulturellen Gewand

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.02.2018. Berliner Zeitung und nachtkritik bewundern die hochkreative Selbstverschwendung des Castorf-Ensembles in Hamburg, wo drei Einakter von Eugene O'Neill gegeben wurden. Einige Altherrenwitze werden da gern verziehen. Darkroom und Dancefloor passen gut zusammen, erkennt die taz am Sound der Band Fischerspooner. Jeder kann den Kunstkanon in Frage stellen, auch Moralapostel, erinnert die NZZ.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.02.2018 finden Sie hier

Bühne


Foto: Thomas Aurin

In Hamburg hatte Frank Castorfs Inszenierung dreier Dramen von Eugene O'Neill am Hamburger Schauspielhaus Premiere. Okay, es beginnt ziemlich dröge, die Handkamera klebt gelegentlich unangenehm auf dem Busen von Kathrin Angerer oder den Pobacken von Anne Müller und "ein paar unlustige Scherze über den #MeToo-Komplex" gibt es auch, gesteht Falk Schreiber in der nachtkritik. Aber das sei von Castorf ja zu erwarten. Und dass er sich "mehr oder weniger geschickt um Problemstellungen herumdrückt, ums proletarische Selbstbewusstsein etwa oder um die Möglichkeit respektive Unmöglichkeit klassenübergreifender Solidarität - geschenkt. Je länger der Abend dauert, umso rauschhafter gerät diese hochkreative Selbstverschwendung, und dass im Rausch subversives Potenzial liegt, das darf ruhig auch mal wieder gesagt werden."

Ach, hier finden sie wieder "in den Exzess des gemeinsamen Spiels", schwärmt Ulrich Seidler (Berliner Zeitung) vom Castorf-Ensemble. "Nun muss sich nur noch - Achtung, Hauptstadtkritikerschlusswort! - das Publikum außerhalb Berlins bewähren. In Hamburg seufzte es viel, fand ins verzweifelte Gelächter und jubelte dann, als hätte es ein Meer durchschwommen. Dabei war schon eine Viertelstunde vor Mitternacht Schluss."

Weitere Artikel: Petra Ahne hat für die Berliner Zeitung die Werkstätten der Volksbühne besucht, wo man fürchtet, unter Chris Dercon nicht viel zu tun zu haben und schließlich entsorgt zu werden.

Besprochen werden Oliver Reeses Adaption von Benjamin von Stuckrad-Barres Roman "Panikherz" am Berliner Ensemble (Süddeutsche Zeitung, Berliner Zeitung, nachtkritik), Roger Vontobels Inszenierung von Shakespeares "Kaufmann von Venedig" am Düsseldorfer Schauspielhaus (nachtkritik, FAZ), Philipp Preuss' "Faust"-Inszenierung am Theater Heidelberg (nachtkritik), Peter Carps Inszenierung von Tena Štivičićs kroatischer Drei-Generationen-Saga "Drei Winter" am Theater Freiburg (nachtkritik), Barbara Freys Inszenierung von Horváths "Zur schönen Aussicht" am Schauspielhaus Zürich (NZZ, nachtkritik), David Böschs Inszenierung der "Glasmenagerie" am Burgtheater Wien (Standard, nachtkritik), die Uraufführung von Sivan Ben Yishais Stück "Papa liebt dich" in der Inszenierung von Suna Gürler Berliner Maxim Gorki Theater (Tagesspiegel, nachtkritik), die Uraufführung von Olga Bachs Ibsen-Weiterdichtung "Die Frauen vom Meer" in der Inszenierung von Lilja Rupprecht am Berliner Inklusionstheater-Haus RambaZamba (nachtkritik), Mozarts "Idomeneo" in der Inszenierung von David Bösch am Staatstheater Nürnberg (nmz), Claus Guths Inszenierung von Georg Friedrich Händels "Saul" im Theater an der Wien (Standard), das Ballett "Don Quixote" an der Berliner Staatsoper (Tagesspiegel) und die Uraufführung Sarah Michelsons Choreografie "February 2018" in Hamburg (FAZ).
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Film

"Ein melancholisches Projekt" nennt Matthias Dell im Freitag eine eigenes erstellte Karte, die aufweist, welche Kinos in Deutschland verblieben sind, die noch klassischen Film zeigen können: Viele sind es nicht, sie ballen sich vor allem in Berlin.

Bei der Berlinale wird unterdessen Christian Petzolds "Transit" als großer Bärenfavorit gehandelt - alles dazu und vieles mehr: In unserem Pressespiegel zum Festivalwochenende.
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Literatur

Kaum ein Verlag, der derzeit nicht auf den Trend zum Naturbuch setzt. Was viele Kritiker zur Verzweiflung treibt - Naturkitsch! Romantik! Falsches Bewusstsein! - findet Andreas Weber auf Zeit online so tragisch zunächst einmal gar nicht, driftet dabei aber selbst auch gehörig in die Kitschecke ab: Denn "was sich hinter der naturschwärmerischen Welle abzeichnet, könnte etwas sehr Ernsthaftes sein: das Bild einer Welt, in der wir Menschen unseren Platz wiederfinden. Nicht in der Heimat einer trivialen Idylle, sondern in einer radikalen Gegenseitigkeit, in der auch den nicht menschlichen Mitspielern jene schöpferischen und emotionalen Qualitäten nicht fremd sind, die wir allein für unser eigenes Artmerkmal halten."

Weiteres: Auf ZeitOnline gratuliert Michael Braun der Dichterin Elke Erb zum 80. Geburtstag. 80 Jahre alt wird auch der Verleger Michael Klett, gratuliert Hannes Hintermeier in der FAZ gratuliert.

Besprochen werden der zweite Teil von Virginie Despentes' Romantrilogie über Vernon Subutex (Tagesspiegel), David Szalays "Was ein Mann ist" (FR), Martin Mosebachs "Die 21. Eine Reise ins Land der koptischen Martyrer" (SZ), Wilhelm Genazinos "Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze" (Tagesspiegel), Dominik Wendlands Comic "Tüti" (Tagesspiegel) und neue Hörbücher, darunter die Hörspielbearbeitung von Irmgard Keuns "Nach Mitternacht" (FAZ).

in der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Frieder von Ammon über Goethes "Freibeuter".

"Mein Haus hat kein' Tür,
Mein' Tür hat ke' Haus;
Und immer mit Schätzel
Hinein und heraus.
..."
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Kunst

In der NZZ findet Antje Stahl die Debatten um Moral und Kunstfreiheit ziemlich überflüssig. Als dürfe nicht jede junge Generation den Kunstkanon in Frage stellen! Und überhaupt: "Im Herzen geht es in allen diesen Debatten doch um unsere Lebensrealität, um einen Verteilungskampf im kulturellen Gewand. Um das zu erkennen, sollte man Künstlern und Publikum, die sich mit offenen Briefen und Petitionen an die Gesellschaft wenden, nur eben nicht reflexhaft den Mund verbieten. Man darf dem Geschrei großzügig und in aller Ruhe zuhören."

Besprochen werden die Ausstellung "Das Wiener Aquarell" in der Wiener Albertina (FAZ), eine Ausstellung des Malers Thomas Scheibitz im Kunstmuseum Bonn (FAZ) und die Ausstellung "The American Dream - Amerikanischer Realismus 1945 bis 2017" in der Kunsthalle Emden (SZ).
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Musik

Auf ihrem neuen Album "Sir" zelebriert die Band Fischerspooner "ästhetisch offensiver denn je die befreite queer-männliche Sexualität", schreibt Jana Sotzko in der Jungle World. Insbesondere das düstere Stück "Togetherness" gefällt ihr gut: "Solche Momente der theatralen Abgründigkeit stehen Fischerspooner ebenso wie die schweren Synthesizer gut und lassen 'Sir' in seinen besten Momenten sowohl im Darkroom als auch auf dem Dancefloor funktionieren. Die Platte ist ein Selbst- und Sendungsbewusstsein ausstrahlendes Lebenszeichen." Das wollen wir uns nicht entgehen lassen:



Weitere Artikel: Der Musiker Knarf Rellöm erinnert im Freitag an den vor 2010 verstorbenen Popkritiker Martin Büsser, der vor wenigen Tagen 50 geworden wäre (mehr dazu auch hier). Für die Berliner Zeitung plaudert Steven Geyer mit Jamie Hewlett, dem Comiczeichner der Band Gorillaz. Deutschlandfunk bringt ein Feature von Olaf Karnik und Volker Zander über die Emanzipation der Bassfrequenzen in der Musik. Für die SZ spricht Jonathan Fischer mit dem Saxofonisten Maceo Parker. Im Standard würdigt Karl Fluch Marianne Mendts Verdienste um den Austropop, den sie bereits 1970 mit auf den Weg brachte. Etwa mit diesem Stück



Besprochen werden das Frankfurter Konzert von Kendrick Lamar (FR), eine Hommage in Berlin an Arvo Pärt (Tagesspiegel), ein Auftritt der nun Gottseidank endlich wieder gesundeten Helene Fischer (Standard) und ein HR-Sinfoniekonzert mit Aziz Shokhakimov und Behzod Abduraimov (FR), das in voller Länge auf Youtube steht:

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