Efeu - Die Kulturrundschau

Der prekäre Status der Moral

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29.01.2018. Der Standard verteidigt mit dem österreichischen Künstler Oliver Ressler das gallische Dorf der Flughafengegner von Nantes. Als hysterisches Großmachtgehabe brandmarkt Viktor Jerofejew in der FAZ das Verbot der Komödie "Der Tod Stalins" in Russland.   #HeToo?, fragt die taz nach einer arte-Sendung,  in der Oskar Roehler mit rechten Positionen kokettiert. Etwas mehr Theorie wünscht sich ZeitOnline von den Rich Kids of Literature. Und die SZ erlebt in Simon Stones "Hotel Strindberg" in Wien das große Hauen, Vögeln und Stechen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.01.2018 finden Sie hier

Kunst


Die Verteidigungszone (Zone à défendre): Europas größtes autonomes Gebiet in der Nähe des französischen Nantes. Bild: Still aus Oliver Resslers Film "The ZAD" (2017)

Das Kunsthaus Wien zeigt in seiner aktuellen Schau "How to Occupy a Shipwreck" auch vier Filme des österreichischen Künstler Oliver Ressler, darunter "The ZAD", in dem Ressler vom erfolgreichen Protest gegen den inzwischen aufgegebenen Großflughafen bei Nantes erzählt. Im Standard fühlt sich Anne Katrin Feßler gut gerüstet für den Kampf gegen den globalen Kapitalismus: "Ressler erlaubt sich in seinen Filmen, die Themen Klimawandel, fossile Energien, Freihandel und Kapitalismus zusammen zudenken, was ihn mit den Aktivisten von ZAD eint. ZAD sei allerdings kein Modell, das sich zwanghaft über alle 'drüberstülpe', sondern bestünde neben den Anrainern aus vielen Kollektiven. 'Ein Gelände, das jetzt völlig autonom vom französischen Staat ist. Es gibt dort weder Steuern noch Strom, fließendes Wasser, Müllabfuhr, Polizei oder Krankenhaus. Der Staat hat sich dort zurückgezogen.' Ein für ihn spannender experimenteller Raum zur Entwicklung von Alternativen, auch zum demokratischen Zusammenleben: Mit der Aufforderung der Regierung, das Areal noch dieses Frühjahr zu räumen, wären nun diese neuentwickelten sozialen, ökologischen und architektonischen Formen bedroht."

Weitere Artikel: tazlerin Susanne Messmer schöpft nach einer durchaus angeregten Diskussion unter Kuratoren des Humboldt-Forums wieder Hoffnung für das Projekt.

Besprochen werden eine neue Foto-Installation des Berliner Künstlers Sven Sauer auf dem Dresdner Neumarkt (Tagesspiegel), eine Ausstellung des exzentrischen Bildhauers César im Centre Pompidou (FAZ) und die Schau "King and Collector", die in der Londoner Royal Academy die von Charles I. angelegte königliche Kunstsammlung präsentiert (und die Alexander Menden in der SZ prächtig, aber heillos unkritisch findet).
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Film

Schriftsteller Viktor Jerofejew prangert in der FAZ das aus höchsten Kreisen durchgesetzte russische Verbot von Armando Iannuccis britischer Komödie "Der Tod Stalins" an: "Eine Lappalie" wie dieser "witzige" Film werde in dieser Groteske unter "hysterischem Großmachtgehabe ... zu einem Markstein in der Entwicklung der russischen Zensur, die zunehmend gegen die westliche Kultur kämpft und auf Schritt und Tritt schreit, die russische Geschichte werde verfälscht". Ein breiter Zusammenschluss "aus Kultur und Gerichtsbarkeit sowie Experten aus dem öffentlichen Leben erklärten, dass man 'Stalins Tod' im Jahr der Präsidentenwahlen nicht zeigen solle. Warum nicht? Weil der Film Anzeichen von Extremismus aufweise. Stimmt, wir haben vergessen, dass in Russland die Beschlüsse des antistalinistischen 20.Parteitags der KPdSU von 1956, auf welchem Chruschtschow seine berühmte Geheimrede hielt, die Stalins 'Personenkult' entlarvte, faktisch aufgehoben sind."

Jens Müller stutzt in der taz darüber, wie offenherzig der dahingehend bislang gewiss nicht unbeleckte Oskar Roehler in der neuen Folge der arte-Sendereihe "Durch die Nacht mit..." vor Lars Eidinger mit dem Rechts-Sein kokettiert: "Wie viel davon ist Koketterie, Pose, Provokation? In Zeiten, in denen die mögliche Rechtslastigkeit von Christian Kracht oder Simon Strauß Feuilletondebatten auszulösen vermag? Das ist die Frage, der man gerne nachginge. Roehler weiß das natürlich. Die Homo-Ehe, okay. Aber hat er jetzt wirklich AfD gewählt? Sagt er natürlich nicht. Macht sich lieber einen Spaß, den Schauspieler Oliver Masucci als rechten Gesinnungsgenossen zu outen. Ausgerechnet den Hitler-Darsteller aus 'Er ist wieder da'. ... Eine neue Debatte - 'MeToo' oder so -, wie rechts die deutsche Filmbranche wirklich ist, sich das aber nicht zu sagen traut, die würde er nur zu gerne anstoßen." Hier steht die Episode online.

Martin McDonaghs "Three Billboards Outside Ebbing, Missouri" ist "der vielleicht abgründigste Film über den Trumpismus bisher", schreibt Lukas Stern im Freitag, und zwar "gerade weil er keine liberale Gegenrede parat hat. Entweder ist dieser Film also ein zynisches Pamphlet, das noch viel gravierendere Vorwürfe auf sich ziehen müsste als die, die ihm bisher gemacht wurden. Oder er ist tatsächlich eine blitzintelligente Offenlegung über den prekären Status der Moral im Hier und Jetzt."

Weitere Artikel: Vom diesjährigen Ophüls-Festival in Saarbrücken bleiben taz-Kritikerin Carolin Weidner vor allem Lisa Brühlmanns "Blue My Mind", Katharina Wyss' "Sarah spielt einen Werwolf" und Lukas Feigelfelds "Hagazussa" in Erinnerung. Susanne Ostwald spricht in der NZZ mit Seraina Rohrer, der Leiterin der Solothurner Filmtage. Bei Amazon überlegt man derzeit, Woody Allen fallen zu lassen, nachdem Dylan Farrow kürzlich die Vorwürfe, ihr Stiefvater habe sie sexuell missbraucht, nochmals bekräftigt hat, berichten Melena Ryzik und Brooks Barnes in der New York Times. In der Berliner Zeitung plaudert Daniel Schieferdecker mit "4 Blocks"-Star Kida Ramadan über Kreuzberg und dessen neuen Schauspiel-Ruhm. Alexandra Seitz porträtiert in der Berliner Zeitung Charly Hübner. Für die Welt hat sich Elmar Krekeler mit Heino Ferch getroffen.

Besprochen werden Spike Lees Serienfassung seines Films "She's Gotta Have It" (Freitag), Stephen Chboskys "Wunder" (FAZ) und Fernando Perez' "Die letzten Tage von Havanna" (SZ).
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Literatur

Romantik, Extase, Hyperironie? Damit hätte Samual Hamens lieber nichts zu tun, wie er auf ZeitOnline in einer Kritik am avantgardistischen Sprechakt-Gestus der Rich Kids of Literature erklärt. Die Berliner Ultraromantiker rund um die Zeitschrift Das Wetter flirten demnach zwar gerne mit den Avantgardismen des frühen 20. Jahrhunderts, lassen aber in Sachen Gegenwartsbefund und Theoriefestigkeit einiges vermissen: "Pathos im Sinne einer stilistischen Ekstase, wie er hier verlangt wird, ist ja keineswegs verboten, sondern eher seitens Literaturkritik und Leserschaft negativ sanktioniert. Und das geschieht in vielen Fällen völlig zu Recht, weil die Ekstase, das Aus-sich-heraus-Treten, oftmals als historisch verbrämtes Gehupe und monumentale Wortblendung daherkommt." Die RKOL zeigen demnach "einen bemerkenswert kreativen Eifer, endlich mal loszulegen, sowie eine gewisse Theoriearmut bezüglich der eigenen Forderungen. Die sozial- und polithistorischen Gründe, wieso 'hier' in Deutschland 'irgendwie' nach totalitären Erfahrungen ekstatisches Sprechen als problematisch gilt, werden jedenfalls weder bedacht noch kritisch ausgeführt. Das passt schlichtweg nicht zur verlangten avantgardistischen 'Action'."

Außerdem: Die NZZ hat Hans Magnus Enzensbergers Dialog zwischen "die Natur" und "der Unzufriedene" aus der Wochenendausgabe online nachgereicht. Rudolf Walther schreibt in der taz über Louis-Ferdinand Célines antisemitische Hetzschriften. Im Logbuch Suhrkamp schreibt Detlef Kuhlbrodt Tagebuch. Deutschlandfunk bringt ein großes Feature von Christian Gassers über Comiczeichner Art Spiegelman.

Besprochen werden Hans Joachim Schädlichs "Felix und Felka" (FR), Garth Greenwells "Was zu dir gehört" (Freitag), Anja Kampmanns Debütroman "Wie hoch die Wasser steigen" (SZ) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Simon van der Geests "Dysseus" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Mathias Mayer über Hugo von Hofmannsthals "Gute Stunde":

"Hier lieg ich, mich dünkt es der Gipfel der Welt,
Hier hab ich kein Haus, und hier hab ich kein Zelt!
..."
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Architektur

Antje Stahl berichtet in der NZZ von den "Engadin Art Talks", bei denen unter anderem der niederländische Architekt Rem Koolhaas über die Bedeutung des Lands im Anthropozän sprach: "Das Land ist nicht nur für ihn, sondern für viele Intellektuelle das neue Paradigma."
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Stichwörter: Koolhaas, Rem, Anthropozän

Design

Carmen Böker (ZeitMagazin) und Adriano Sack (Welt) schreiben Nachrufe auf Ikea-Gründer Ingvar Kamprad. Tillman Prüfer glossiert im ZeitMagazin über die Unterschiede zwischen Männer- und Frauen-Ausschnitten.
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Musik

Iris Alanyali (Welt) und Jürgen Schmieder (SZ) berichten von der Grammy-Verleihung, bei der Bruno Mars groß abräumte. Für die SZ plaudert Juliane Liebert mit Iron-Maiden-Sänger Bruce Dickinson, der gerade seine Autobiografie veröffentlicht hat, unter anderem übers Fliegen, Coaching von Managern, Internatserfahrungen und wie man am effizientesten Toiletten zerstört. Markus Schneider berichtet in der Berliner Zeitung vom CTM Festival in Berlin.

Besprochen werden ein von Hans-Peter Achberger in Vertretung von Teodor Currentzis dirigiertes Ammann-Konzert im Zürcher Opernhaus (NZZ), ein Auftritt von Anne-Sophie Mutter (FR), Nai Palms Debüt "Needle Paw" (taz), die Uraufführung von Rudolf Kelterborns neuer Komposition "Musik mit fünf Trios" (NZZ), ein von Simon Rattle dirigiertes Konzert des BR-Symphonieorchesters, das sich damit von Konzertmeister Florian Sonnleitner verabschiedet (SZ), und Sevdalizas Album "ISON" (taz).
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Bühne


Simon Stones "Hotel Strindberg" am Wiener Akademietheater. Foto: Reinhard Werner/Burgtheater

In der SZ ist Christine Dössel nicht zu hundert Prozent glücklich mit Simon Stones Inszenierung "Hotel Strindberg" am Wiener Akademietheater, aber das Setting, mit dem Stone den Abgrund zwischen Mann und Frau ausleuchtet, hat sie beeindruckt: "Es ist eine sehr wirkungs- und eindrucksvolle Bühne, entworfen von Alice Babidge. Sie hat den Hotelkasten mit einer Plexiglasfassade versehen, so gibt es eine vierte Wand. Um diese zu durchdringen, sind die Schauspieler verkabelt und sprechen mit Mikroports, was das Gefühl eines Lauschangriffs auf das Ehe- und Intimleben der Hotelgäste verstärkt. Sämtliche Zimmer werden simultan bespielt, auch wenn immer nur aus einem heraus 'gesendet' wird. Dabei haben alle neun Schauspieler mehrere Rollen, tauchen in raschestem Wechsel in neuer Kostümierung in neuen Konstellationen in neuen Zimmern auf. Es ist ein Kommen und Gehen, Flüstern und Schreien, Hauen, Vögeln und Stechen." In der Nachtkritik vermerkt Gabi Hift: "Riesiger Jubel am Ende, einerseits verdient, es ist eine großartige Leistung von allen Beteiligten, andererseits wird - auch - dafür geklatscht, dass einem (fast) nichts nahegeht."

Besprochen werden außerdem Karin Beiers Inszenierung von Shakespeares "Kaufmann von Venedig" am Hamburger Schauspielhaus ("Wuchtig, kaputtkommentiert und nicht ganz koscher", schreibt Stefan Grund in der Welt, aber mit einem grandiosen Joachim Meyerhoff und Spitzenensemble, Nachtkritik, FAZ), Daniel Kehlmanns "Heilig Abend" am Münchner Residenztheater (SZ), das Jubiläumsstück "Bob Dylans 115ter Traum" des Theaters Hora am Schauspielhaus Zürich (NZZ) und Andrea Moses Inszenierung der "Entführung aus dem Serail" bei der Salzburger Mozart-Woche (FAZ).
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