Efeu - Die Kulturrundschau

Eine Watte von Verständnis

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07.02.2018. Die Manchester Art Gallery rudert zurück: Das Abhängen der Nymphen war zwar ganz richtig, aber nur eine Kunstaktion. In Deadline reagiert Quentin Tarantino zerknirscht auf Uma Thurmans Berichte von den Dreharbeiten zu "Kill Bill". Als Gesamtkunstwerk aus Klängen, Bildern und Bewegungen feiert die NZZ Marina Abramovics und Sidi Larbi Cherkaouis Inszenierung von Debussys "Pelléas et Mélisande" in Antwerpen. In der NZZ erzählt Thomas Hürlimann außerdem von seiner Jugend im Kloster. Und die taz wirft mit Frank-Burkhard Habel einen Blick auf die Kinoproduktion der DDR.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.02.2018 finden Sie hier

Bühne


Szene aus Marina Abramovićs und Sidi Larbi Cherkaouis Inszenierung von Debussys "Pelléas et Mélisande". Foto: © Rahi Rezvani

"Das muss man erlebt haben", jubelt Eleonore Büning in der NZZ, nachdem sie in die von Marina Abramovic und Sidi Larbi Cherkaoui prächtige Inszenierung von Debussys "Pelléas et Mélisande" in der Flämischen Oper eingetaucht ist. Ein überragendes Gesamtkunstwerk aus einem Schwall an Worten, Klängen, Bildern und Bewegungen: "Cherkaouis famose, katzenhaft-kraftvolle Tänzer helfen mit, die Haare zu Schnüren zu verlängern. Die Schnüre reichen über die ganze Bühne, kreuzen sich und formen ein Pentagramm oder ein Spinnennetz, eine Lichtersternenstraße im All oder ein Gewirk, das mit einem Mal Notenlinien ähnelt, dreifach gerastert, nein vierfach, wie in den mittelalterlichen Anfängen der Notation, dergestalt, dass sich die Liegetöne der Liebenden daran entlanghangeln."

Als Ereignis feiert Gerald Felber in der FAZ, wie Christian Thielemann Wagners "Ring" in der Dresdner Semperoper dirigiert. Zum vierten Mal nach Wien, Bayreuth und Berlin: "Die enorme Farbpalette ist geblieben und noch reicher geworden, aber inzwischen klingt sie anders: weicher, fließender und auch melancholisch-verletzbarer, weniger viril verpanzert."

Weiteres: Cornelia Fiedler ist in der SZ so begeistert vom Düsseldorfer "Theaters to go", dass sie mobile Inszenierungen glatt zur Pflicht für alle machen möchte - um über die Hemmschwellen zu helfen. Besprochen wird Achim Freyers Lesart von Händels Oratorium "Jephtha" am Staatstheater Wiesbaden (FR).
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Design


Empress of Britain colour lithograph poster for Canadian Pacific Railways, J.R. Tooby, 1920 - 31. Museum no. E.2215-1931. © Victoria and Albert Museum, London

SZ
-Korrespondent Alexander Menden schwelgt im Luxus der Ozeanriesen, an deren Geschichte die Ausstellung "Ocean Liners"  im Victoria and Albert Museum erinnert.  Zum Fin de siècle, erzählt Menden, wetteiferten Briten, Franzosen und Deutsche um Schnelligkeit und Extravaganz: "Einer der faszinierendsten Aspekte der Genese der Luxus-Liner-Ästhetik ist das Maß, in dem ihre Form die Architektur beeinflusste. Architekten entdeckten die Funktionalität der Formen von Schornstein, Bug und Stromlinienform. Von den Zwanzigerjahren an begannen jene Luxushotels, von denen die Interieurs der ersten Schnelldampfer sich so viel abgeschaut hatten, ihrerseits, deren Linien in ihre Konstruktion zu übernehmen. Der rigoroseste Theoretiker der architektonischen Moderne, Le Corbusier, sah im Kreuzfahrtschiff weniger ein Transportmittel als 'eine wichtige Manifestation von Kühnheit, Disziplin und Harmonie, eine Schönheit, die ruhig, kraftvoll und stark ist'."
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Kunst

In der Manchster Art Gallery wurden John Waterhouse' "Nymphen" wieder aufgehängt. Im Guardian rechtfertigt die Künstlerin Sonia Boyce das Abhängen als Kunstaktion. Es sollten mehr Leute mitreden in der Frage, was in Museen gezeigt werde, meint sie: "Jeder weiß, dass der Großteil der Kunstwerke, die zu öffentlichen Sammlungen gehören, nicht gezeigt werden, sondern in Lagern untergebracht sind. Räumliche Zwänge sind ein Grund, aber kuratorische Entscheidungen spielen auch eine Rolle. Würden wir diese Auswahl Zensur nennen?" Überhaupt findet sie den Begriff bigott: "Von Zensur oder Verbannung zu reden, polarisiert die Diskussion. Begriffe wie 'Publicity Stunt', 'albern' und 'politisch korrekt' verdecken die Komplexität. Das klingt ein bisschen wie ein alter Witz: Die unschuldige und beruhigend gewohnte Vergangenheit (historische Gemälde) in Stellung gebracht gegen des Kaisers neue nichtssagende Kleider (zeitgenössische Kunst) , die zugleich auch dargestellt werden als prüdes feministisches Moralisieren."

Weiteres: In ihrer Besprechung der bereits sehr gelobten Ausstellung "Tiere" im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe meldet Tagesspiegel-Kritikerin Nicola Kuhn auch, dass die Direktorin Sabine Schulze aus dem Amt scheidet. Ziemlich müde sehen mittlerweile die Bilder vom Auto aus, wie Elmar Krekeler in der Ausstellung "Drive Drove Driven" in der Kommunalen Galerie in Berlin erkennen musste: "Die Zukunft des Autos ist tot. Der Motor ist längst kalt. Die Bilder starben ihm voraus." Weitere Nachrufe zum großen Fotografen Stefan Moses gibt es heute in Tagesspiegel, FR und FAZ.
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Musik

Mit seinem Programm experimenteller elektronischer Musik bot das Berliner Festival Club Transmediale in diesem Jahr wieder "Möglichkeiten auf, Widerstand zu leisten", schreibt Philipp Rhensius in seinem taz-Resümee, und zwar Widerstand "gegen die dominanten Aufmerksamkeitsökonomien in sozialen Medien und gegen die routinierte Wahrnehmung unserer dressierten Körper. ... Statt also - wie so oft in der Mainstreammusik - gesagt zu bekommen, wie wir uns fühlen sollen, verwies die Musik des Festivals weder auf eine klare Idee oder einen bestimmten Musikstil noch auf eine Entsprechung in der Natur. Man musste sie sich neu erschließen. Diese kreative Musikrezeption eröffnet Räume des Neuen, des noch Undefinierten jenseits unserer Denkroutinen."

Einen neu eröffneten Raum könnten auch viele Musiker gebrauchen, nachdem Facebook einen Großteil der Öffentlichkeit absorbiert hat und die Bedingungen diktiert, wer zu wie vielen Leuten durchdringt: Aus diesem Anlass hat sich Mollie Zhang für The Quietus mit diversen Künstlern unterhalten, die allesamt unterschiedliche Strategien im Umgang mit Facebook entwickelt haben. Auch das Online-Musikmagazin selbst "hat seine Probleme mit der Plattform - die Werbeeinnahmen wurden dezimiert, seit Firmen ihre Werbekampagnen auf Facebook konzentrieren und dies wiederum bedroht die Website. ... Zugleich favorisieren Facebooks Algorithmen lieber Inhalte, die möglichst viral gestaltet sind, als qualitativ guten redaktionellen Inhalt."

Weitere Artikel: Für den Standard plaudert Christian Schachinger mit Patrick Wagner, ehemals Surrogat-Sänger, über dessen neue Noise-Rock-Band Gewalt. Der Standard meldet, dass eine Initiative des italienischen Kulturministeriums in Kooperation mit Spotify rund 200.000 italienische Lieder aus dem 20. Jahrhundert online zugänglich gemacht hat. Im "Unknown Pleasures"-Blog des Standard erinnert Karl Fluch an die in den Neunzigern am Markt gescheiterte Hip-Hop-Gruppe New Kingdom, deren schleppende und verdrogte Musik sie als "die Melvins des Hip-Hop" qualifiziert. Klaus Kastberger schreibt auf ZeitOnline zum 20. Todestag von Falco. In der SZ-Popkolumne empfiehlt Max Fellmann unter anderem den Youtube-Kanal von Jam in the Van, in dem Musiker in einem mobilen Studio aufgenommen werden. Vor allem den Auftritt der Jazz-Folk-Sängerin Inara George legt er uns wärmstens ans Herz:



Besprochen werden Simon Reynolds' Buch über Glam-Rock (FR), Sophie Fiennes' Porträtfilm über Grace Jones (NZZ), das Kilchhofer-Album "The Book Room" (Pitchfork), Kerry Leimers Album "Mitteltöner" (Pitchfork), eine Zusammenstellung der frühen Tape-Arbeiten von Kuniyuki Takahasi (Pitchfork), Neuschnees Album "Okay" (taz), ein Konzert des Belcea-Quartetts (NZZ), ein Abend mit dem Vision String Quartet (Tagesspiegel), und das neue Album von Franz Ferdinand (Spex). Außerdem stellt Christoph Benkeser auf Skug "Kassettenmusik abseits des Mainstreams" vor.
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Literatur

Schriftsteller Thomas Hürlimann erzählt Peer Teuwsen von der NZZ, wie er als rebellierender Jugendlicher im Kloster einen Atheisten-Club ins Leben rief, während der Messe Nietzsche las und gelegentlich auch die morgendliche Weckzeremonie manipulierte: "Wir baten ihn, mal was anderes zu spielen, und gaben ihm eine Plattenhülle von Mozart, worin aber die Rolling Stones steckten. So erklang in den Schlafsälen um sechs Uhr früh 'I can't get no satisfaction'. Das war ein erstes Sturmsignal. Heute denke ich an diese Zeit mit Nostalgie zurück. Wir hatten eine harte Wand, gegen die wir anrennen konnten. Die Jugend von heute hat es schwerer, sie stößt auf eine Watte von Verständnis."

Weitere Artikel: In der Berliner Zeitung meldet Ulrich Seidler, dass die Berliner Akademie der Künste sich mit Eugen Gomringer solidarisiert, nachdem dessen Gedicht "avenidas" von der Fassade der Alice-Salomon-Hochschule abgenommen werden soll: Dort wurde Gomringers Ideogramm "schweigen" an die Wand angebracht. Manuela Kalbermatten wirft für die NZZ einen Blick darauf, welches Verhältnis zu Tieren jüngere Kinder- und Jugendbücher unterhalten. In der SZ gratuliert Hans-Peter Kunisch dem Literaturforum im Berliner Brecht-Haus zum 40-jährigen Bestehen.

Besprochen werden Karl Friedrich Borées "Frühling 45. Chronik einer Berliner Familie" (Tagesspiegel), Tom Hanks' literarisches Debüt "Schräge Typen" (SZ) und Roberto Savianos "Der Clan der Kinder" (FAZ).
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Film



In einem großen Interview in Deadline reagiert Quentin Tarantino auf Uma Thurmans Enthüllungen, dass er sie bei den Dreharbeiten zu "Kill Bill" zu einem unsicheren Stunt überredet hat, der in einem Unfall endete - allerdings ohne böse Absichten, wie die Schauspielerin selbst in einem Instagram-Posting nochmal nachträglich versichert und dabei auch darauf zu sprechen kommt, dass Tarantino im Vorfeld dieser Enthüllung voll kooperierte: "Er tat es im vollen Wissen, dass es ihm schaden könnte. Ich bin stolz auf ihn und seinen Mut, das Richtige zu tun." Im Deadline-Gespräch beteuert Tarantino, Thurman zu dem Stunt keineswegs in einem Wutanfall gezwungen zu haben und die Straße selber zuvor abgefahren zu haben, ohne dabei ein Risiko bemerkt zu haben. "Doch am Set stand dann eine Frage im Raum. Wäre es in Ordnung, wenn wir das Auto in die andere Richtung fahren lassen? Dann wäre das Licht günstiger, da wir am späten Nachmittag drehten. Ich fragte nur, aber wäre es möglich von Ost nach West zu fahren? Würden wir das hinbekommen? ... Ich dachte, eine gerade Straße ist eine gerade Straße und bin nicht darauf gekommen nicht, dass ich die Straße nochmal abfahren müsste, um sicher zu sein, dass es da keine Unterschiede in der anderen Richtung gab. Einer der größten Fehler meines Lebens. Als Regisseur lernt man ständig hinzu und manchmal lernt man aus schrecklichen Fehlern."

Für die taz spricht Gunnar Leue mit Frank-Burkhard Habel über die DEFA, dessen Lexikon über die Kinoproduktion der DDR gerade aufwändig wiederveröffentlicht wurde. Unter anderem weist er auf die Kuriosität hin, "dass heute in den USA fast sämtliche Defa-Filme auf DVD, englisch untertitelt, erhältlich sind. Durch die Defa Film Library ist ein Interesse geweckt worden, das dazu führte, dass es inzwischen auch einen kalifornischen Filmwissenschaftler - Jim Morton - gibt, der in seinem Defa-Blog monatlich einen Film bespricht und mit der amerikanischen und internationalen Filmkunst in Verbindung setzt. Dabei macht er manchmal Entdeckungen, über die wir hinweggegangen sind."

Weitere Artikel: Frank Junghänel (Berliner Zeitung) und Andreas Busche (Tagesspiegel) berichten von der Berlinale-Pressekonferenz, bei der Dieter Kosslick das diesjährige Festivalprogramm offiziell bekanntgegeben hat. Elisabeth Binder gibt im Tagesspiegel leckere Tipps aus dem Programm der Berlinale-Sektion "Kulinarisches Kino".

Besprochen werden Lav Diaz' "The Woman Who Left" (Tagesspiegel, unsere Kritik hier), Taylor Sheridans Thriller "Wind River" (ZeitOnline, FAZ) und Rose McGowans Buch "Brave", in dem Schauspielerin Machtmissbrauch in Hollywood anprangert (Guardian).
Archiv: Film