Efeu - Die Kulturrundschau

Vorzugsweise auf Abwegen

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17.02.2018. Die FAZ bringt eine  Vorabdruck aus Martin Mosebachs neuem Buch "21" - er schildert sehr detailreich ein IS-Video, das die Enthauptung koptischer Christen zeigt. In der NZZ singt Felix Philipp Ingold ein Loblied aufs nomadische Lesen. In der Nachtkritik schildert Regisseur Sebastian Hartmann, der gerade in Moskau inszeniert hat, die Beklemmung in der russischen Kulturszene. Die taz porträtiert die kosovarische Choreografin Teuta Krasniqi.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.02.2018 finden Sie hier

Literatur

In einem FAZ-Vorabdruck aus seinem neuen Buch "Die 21. Eine Reise ins Land der koptischen Märtyrer" beschreibt Martin Mosebach sehr detailreich ein ein IS-Video, das die Enthauptung koptischer Christen zeigt - und er hat es sich wirklich genau angesehen, auch dort, wo selbst diese Videos noch schönen: "Kein Schrei, nur ein Gewirr leiser Stimmen ist vernehmbar: 'Jarap Jesoa! - Herr Jesus!' - das Stoßgebet der Sterbenden. Die Fassungen des Videos, die heute zugänglich sind, enden meist an dieser Stelle, aber auch das ursprünglich verbreitete Video ist geschnitten - hier erhält der filmtechnische Terminus eine grausige Konnotation. Das Halsabschneiden mag nicht bei allen glatt verlaufen sein, mancher Henker wird beim Durchtrennen der knorpeligen Luftröhre und des Genicks länger herumgesäbelt haben, solch einen Mangel an Professionalität wollten die Propagatoren der Bluttat nicht verbreitet wissen."

Felix Philipp Ingold singt in der NZZ ein Loblied aufs nomadische Lesen: Diese freie Form der Navigation "kann spielerisch, sprunghaft, fragmentarisch sein, es vertraut auf Zufallstreffer, es kann ausufern wie ein Traum, kann Reminiszenzen und Wünsche wachrufen, von denen im Text keine Rede ist." Ein solcher Nomade lasse sich "beim Lesen neugierig und vertrauensvoll gehen, lässt sich überraschen, amüsieren, irritieren, ablenken, verzaubern, in die Irre führen. So streunt er, statt gewissenhaft der vorgegebenen Linearität des Geschriebenen zu folgen, vorzugsweise auf Abwegen durch das Textgefilde."

Weitere Artikel: In Frankfurt las Wilhelm Genazino aus seinem Roman "Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze", wie Andrea Pollmeier in der FR berichtet. Der Standard bringt einen Vorabdruck aus Robert Misiks "Liebe in Zeiten des Kapitalismus". Dennis Scheck fügt Philipp Roths "Der menschliche Makel" seinem Welt-Literaturkanon hinzu. Lorenz Jäger gratuliert der Dichterin Elke Erb in der FAZ zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Norbert Gstreins "Die kommenden Jahre" (NZZ), Szczepan Twardochs "Der Boxer" (taz), Omar Robert Hamiltons "Stadt der Rebellion" (ZeitOnline), Flannery O'Connors "Keiner Menschenseele kann man noch trauen" (Welt), Daniel Defoes "Kurze Geschichte der pfälzischen Flüchtlinge" (NZZ), der Reportageband "American Readers at Home" (ZeitOnline), Jon McGregors Krimi "Speicher 13" (Welt) und Clemens J. Setz' "Bot - Gespräch ohne Autor" (SZ).
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Musik

In Nordkorea herrscht Dauerbeschallung mit Propaganda- und Motivationsmusik, erklärt Gunnar Leue im Freitag. Die ganz großen Überflieger sind dabei die Mädchen der Girlpop-Band Moranbong, mit denen der Nordkorea-Tourist schon im Flugzeug auf dem Weg in das Land Bekanntschaft macht. Deren Gründung geht auf eine Initiative von Diktator Kim Jong-un zurück: "Der jüngste Spross der Kim-Dynastie, der ein Faible für Entertainment nach West-Art hegt, hat eine schleichende Modernisierung der musikalischen Propagandakultur bewirkt. Das ist insofern bemerkenswert, als der Leiter des staatlichen Konservatoriums noch vor wenigen Jahren einem westlichen Dokumentarfilmer erklärte, es werde nur koreanische Musik gelehrt, weil koreanische Ohren keinen Jazz vertrügen."

Besprochen werden ein Arvo-Pärt-Konzert in Berlin (taz), eine Neuauflage von Sonny Rollins' "Way out West" (Pitchfork), ein Konzert der Berliner Philharmoniker mit Michael Barenboim und Vasily Petrenko (Tagesspiegel, FAZ), ein Konzert der Berliner Symphoniker unter Robin Ticciati mit Christian Tetzlaff (FR), der Tourauftakt von Kendrick Lamar (FAZ, SZ) und Car Seat Headrests Album "Twin Fantasy" (Pitchfork). Daraus eine Hörprobe:

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Film

Die Berlinale rollt im zweiten Tag mit einem Meta-Western der Zellner-Brüder und einem Frauendrama aus Paraguay an. Alles darüber und noch mehr - im Pressespiegel in unserem Berlinale-Blog, wo Sie täglich fortlaufend neue Kritiken vom Festival finden.

Besprochen werden Hélène Angels "Die Grundschullehrerin" (FR) und die Autobiografie der Schauspielerin und #MeToo-Aktivistin Rose McGowan (SZ).

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Stichwörter: #metoo, Metoo

Kunst

Catrin Lorch besucht für die SZ Palermo, dessen rühriger Bürgermeister Leoluca Orlando die Stadt mit der kommenden Manifesta neu "branden" will: "Die Erwartungen sind hoch, was sicher auch etwas damit zu tun hat, dass man in Palermo nicht eben vertraut ist mit zeitgenössischer Kunst. Es gab auf Sizilien noch nie eine vergleichbare Großausstellung. Die Manifesta kennen auch die meisten Politiker in Palermo eher vom Hörensagen. Ahnt man in Palermo, dass die Schau sich mit ihrer zwölften Ausgabe mindestens so erneuern muss wie die gastgebende Stadt?"

Weiteres: Für Lawrence Weiners Arbeit am vom Abriss bedrohten Flakturm im Esterházypark ist ein neuer Standort in Aussicht, meldet Olga Kronsteiner im Standard. Besprochen werden die Basquiat-Ausstellung in der Frankfurter Schirn (FR, SZ), die Maria-Lassnig-Retrospektive in der Nationalgalerie in Prag (Standard) und die Ausstellung "Kiki Smith. Procession" im Münchner Haus der Kunst (FAZ).
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Bühne

Seit August 2017 steht der Regisseur und Leiter des Gogol Centers Kirill Serebrennikov in Moskau unter Hausarrest. Auch Regisseur Sebastian Hartmann, der gerade mit seiner DT-Inszenierung "Berlin Alexanderplatz" am Gogol Center gastiert konnte ihn nicht sprechen, sagt Hartmann im Interview mit der nachtkritik: "Ich habe mich tatsächlich in ein Klima wie in der DDR zurückversetzt gefühlt. In dieses: Was sage ich wann und wo und wie laut, wie deutlich? Während unserer Vorstellung gab es Szenenapplaus, etwa wenn Michael Gerber in der zweiten Hälfte von 'freien Wahlen' spricht. Das war wie die Stille Post damals in der DDR. Im Workshop habe ich dann erlebt, dass die Einschüchterung von offizieller Seite funktioniert, gerade wenn ich politische Fragen gestellt habe. Allerdings sollte man es sich mit seiner westlichen Haltung auch nicht zu bequem machen."

Für die taz begleitet Franziska Tschinderle die kosovarische Choreografin Teuta Krasniqi bei der letzten Probe für ihre jüngste Choreografie auf der Bühne des Nationaltheaters in Prishtina und schildert dabei das schwierige Leben der Kosovaren, das Emigration mangels Visafreiheit nicht zulässt: "Das Stück beginnt abrupt. Die Männer und Frauen kämpfen gegen unsichtbare Mauern, werden immer wieder von einer schwarz gekleideten Person zurückgezogen. Sie greifen sich an die Kehlen. Sie trösten einander im Paartanz, liefern sich einen Staffellauf, der mit Trommelwirbel unterlegt ist. Und sie winden sich am Boden, als hätten sie Schmerzen. Sie tanzen nicht nur für die 300 Besucher, sondern stellvertretend für ganz Kosovo."

Weitere Artikel: Machtmissbrauch ist keine künstlerische Notwendigkeit, um Schauspieler anzuspornen, meint Christina Tilmann in der NZZ. Christine Wahl hörte für den Tagesspiegel Chris Dercons Rede beim Ökumenischen Aschermittwoch der Künstler in der Berliner Gemäldegalerie.

Besprochen werden Karen Breeces "Oradour" im Münchner Theater HochX (nachtkritik), Fabian Alders Inszenierung von Kleists "Familie Schroffenstein" im Wiener Bronski & Grünberg Theater (nachtkritik), Dmitri Tcherniakovs Inszenierung von Wagners "Tristan und Isolde" an der Staatsoper Berlin (nmz), die Uraufführung von "Bergeins" des Kollektivs Freundliche Mitte im Wiener Werk X Eldorado (Standard), Duncan Macmillans "Menschen, Orte und Dinge" am Berliner Ensemble (Tagesspiegel) und Yael Ronens Stück "Gutmenschen" am Wiener Volkstheater (FAZ).
Archiv: Bühne