Efeu - Die Kulturrundschau

Eine anarchische Enzyklopädie

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16.02.2018. Zeit online kritisiert die stiefmütterliche Behandlung der klassischen Musik durch Streamingdienste. Die FAZ lässt sich von Jean-Michel Basquiat in unvorhergesehene Tiefen führen. Die nachtkritik wird in den Münchner Kammerspielen angebaggert. Die SZ befindet kühl: Tabubruch im Kino ist passé. Das Zeit-Magazin sieht pink auf der New York Fashion Week.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.02.2018 finden Sie hier

Kunst

Vom reinen "männlichen Blick" kann bei den Altmeistern keine Rede sein, stellt Kia Vahland in der SZ mit Blick auf die auch vor Museen nicht halt machende #MeToo-Debatte fest: "Männer wie Tizian, Caravaggio, Donatello und andere waren viel zu unabhängige Geister, um sich den Wünschen und Lebenslügen ihrer Zeitgenossen zu beugen. Die Suche nach dem Allgemeinmenschlichen führte sie zu den schwächeren Mitgliedern ihrer Gesellschaften, und das waren die Frauen und Kinder. Die Künstler sympathisieren oftmals, verbünden sich mit ihren Modellen: nicht zugunsten, sondern gegen den gut situierten männlichen Betrachter, den es herauszufordern und zu überführen gilt."


Jean-Michel Basquiat at Area, New York, 1984, Courtesy Jennifer Goode


In der Frankfurter Schirn läuft seit heute die Jean-Michel-Basquiat-Ausstellung "Boom for Real". Die Bilder reißen FAZ-Kritikerin Rose-Maria Gropp "in Abgründe voller Symbole, Ziffern, Chiffren, Zitate. Eine anarchische Enzyklopädie voller vorsätzlich falscher Schreibung und Syntax, voller Neologismen. Diese Bilder sind regelrechte Mindmaps - Gedächtnislandkarten; ihre Verweise führen in unvorhergesehene Tiefen. Mit der polyperspektivischen Lebendigkeit dieser buchstäblichen Performances entzieht sich Basquiat, gleichsam antizipierend, der Einvernahme durch blutleere Netz-Existenzen."

Besprochen wird außerdem Heidi-Horten-Schau im Wiener Leopold-Museum (Presse, Standard).
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Film

In Berlin hat Wes Anderson mit seinem neuen Animationsfilm "Isle of Dogs" die Berlinale zum (weitgehenden) Vergnügen der Filmkritiker eröffnet. Alles dazu und weitere Artikel zum Festival finden Sie im Pressespiegel in unserem Berlinale-Blog.

Weder für Michael Hanekes unglückliche "Hexenjagd"-Rhetorik im Kurier-Interview, noch für die Bestrebungen mancher Aktivisten, die Entfernung Matt Damons aus "Ocean's 8" zu fordern, weil dieser in einem Interview auf den Unterschied zwischen sexueller Belästigung und Vergewaltigung hingewiesen hat, hat SZ-Kritikerin Susan Vahabzadeh Verständnis. Ist doch gar nicht nötig, findet sie: "Das Kino hat sich längst verändert. ... Vielleicht ist es einfach so, dass junge Zuschauer zum Tabubruch ein ganz anderes Verhältnis haben als die Generationen zuvor." Und "wenn heute jemand einen Film macht, dessen weibliche Figuren oder Handlung weiblichen, manchmal auch männlichen Zuschauern nicht passt, wird er damit leben müssen, dass diese Zuschauer auf den Erwerb einer Kinokarte für seine Filme verzichten. Das ist keine Zensur, kein Kulturkampf. Da regelt der Markt, was der Zeitgeist verlangt."

Außerdem: Im Filmdienst würdigt Franz Everschor Christopher Plummer, der in Ridley Scotts (in der Welt besprochenen) "Alles Geld der Welt" Kevin Spaceys Part übernommen hat, nachdem dieser wegen Vorwürfe sexuellen Missbrauchs kurzerhand aus dem bereits abgedrehten Film geschnitten wurde.

Besprochen werden die Netflix-Serie "The End of the f**cking World" (FR), die arte-Serie "Occupied" (FR), Ryan Cooglers Superheldenfilm "Black Panther" (FAZ) und "Romans d'adultes", der in Zürich gezeigte, neue Teil der Langzeit-Dokumentarfilmserie "Romans d'ados" (NZZ).
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Design

Für das ZeitMagazin hat Carmen Böker die New York Fashion Week besucht, wo es "viel Pink zu sehen und auch sehr viel zarteres Rosa" zu sehen gab, jedoch nicht im Sinn vom "Barbiepuppenniedlichkeit", sondern als Protest gegen Trumps Chauvinismus, mithin als "als Powerfarbe für schlicht geschnittene Anzüge und gerade, fließende Kleider ohne Schnickschnack. Bei Alexander Wang wurde aus dem Pink eine militärisch strenge Abwandlung der klassischen Chanel-Jacke, Jeremy Scott kombinierte kühles Rosé mit Bondage-Elementen, indem er etwa wollig warme Oberteile mit schwarzen Sicherheitsgurten besetzte."
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Literatur

In der SZ gratuliert die Schriftstellerin Olga Martynova der Lektorin und Schriftstellerin Elke Erb zum Achtzigsten: Für Martynova "ist die Geschichte der Freundschaft mit Elke Erb auch meine persönliche Geschichte der deutschen Sprache. Einmal sagte sie beiläufig, als wir am Rande eines Feldes gingen und Acker-Winden sahen, dass diese kleinen Blumen im Rheinland Marien-Becherchen hießen. Der Kopf eines Dichters bewahrt solche Schätze auf. Ich habe es in keinem Nachschlagwerk finden können."

Außerdem: Katja Oskamp schreibt im Freitext-Blog auf ZeitOnline über ein Marzahner Urgestein. Für das Logbuch Suhrkamp spaziert Enis Maci durch London.

Besprochen werden Thomas Stangls "Fremde Verwandtschaften" (NZZ), Claire Keegans Erzählungsband "Liebe im hohen Gras" (NZZ), Christoph Nix' Krimi "Muzungu" (FR), Gustave Flauberts "Bouvard und Pécuchet. Der Werkkomplex" (taz), Florjan Lipušs Erzählung "Seelenruhig" (FR) und Navid Kermanis Reportagenband "Entlang den Gräben" (SZ).
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Musik

Gabriel Yoran ärgert sich auf ZeitOnline darüber, wie stiefmütterlich Streamingdienste wie Spotify klassische Musik behandeln: Die auf Pop-Credits zugeschnittenen Datenformate des Anbieters eignen sich einfach nicht für die komplexen Informationen klassischer Musik und deren Aufnahmen: "Das System weiß schlicht nicht, dass Konzerte aus mehreren Sätzen bestehen. ... Sucht man bei Spotify nach dem Komponisten Gustav Mahler, ist das Ergebnis eine zusammenhanglose Liste von 'Songs'. Mahler hat durchaus Songs geschrieben, aber laut Spotify sind auch ganze Sätze Songs. Zudem ist das erste Suchergebnis der 4. Satz der Fünften Sinfonie. Vermutlich, weil dieser langsame Satz als Filmmusik eine zweite Karriere gemacht hat. Dass mit dieser wirren Präsentation der Satz aus dem Zusammenhang des sinfonischen Gesamtwerks gerissen wird, schert den Anbieter nicht." Dass es besser aufbereitete Alternativen zum Streamen klassischer Musik gibt, hat Barbara Volkwein kürzlich in der NMZ aufgezeigt - hier unser Resümee.

In der FR spricht Stefan Schickhaus mit Dirigent und Komponist Hans Zender über die Lage in der Neuen Musik: Komponisten würden heute "in einer nie dagewesenen Weise vernachlässigt werden, sodass für die Kontinuität unserer Musikkultur sich kaum eine Existenzmöglichkeit mehr entwickeln kann", sagt er.

Außerdem: Für die FAZ besucht Jan Brachmann die Kronberg Academy im Taunus, wo Hochbegabte an Streichinstrumenten ausgebildet werden. Für Pitchfork spricht Devon Maloney mit Courtney Barnett über deren neues Album und wie sie als Musikerin mit Sexismus im Internet umgeht. Im Video rechnet sie mit Internet-Trollen jedenfalls schon mal ziemlich ab:



Besprochen werden der von Kendrick Lamar kompilierte Soundtrack zum Superheldenfilm "Black Panther" (Berliner Zeitung), Rhyes neues Album "Blood" (taz), ein Konzert des Pianisten Martin Helmchen (Tagesspiegel) und neue Pop-Veröffentlichungen, darunter das neue Album von Darbrye (ZeitOnline). Daraus ein Video:

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Bühne

An die zwei reicht heute bühnenmäßig nichts heran: Aljona Savchenkos und Bruno Massots sensationelle, mit olympischem Gold ausgezeichnete Kür im Eiskunstlauf:



nachtkritiker Philipp Bovermann fremdelt leicht mit der "Perfect Romance", die ihm The Agency und Leif Randt an den Münchner Kammerspielen anbieten. Die Performer flanieren unter den im Raum stehenden Zuschauern "und ziehen sich paarweise mit ihnen unter Stoffglocken zurück, die aussehen wie blickdichte Moskitonetze. Dort erzählen sie, dass sie jetzt mal kurz 'off script' gehen, ganz im Vertrauen: 'Du bist mir aufgefallen' oder 'Das alles hier ist doch nichts für jemanden wie dich'. Eine Performerin nimmt einen mit aufs Dach der Kammerspiele. Sie bietet eine Zigarette an, zwinkert verschwörerisch. 'Da drüben in dem Hotel ist ein Swimming Pool. Sollen wir uns später zusammen reinschleichen?' ... Mit echter Feindseligkeit kann man umgehen, nicht aber mit geheuchelter Zuneigung oder gar Liebe. Die festangestellten 'Lover' machen einen wehrlos."

Besprochen werden außerdem die Performance-Installation "Bergeins" des Kollektivs Freundliche Mitte im Wiener Brut (nachtkritik), Yael Ronens "Gutmenschen" in Wien (NZZ) und Bernadette Sonnenbichlers Inszenierung von Duncan Macmillans Stück "Menschen, Orte und Dinge" im Berliner Ensemble (Berliner Zeitung).
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