Efeu - Die Kulturrundschau

Mehr künstlerische Freiheit

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30.01.2018. Die NYRB lernt vom Fotografen Stephen Shore die Momente zu schätzen, die überhaupt nicht festhaltenswert sind. Dezeen stellt die interessantesten Architektinnen des vorigen Jahres vor. Die NZZ lernt in Angoulême, wie Mangas dem europäischen Comic neues Leben einhauchten.   Und in der FAZ erzählt Michael Haneke, warum er jetzt eine Serie dreht.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.01.2018 finden Sie hier

Kunst


Stephen Shore: Breakfast, Trail's End Restaurant, Kanab, Utah. 10. August 1973. Foto: Museum of Modern Art

Das New Yorker Museum of Modern Art widmet dem Fotografen Stephen Shore eine große Ausstellung. Gideon Jacobs, der die Schau für das Blog der New York Review of Books besucht hat, lernt von dem Fotografen, dass es nicht darauf ankommt, was wir sehen, sondern wie wir es sehen. Die alltäglichsten Dinge, wie ein Frühstück, sollen vor allem eins: natürlich aussehen. "Der Autor Lynne Tillman nannte das Shores Versuch einer 'gewollten Objektivität'. Der Fotograf Joel Sternfeld beschrieb es als Shores 'zenmäßig wache Unbewusstheit'. Shore sagt einfach, er wolle, dass seine Fotografien 'sich wie sehen anfühlen'."

Außerdem: Die taz meldet, dass sich die Zeichnerin, Comic-Autorin und Illustratorin Elisabeth Kmölniger mit siebzig Jahren das Leben genommen hat.

Besprochen werden die große Manet-Schau im Wuppertaler Van-der-Heydt-Museum (die Gottfried Knapp in der SZ als großes Ereignis feiert) und die Ausstellung "Imagining the Divine" im Ashmolean Museum in Oxford (FAZ).
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Stichwörter: Shore, Stephen, Wuppertal

Film

Das ist mal eine unerwartete Neuigkeit: Michael Haneke wird mit "Kelwins Buch" nun ausgerechnet für die UFA eine Serie als "Showrunner" produzieren: Pilotfilm samt Drehbuch stammen von ihm, für den Rest der Serie werde er den kreativen Überblick behalten. Was reizt den eher für spröde Filme und für seine Distanzgesten gegenüber den Hotspots der zeitgenössischen Kultur bekannten Autorenfilmer ausgerechnet an diesem Format? Stephan Löwenstein hat für die FAZ nachgefragt: "Filme haben immer eine begrenzte Dauer", sagt Haneke. "Die Idee, die ich da hatte, war eben länger. Dazu kommt, dass die immer teurer werdenden Blockbuster-Produktionen ihr intellektuelles Niveau ständig senken müssen, um die nötigen Zuschauerzahlen zu erreichen. So sind erst in Amerika die anspruchsvolleren Autoren und Regisseure zurück zum Fernsehen gekommen, wo sie mehr künstlerische Freiheit hatten. Das hat Erfolg gehabt, und heute ist die TV-Serien-Produktion weltweit ein echter Konkurrent des Kinos. Von dieser Wandlung profitiere ich jetzt." Weitere Hintergründe zur Serie in Michael Hanfelds Online-Zusammenfassung des Gesprächs.

Außerdem: Kaspar Heinrich resümiert im Tagesspiegel das Ophüls-Festival in Saarbrücken.

Besprochen werden die neue Staffel der Serie "American Crime Story", in der es um die Ermordung Gianni Versaces geht (FAZ, ZeitOnline), Hong Sang-Soos "On the Beach at Night Alone" (Freitag, unsere Kritik hier) und Ronny Trockers "Die Einsiedler" (Standard).
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Architektur



Sandra Barclays Museo de Sitio Julio C Tello in Paracas, Peru. Foto: Cristóbal Palma

Dezeen stellt mit vielen Links und Bildern die Architektinnen vor, die auf der Shortlist stehen für den Woman Architect of the Year award: die Peruanerin Sandra Barclay, die Spanierin Ángela García de Paredes sowie die beiden Britinnen Biba Dow und Stephanie Macdonald.
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Stichwörter: Architektinnen, Peru

Literatur

Anna Sauerbrey verteidigt im Tagesspiegel die Entscheidung der Alice-Salomon-Hochschule, Eugen Gomringers "avenidas" an der Hausfassade durch ein neues Gedicht zu ersetzen: "Das Gedicht von Eugen Gomringer ist sexistisch", da es Frauen zum Schauobjekt eines männlichen Beobachters mache. Auch Stefanie Lohaus findet es in der Reihe "Zehn nach Acht" auf ZeitOnline "unbegreiflich, wie Mitglieder der kulturellen, publizistischen und politischen Elite Deutschlands, die durchaus diskutablen, aber in keiner Weise skandalösen Vorgänge an der Alice-Salomon-Hochschule mit Barbarei und Terror vergleichen können". 

Der thematische Schwerpunkt zum Manga verdeutlichte beim Comicfestival Angoulême, dass die Comics in Japan mit ihrem durchschlagenden Erfolg in Europa "die westlichen Comics nicht geschwächt oder verdrängt hat", schreibt Christian Gasser in der NZZ. Sondern ganz "im Gegenteil: Künstlerisch hat er sie durch die Erweiterung der gestalterischen und erzählerischen Möglichkeiten revitalisiert."

In der Zeit (nachträglich online gestellt) verteidigt Maxim Biller die Polemik gegen den Online-Shitstorm: "Wollen Sie tatsächlich Donald Trumps nächtliche Twitter-Angebereien und antisemitische Facebook-Tsunamis, frauenfeindliche Tiraden und obszöne FSB-Propagandalügen mit den verbalen Ein- und Ausfällen eines Heinrich Heine, eines Karl Kraus oder frühen Henryk M. Broder vergleichen?"

Weitere Artikel: Sylvia Prahl berichtet in der taz von der literarischen Tagung des British Council in Berlin, bei der es in diesem Jahr um Gender in der Literatur ging. Raimund Fellinger ärgert sich im Logbuch Suhrkamp darüber, dass die Ausssagen von Zeitzeugen entgegen der Gepflogenheiten guten historischen Arbeitens immer fahrlässiger geglaubt wird. Die österreichische Literatur arbeitet sich auch weiterhin an der Vergangenheit ab, schreibt Paul Jandl in der NZZ. Denis Scheck fügt Joseph Conrads "Herz der Finsternis" seinem Welt-Literaturkanon hinzu.

Besprochen werden unter anderem Howard Jacobsons "Pussy" (SZ), Vicki Baums Feuilletonsammlung "Makkaroni in der Dämmerung" (Tagesspiegel), Angelika Klüssendorfs "Jahre später" (FR) und Garth Greenwells "Was zu dir gehört" (FAZ).
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Bühne

Ziemlich gallig findet Standard-Kritiker Helmut Ploebst Rabih Mroués Choreografie "Water between three hands", mit der das Dance On Ensemble in St.Pölten zu Gast war: "'Bei Ausgrabungen innerhalb meines Körpers', sagt einer der Tänzer zu Beginn, 'entdeckte ich Knochen, die nicht die meinen waren'. Der Fund habe sich als Teil eines Massengrabs erwiesen."

Weiteres: Als gewagt abstrakt bezeichnet Astrid Kaminski in der taz das Programm, mit dem das Tanzquartier Wien seine Neueröffnung einleitet, auch wenn es ihr als politisches Statement nicht eindeutig genug ausfällt. Sophie Diesselhorst bilanziert in der Nachtkritik, wie die deutschen Theater geflüchtete Theaterleute integriert haben - zum Beispiel in Projekten wie dem Exil Ensemble am Maxim Gorki. Matthias Kreienbrink nimmt im Tagesspiegel Einblicke in die prekäre Existenz der freien Theaterszene in Berlin.

Besprochen werden Karin Beiers Inszenierung von Shakespeares "Kaufmann von Venedig" in Hamburg (SZ, taz), Beethovens "Fidelio" unter Kent Nagano an der Hamburger Staatsoper (den Jan Brachmann in der FAZ als "Katastrophe" und "Totalblamage" niedermäht).
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Musik

Rhetorische Entgleisungen und der Flirt mit dem Gangsterleben gehören konstitutiv zu Rap-Musik. In China will man die Musik allerdings um diese Facetten bereinigen. Getroffen hat es eine im Netz gestreamte Show namens IQiyi, wie Kai Strittmatter in der SZ erzählt: "Verbannt wurden vorletzte Woche sämtliche Künstler, die 'unanständig, vulgär oder obszön' sind, die 'moralische Makel' haben und die 'den Kernwerten der Partei' entgegenstehen ... Die Macher von IQiyi wussten, dass sie auf dünnem Eis tanzten. In den Untertiteln der Show, die die Rapper auf den Bildschirmen begleiteten, verwandelten sie etwa das gesungene 'bitch is trouble' in das sonnigere, wenn auch sinnfreie 'beach is trouble', und das hingerotzte 'Arschloch' wurde zum etwas unverfänglicheren 'Hautausschlag' (im Chinesischen wird beides 'piyan' ausgesprochen)."

Allenfalls "ulkig" findet es Markus Schneider in der Berliner Zeitung, dass Kraftwerk bei den Grammys für ihren aufgemöbelten Backkatalog "3D" mit dem Preis für das "beste Dance/Electronic-Album des Jahres" ausgezeichnet wurden. Für eine "Demütigung" hält es Nadine Lange im Tagesspiegel, dass Jay-Z zwar für acht Grammys nominiert war, aber davon keinen einzigen erhalten hat. In der SZ begeistert sich Jürgen Schmieder für Kendrick Lamars politischen Auftakt, findet es aber auch öde, dass bei der Verleihung reihenweise Musiker aus dem Skandalbuch "Fire and Fury" vorgelesen haben: "Es war ein Frontalangriff auf Trump, der überhaupt nicht nötig gewesen wäre, weil die Musiker ihre Botschaften bis dahin subtiler, aber wirksamer untergebracht hatten." Dass man im Triumphjahr des Hip-Hop dann aber doch vor allem Bruno Mars in sämtlichen wichtigen Kategorien den Vorzug gegenüber den Hiphop-Künstlern gab, hält auch Welt-Kritiker Felix Zwinzscher für ziemlich langweilig. Hier Lamars Auftritt:



Weitere Artikel: Marin Alsop wird Chefdirigentin des Radio-Symphonieorchesters Wien, meldet Ljubisa Tosic im Standard. Unter anderem Jörg Sundermeier (taz), Hans-Jürgen Linke (FR) und Christian Schröder (Tagesspiegel) schreiben zum Tod des Swinggitarristen Coco Schumann, der die Schoah einst nur mittels seiner Musik überlebt hatte.

Besprochen werden das auf den Klängen zerstörten Glases basierende Album "Decomposition IV" der Klangkünstler Peter Kutin und Florian Kindlinger (Standard) und neue Metal-Veröffentlichungen (The Quietus). Und in der Retrokolumne der SZ empfiehlt Thomas Bärnthaler unter anderem die Wiederveröffentlichung von Todd Rundgrens "Something/Anything?" aus dem Jahr 1971. Darauf zu finden ist unter anderem dieses schöne Stück Studiobombast-Pop:

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