Efeu - Die Kulturrundschau

Ich bin groß

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05.02.2018. In Düsseldorf hatte Matthias Hartmanns Version von David Bowies Musical "Lazarus" Premiere, doch alle sprechen nur über das abstoßende Gebaren des Regisseurs, das die SchauspielerInnen des Burgtheaters in ihrem Offenen Brief angeprangert hatten. Sogar die FAZ fordert jetzt ein Ende der männlichen Macht an den Theatern. In der NY Times erzählt Uma Thurman, wie Quentin Tarantino ihr beinahe das Genick gebrochen hätte.  Der Tagesspiegel beginnt schon die Kulturrevolution zu fürchten. Die Jungle World stellt klar, dass Mode niemals identisch ist. Die NZZ fragt: Bin ich blöd, wenn ich mich im Museum langweile?
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.02.2018 finden Sie hier

Bühne


David Bowies "Lazarus"-Musical am Düsseldorfer Schauspielhaus. Foto: Lucie Jansch

In Düsseldorf wurde Matthias Hartmanns deutsche Version von David Bowies Musical "Lazarus" aufgeführt. Über die Aufführung legte sich aber die Debatte, die etliche SchauspielerInnen des Wiener Burgtheaters mit ihrem Offenen Brief am Samstag losgetreten haben. Darin warfen sie dem Regisseur und Intendanten vor, mit rassistischen, sexistischen und homophoben Sprüchen ein Klima der Angst geschaffen zu haben. In der SZ notiert Jan Kedves, dass Hartmann mit einer Mischung aus Entschuldigung und Trotz auf die Vorwürfe reagierte und zitiert ihn mit den Worten: "Ich bin groß, durchsetzungsstark und ungeduldig."

In der gestrigen FAS betonte Strauß, dass Hartmann nur ein asozialer Führungsstil vorgeworfen wird, keine Straftaten. Aber: "Nicht unwahrscheinlich ist, dass bald auch Fälle von sexuellen Belästigungen im Theaterbetrieb aufgedeckt werden. Bei der Namensnennung von fünfzehn Regisseuren hebe sich bei Branchenkennern 'keine Augenbraue' mehr, deutete die Schauspielerin Pauline Knof unlängst in einem Interview mit dem Tagesspiegel an. Bei ihnen wisse angeblich jeder, was Sache ist beziehungsweise wie sie zur Sache gehen. Was folgt aus solchen besorgniserregenden Andeutungen und Klimaberichten?" Heute fordert er, es nicht bei schlüpfrigen Details zu belassen, sondern konkrete Reformen: "Worüber man strukturell debattieren könnte, das ist einerseits eine Quote für Frauen in künstlerischen Führungspositionen, um die für sexuellen Missbrauch offenbar anfällige männliche Macht an Theatern einzuschränken, andererseits die Frage, ob Intendanten wirklich unbedingt auch an ihren eigenen Häusern Regie führen müssen."

Im Standard bringt Stefan Weiß ein Update zu der Debatte um Hartmann in Österreich: Die UnterzeichnerInnen weisen den Vorwurf zurück, ihr Brief sei gesteuert worden, um Hartmann im Rechtsstreit mit dem Burgtheater zu schaden, das ihn wegen der Misswirtschaft am Haus abgesetzt hatte. In der taz schreibt Uwe Mattheis zu Causa.

Hartmanns Aufführung selbst beschreiben die Kritiker als "unterhaltsame Nummerrevue" (FAZ), die mitunter auch "etwas von der androgynen Dekadenz des Glamrock" aufleben ließ (SZ). Im Standard nennt Stefan Keim sie eine "kühle Kunstinstallation", deren ökonomischer Erfolg gesichert ist, in der Nachtkritik bemerkt Sascha Westphal eine gewisse "Überdeutlichkeit".

Im Tagesspiegel geht Rüdiger Schaper die #MeToo-Debatte bereits zu weit, wenn Woody-Allen-Stücke abgesetzt werden, Eugen Gomringers Gedicht überpinselt und Nymphen-Bilder aus den Museen verschwinden: "Die Rolle der Kunst steht in Revolutionen immer zur Debatte, die Kunst ist in Gefahr, das ist eine historische Tatsache. Das abschreckendste Beispiel gibt die maoistische Kulturevolution." Und in der Welt meint auch Manuel Brug: "Bitte nicht diese Überreaktionen! Nicht in der Kunst und vor allem nicht im prüden, gleichzeitig pornosüchtigen Amerika."

Besprochen wird Debussys Oper "Pelléas und Mélisande" als Choreografie von Sidi Larbi Cherkaoui und Damien Jalet in Antwerpen (FAZ).
Archiv: Bühne

Film

Als die Geschichte um Harvey Weinstein vor wenigen Monaten zum ersten Mal hochkochte, hielt sich Uma Thurman bedeckt und ließ die Öffentlichkeit wissen, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt Stellung beziehen werde. Jetzt bricht sie in der New York Times gegenüber Maureen Dowd ihr Schweigen und berichtet nicht nur von Weinsteins sexuellen Übergriffen, sondern auch davon, wie Quentin Tarantino sie bei den Dreharbeiten zu seinen von Weinstein produzierten "Kill Bill"-Filmen zu einer unsicheren Autoszene überredete, die prompt in einen Unfall mündete - das dabei entstandene Material ist bei der Times online einsehbar: "Jetzt, viele Jahre nach dem Unfall, inspiriert davon, dass die Gewalt gegen Frauen zur Kenntnis genommen wird, nachdem sie ihre eigene 'Entmenschlichung, die bis an die Grenze zum Tod reichte' nochmals durchlebt hat und wütend darüber ist, dass die rechtlichen Nachwirkungen für Weinstein bislang überschaubar bleiben, hat sie die Ergebnisse ihrer eigenen Nachforschung der Polizei übergeben und den Druck auf Tarantino erhöht, die Aufnahmen des Unfalls endlich herauszurücken. 'Nach 15 Jahren hat Quentin endlich nachgegeben, richtig?', sagt sie. 'Nicht, dass das jetzt noch eine Rolle spielt, da mein Genick permanent beschädigt ist und meine Knie zerstört."

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel würdigt Claudia Lenssen die Regisseurin Ula Stöckl, der das Berliner Kino Arsenal zum 80. Geburtstag eine Retrospektive widmet. Die Kritikerinnen und Kritiker des Freitag geben daraus handverlesene Tipps. In der SZ gratuliert Martina Knoben dem Dokumentarfilmemacher Errol Morris zum 70. Geburtstag.

Michael Hanfeld (FAZ), Ralf Wiegang (SZ), Harry Nutt (FR) und Barbara Möller (Welt) schreiben Nachrufe auf den Schauspieler Rolf Zacher. Eine hinreißend schöne Grimassen-Szene mit ihm und Sylvie Winter gibt es in Klaus Lemkes rarem "Liebe so schön wie Liebe" aus den frühen Siebzigern, den der Regisseur laut SMS-Pressemitteilung noch diese Woche als Hommage an Zacher in voller Länge bei Youtube einstellen will:



Besprochen werden Volker Schlöndorffs ZDF-Krimi "Der namenlose Tag" nach dem gleichnamigen Roman von Friedrich Ani (taz), Lav Diaz' "The Woman Who Left" (Zeit, unsere Kritik hier), James Francos "The Disaster Artist" über die Dreharbeiten zu Tommy Wiseaus "The Room" (online nachgereicht von der FAZ, taz), Christian Tods politischer Dokumentarfilm "Free Lunch Society" über das Grundeinkommen (Freitag) und Nicolas Cage' auf DVD veröffentlichter Action-B-Film "Tödliches Verlangen" (SZ).
Archiv: Film

Design

In einem gedrechselten Essay für die Jungle World wendet sich Philipp Ekardt gegen die Essenzialisierung von Mode und der damit einhergehenden Überfrachtung des Textil-Spiels mit Identitätsmarkierungen: "Mode ist eine Agentur, die in der individuellen und kollektiven Entwicklung, Modifikation und Verteilung, auch der Revision von Formen eben genau das artikuliert: Differenz. Wer aber aus diesen Differenzen wiederum die Konstruktion eines 'Eigenen' ableitet, liegt schlicht falsch: Jede und jeder, die oder der Mode beobachtet und ein Bewusstsein für sie entwickelt, weiß, dass sich ihre Zeichen, immer zeitabhängig, mal stärker, mal diskreter lesbar, mal offen, mal abgrenzend, immer im Feld und im Nebeneinander mit allen anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern entfalten. Mode kommuniziert und verweigert, Mode erscheint und verschwindet. Sie ist Bindungs- und Trennungskunst. Identisch ist sie nicht."
Archiv: Design
Stichwörter: Identität, Mode

Kunst

"Bin ich blöd, wenn ich mich im Museum langweile?" In einem online nachgereichten Artikel aus der NZZ vom Samstag umreißt Christian Saehrendt all die Scham, die Peinlichkeiten und die heiklen Situationen, die mit dem Sprechen über Kunst oft verbunden ist: "Mithilfe des 'richtigen' Kunstgeschmacks können wir uns an unser Wunschmilieu annähern. Zugleich können sich etablierte Kreise mithilfe eines bestimmten Kunstgeschmacks aber auch abgrenzen, Kunst dient ihnen wiederum als Distinktionsinstrument. Dabei sorgt die Angst, die feinen kulturellen Codes doch nicht zu beherrschen, für die nötige Spannung. Besonders gefährlich ist dabei ein sentimentaler, oberflächlicher oder altmodischer Kunstgeschmack."

Weiteres: Daniel Hornuff gibt zu bedenken, dass der Kurator für das Publikum vielleicht gar nicht mehr die Rolle spielt, die ihm das Feuilleton noch zuweist. Jens-Christian Rabe besucht für die SZ die Transmediale und stellt zum Happening der digitalen Kunst in Berlin fest: "Die Konferenz ist kein kleines Avantgarde-Treffen mehr, sondern das große, sehr internationale Klassentreffen der institutionalisierten linken Gegenkultur (gesprochen wird ausschließlich Englisch).

Besprochen werden die Winckelmann-Ausstellung "Il Tesoro di Antichità" in den Kapitolinischen Museen in Rom (SZ) und eine Ausstellung über italienische Textilproduktion und Malerei im vierzehnten Jahrhundert in der Galleria dell'Accademia in Florenz (FAZ).
Archiv: Kunst

Literatur

Verleger Antoine Gallimard hat infolge lauter Proteste sein Vorhaben zurückgezogen, die antisemitischen Pamphlete des französischen Schriftstellers Louis Ferdinand Céline zu veröffentlichen, "das Feingefühl gegenüber seiner Zeit habe es so verlangt". In der NZZ bedauert Claudia Mäder diesen Entschluss und hätte sich die Möglichkeit öffentlicher Auseinandersetzung gewünscht: "Ein aufgeklärter Umgang mit unliebsamen Dingen besteht darin, ihnen ins Auge zu blicken. Im konkreten Fall von Céline bedeutet das: die widerwärtigen Ideen als integralen Teil der französischen Vergangenheit zu sehen, sie als Kapitel im nationalen Geschichtsbuch festzuhalten und dieses öffentlich aufzulegen. Dies in einer Buchhandlung zu tun, bedeutet zudem: anerkennen, dass ein künstlerisches Werk wie sein Schöpfer aus verschiedenen Teilen besteht, von denen man nicht nach Belieben ignorieren kann, was einen stört."

In einem Artikel zu diesem Thema zitiert Enno Stahl in der Jungle World Marc Weitzmann, Mitarbeiter von Le Monde, der daran erinnert, dass die Zensur nicht von Frankreich, sondern zunächst von Céline selbst ausgehe. Und nebenbei fragt er sich, warum Gallimard jetzt die Wiederauflage der Ausgabe des kanadischen Verlags Éditions Huit, der "Sympahien für die extreme Rechte" hege, als Lösung des Problems sieht.

Weitere Artikel: In der Berliner Zeitung denkt der Schriftsteller Jakob Hein in Form einer Science-Fiction-Kurzgeschichte darüber nach, wie das wäre, wenn die Berliner Mauer noch stünde. in Großbritannien kursiert ein Schreiben, das dafür plädiert, den Booker Prize für amerikanische Literatur wieder zu schließen, nachdem in den letzten Jahren kaum noch britische Autoren damit ausgezeichnet wurden, berichtet Wieland Freund in der Welt. Willi Winkler liest in einem von Jan Bürger in der letzten Winterausgabe der Zeitschrift für Ideengeschichte publiziertem Aufsatz, wie Siegfried Unseld in den 50ern erstmals zur Harvard Summer School nach Boston fuhr. Im Standard porträtiert Mia Eidlhuber die Schriftstellerin Nell Zink.

Besprochen werden unter anderem Julia Schochs "Schöne Seelen und Komplizen" (FR), Andreas Rossmanns Sizilien-Tagebuch "Mit dem Rücken zum Meer" (FR), Ina Hartwigs Buch über Ingeborg Bachmann (online nachgereicht von der FAZ), Wilhelm Genazinos "Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze" (SZ), Tilman Röhrigs neu aufgelegter Roman "In 300 Jahren vielleicht" (Tagesspiegel) und neue Krimis, darunter Kazuaki Takanos "13 Stufen" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Uwe Wittstock über Durs Grünbeins "Decolleté":

"Manchmal genügt ein Schlüsselbein,
Der Sturz in ein Augenpaar -
..."
Archiv: Literatur

Musik

Das auf elektronische Avantgarde spezialisierte Berliner Festival Club Transmediale ist auch spürbar ins Alter gekommen, seufzt Johannes von Weizsäcker in der Berliner Zeitung sanft enttäuscht. Die dort gepflegte Klangästhetik schlage sich selbst seit geraumer Zeit mit Ähnlichkeit: "Jedenfalls schallt mir seit 15 Jahren (...) fast immer ein sehr vertrautes Wabern und Rauschen entgegen, das gerne mal von ach-so-harschem digitalen Bollern, Sägen oder Fiep-Klicken unterbrochen wird. Schön ist das allemal, aber vielleicht nicht ganz so futuristisch wie oft behauptet."

Karl Fluch erinnert im Standard daran, wie Wolfgang Ambros vor 40 Jahren mit seinem Stück "Da Hofa" den Austropop mit aus der Taufe hob, und eröffnet damit zugleich eine neue Textreihe über Popmusik aus Österreich. Diese war bis dahin "eine im besten Fall verhaltensoriginelle Fortsetzung des Allerweltsschlagers." Mit seinen "tristen Bildern" aus dem "kleinbürgerlichen Österreich" formuliere Ambros demgegenüber "eine Art Proletenpoesie, die in ihren besten Momenten eine Sensibilität aufwies, die der wienerischen Ruppigkeit subversiv zuwiderlief und sie gleichzeitig beförderte. Das gebar eine heitere Morbidität."



Für die NZZ plaudert Nadine Wenzlick mit Gene Simmons von Kiss, der sich und seiner Band mit einer umfangreichen limitierten Box selbst ein Denkmal stiftet: Wer zudem 50.000 Dollar oben drauf legt, bekommt die Box von Simmons, für seinen Geschäftssinn berüchtigt, eigenhändig nach Hause geliefert: "Sicher ist das nicht billig.... Ein Rolls-Royce aber hat schließlich auch seinen Preis."

Zu Falcos 20. Todestag geißelt Christian Schachinger im Standard die Verwertungsindustrie, die sich in Österreich seitdem um den Popstar gebildet hat, und hält auch Falco selbst von Kritik nicht frei: Schließlich sei dessen "künstlerisch interessante Zeit (...) schon 1984 vorbei" gewesen, es folgten lediglich "Aufguss um Aufguss und kleiner Flop auf größeren Flop."

Weitere Artikel: Für Pitchfork plaudert Jazz Monore mit dem Nachwuchs-Rapper Octavian. Jonathan Fischer porträtiert in der SZ den äthiopisch-jüdischen Popstar Gili Yalo, der sich in Israel mit politischem Ethnojazz für die Belange afrikanischer Migranten einsetzt. Christian Schröder (Tagesspiegel) und Michael Hanfeld (FAZ) gratulieren Alice Cooper zum 70. Geburtstag. Die NZZ spendiert dazu eine Bilderstrecke. Coopers Power-Ballade "Poison" ist immer noch von erlesenem Schmalz:



Besprochen werden La Monte Youngs "The Well-Tuned Piano 81 X 25 6:17:50 - 11:18:59 PM NYC" (Pitchfork), ein Auftritt der Les Filles de Illighadad (FR), das neue Album "I Can Feel You Creep Into My Private Life" der Tune-Yards (FR) und ein Konzert der Geigerin Hilary Hahn (NZZ).

In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Oliver Jungen über "Meat is Murder" von den Smiths:

Archiv: Musik