Efeu - Die Kulturrundschau

Interstellares Inseldenken

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25.01.2018. Die taz träumt mit Hong Sang-Soos "On the Beach at Night Alone".  Eugen Gomringers Gedicht "avenidas"  an der Fassade der Alice-Salomon-Hochschule fällt nun endgültig den Schneeflocken zum Opfer: Wo bleiben die elementarsten Kenntnisse der Lyrikinterpretation, ruft verzweifelt der Freitag. Die taz freut sich auf auf zwei Wochen experimentelle Clubmusik beim Berliner Festival CTM. In der FR erklärt Ute Bansemir, Leiterin der Theaterperipherie in Frankfurt, warum Theater heute so viele Menschen nicht mehr erreicht. Die Literaturkritiker trauern um Ursula LeGuin.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.01.2018 finden Sie hier

Film


Szene aus Hong Sang-Soos "On the Beach at Night Alone"

Nur wärmstens empfehlen kann Ekkehard Knörer in der taz Hong Sang-Soos "On the Beach at Night Alone", in dem es eine junge Koreanerin (Kim Min-hee) nach Hamburg verschlägt, nachdem sie zuhause ihren Mann verlassen hat. Viel an konkreter Handlung geschieht nicht, doch darin - und an den seltsamen Formentscheidungen des Regisseurs im Detail- liege mitunter gerade der Reiz, versichert der Kritiker: "Etwas von Träumen haben Hongs Filme sehr oft. Die Bilder sind schlicht und klar, die Realität, Hamburg, Gangneung, ist mit Präzision und ohne jede Verfremdung in Szene gesetzt. Aber in der Logik der Zusammenhänge ist etwas aus den Fugen geraten. Dinge oder Menschen drängen ins Bild, von denen man nicht weiß, was sie da suchen." Im Perlentaucher bespricht den Film Friederike Horstmann.

Filme wie der Horrorfilm "It", Serien wie "Stranger Things" und überhaupt die Popularität von Superhelden und Fantasystoffen sind im Grunde genommen "Kinderfilme für Erwachsene", beobachtet Ueli Bernays in der NZZ. Ncht so sehr das Phänomen an sich, sondern besonders "die Prägnanz" dieser Infantilisierung der Gegenwartskultur scheint ihm dabei neu. Doch warum stürzen sich selbst ehrenhafte Rezensenten auf diese Stoffe, fragt sich Bernays mit Anflügen eines "kulturellen Unbehagens": "Ist die Freude an eindeutigen Figuren und grellen Effekten, die Reduktion komplexer Problematik auf einfache Strickmuster ein Krisensymptom? Flüchtet sich das gestresste Subjekt aus der komplexen Realität in Fantasy-Welten? Schön möglich. Vielleicht aber findet das erwachsene Publikum heute ausgerechnet in der Jugendkultur zu sich selbst. In der beschleunigten Zeit digitaler Umbrüche, die einen immerzu zu Weiterbildung und Anpassung nötigt, kann man sich tatsächlich in permanente Adoleszenz zurückversetzt fühlen."

Außerdem: Nachdem kaum Drehbuchautoren zur Verleihung des Deutschen Fernsehpreises eingeladen wurden, protestieren die Autoren gegen ihre marginalisierte Rolle im Betrieb, berichtet Jens Mayer in der taz. In Russland wurde der Filmstart der britischen Komödie "The Death of Stalin" verboten, . Die Filmsatire "The Death of Stalin" des britischen Regisseurs Armando Iannucci wird in Russland verboten, melden Julian Hans und Alexander Menden in der SZ. In der Presse berichtet darüber Jutta Sommerbauer.

Besprochen werden RP Kahls Sex-Drama "A Thought of Ecstasy" (taz), Martin McDonaghs "Three Billboards Outside Ebbing, Missouri" (perlentaucher, critic.de, taz, NZZ), Eliza Hittmans "Beach Rats" (ZeitOnline), Stephen Chboskys "Wunder" mit Julia Roberts und Owen Wilson (taz), der ARD-Fernsehfilm "Die Notlüge" mit Josef Hader (Berliner Zeitung, ZeitOnline) und die auf Arte ausgestrahlte Serie "Die Geister des Flusses" (FAZ).
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Literatur

Die amerikanische Schriftstellerin Ursula K. Le Guin, hierzulande vor allem als Science-Fiction- und Fantasy-Autorin bekannt, in den USA als Essayistin und Literatin Teil des intellektuellen Lebens, ist tot. Philipp Theisohn würdigt sie im Feuilletonaufmacher der FAZ als "Großmeisterin des interstellaren Inseldenkens". Als solche habe "sie auf ihren Inseln politische und soziale Denkräume errichtet, Laboratorien für gesellschaftliche Experimente - keine konfliktfreien Zonen, keine Utopien. ... Ihr größtes Verdienst ist die Verteidigung des Archipels als eines Denkraums für das 21. Jahrhundert." Wieland Freund bringt es in seinem Nachruf in der Welt fertig, Le Guins literarisches Schaffen vor allem anhand von und im Kontrast zu Tolkien zu definieren - und damit selbst noch in einer Würdigung zu reduzieren. Im Deutschlandfunk Kultur würdigt Verleger und Übersetzer Joachim Körber die Verstorbene. Bei LiteraryHub lässt sich ein Gespräch mit der Autorin nachhören. Beim New Yorker gibt es einen Überblick über Le Guins dort veröffentlichte Essays und Kurzgeschichten. Lesenswert ist auch Julie Phillips 2016 veröffentlichtes Porträt der Autorin im New Yorker.

"Adios Avenidas", heißt es bei Benedict Neff in der NZZ anlässlich der Entscheidung an der Alice-Salomon-Hochschule, Eugen Gomringers Gedicht "avenidas" von der Hausfassade nach Protesten zu entfernen und das Gebäude künftig alle fünf Jahre mit einem neuen Gedicht zu schmücken. An Gomringers Gedicht werde künftig in Form einer Gedenktafel am Gebäude erinnert. Dieses werde damit "zur Vergnügungsfassade der Berliner Poeten und Philologen", schreibt Neff. Und weiter: "Das Vergangene wird gelöscht, um dann mit einer Tafel darauf hinzuweisen. Dieser Vorgang entspricht der deutschen Hauptstadt: Berlin ist eine Stadt ohne Tradition, es ist eine Stadt der Erinnerung."

Mladen Gladic erinnert im Freitag an die Sinn-Brüchigkeit des Textes, der sich auf Eineindeutigkeit eben gerade nicht reduzieren lasse: "Ob das Gedicht tatsächlich einen übergriffigen und sexualisierenden männlichen Blick feiert, kann allerdings bezweifeln, wer über auch nur elementarste Kenntnisse der Lyrikinterpretation verfügt, selbst wenn eine gewisse Ambivalenz bestehen bleibt." Für Gladic ist "die Aufregung Symptom einer Entwicklung, in deren Verlauf die Grenzen des persönlich Zumutbaren immer weiter herabgesetzt werden. Wenn schon ein Gedicht wie dasjenige Gomringers als Beschreibung potentieller Übergriffigkeit und Sexualisierung gelesen wird, dann lässt das nicht nur auf ein absurdes Maß an Empfindlichkeit im Sozialen schließen."

In der Berliner Zeitung kritisiert Harry Nutt die Entscheidung der Hochschule. Die Dichterin Nora Gomringer verkündet in der Welt, dass sie das beanstandete Gedicht ihres Vaters per Aufkleber "überall hinkleben" und das Ergebnis auf Instagram unter dem Hashtag #avenidaswall dokumentieren werde - und ruft alle auf, es ihr gleichzutun. Der Springer-Verlag hat unterdessen das Nachrichtenband auf seinem Berliner Dach Gomringers Text gewidmet.

Besprochen werden Nacha Vollenweiders Essay-Comics "Fußnoten" (Tagesspiegel), John Banvilles "Die blaue Gitarre" (Zeit), John Burnsides "Ashland & Vine" (SZ) und Szczepan Twardochs "Der Boxer" (FAZ).
Archiv: Literatur

Musik

Philipp Rhensius freut sich in der taz auf zwei Wochen experimentelle Clubmusik, die das Berliner Festival CTM ab morgen bietet, zumal diese zwei Wochen als intensives Get-Together auch eine Alternative zur alltäglichen gesellschaftlichen Vereinzelung darstellen: "Seit 1999 schafft das Festival jedes Jahr einen (...) Ausnahmezustand für ein anderes In-der-Welt-Sein, das über den passiven Musikkonsum hinausgeht und stets auch auf die Störung und Verwirrung routinierter Wahrnehmungsweisen abzielt. ... Neben der impliziten körperlichen Vereinnahmung durch radikale Dissonanzen und tiefe Bass-Frequenzen, die die Eingeweide massieren, verfolgen viele KünstlerInnen explizit politische Themen, und das auf eine zeitgenössische unironische Weise, die träumerische Protestmusik vergangener Dekaden lächerlich aussehen lassen."

Außerdem: Für die SZ plaudert Kathleen Hildebrand mit Tocotronic über deren autobiografisches neues Album "Die Unendlichkeit". Christian Schröder schreibt im Tagesspiegel zum Bühnen-Aus von Neil Diamond. In der SZ porträtiert Reinhard J. Brembeck den Komponisten Fabio Nieder. Malte Hemmerich berichtet in der FAZ von der Beethoven-Woche Bonn. Niall O'Keeffe erinnert sich in The Quietus an den gestern verstorbenen Musiker Mark E. Smith von The Fall.

Besprochen werden ein Konzert des Estonian Festival Orchestras unter Paavo Järvi (Tagesspiegel), eine Aufführung von Georg Friedrich Haas' "In Vain" durch das Ensemble Modern (FR) sowie ein Auftritt von Nils Frahm (Tagesspiegel) und dessen neues Album "All Melody" (Pitchfork), in das NDR Kultur ausgiebig reinhört.
Archiv: Musik

Bühne

Im Interview mit der FR erklärt Ute Bansemir, Leiterin der Theaterperipherie in Frankfurt, warum dieses Theater nach zehn Jahren nicht nur für die Einwanderungsgesellschaft Deutschland immer noch wichtig ist: "Ich glaube, dass Theater, wie es bei uns in Deutschland funktioniert, für viele Leute gar keine Rolle spielt - aufgrund ihres Milieus, kultureller Unterschiede oder einfach mangels Geld. Eine der jungen Frauen, die aktuell in 'Ellbogen' spielen, hat zwar Abitur - aber ehe sie zu uns kam, stand sie noch nie auf einer Bühne. Sie hat in ihrem ganzen Leben nur ein einziges Stück im Schauspiel gesehen und das war 'irgendwie komisch', so ihr O-Ton. Theater verlangt oft nach Entschlüsselung, was Erfahrung voraussetzt. Wenn die Texte so inszeniert sind, wie sie es meistens sind, wenig mit der Realität vieler Menschen zu tun haben, dann funktioniert die Kommunikation nicht."

Im Interview mit der NZZ freuen sich der ehemalige Basler Theaterintendant Andreas Beck und Dramatiker Ewald Palmetshofer über die sprachliche Experimentierfreude, die sie unter Begeisterung des Basler Theaterpublikums ausleben konnten. Weniger gut findet Beck, der jetzt nach München wechselt, dagegen die Schweizer Kulturpolitik, die einen immerzu einschränken wolle: "'Und dafür bekommen Sie Subventionen?' Als ob man nicht auch einmal scheitern könnte. Man muss doch auch geschmacklich unterschiedlicher Meinung sein können! Ich will ganz deutlich sagen: Drohen mit der Subventionskeule macht kein angenehmes Klima! Ich wünsche mir für meine Nachfolge von der Politik, vom Verwaltungsrat, aber auch von der Gesellschaft eine sichere Planbarkeit für das Haus. Und da wir hier in einem durchaus wohlhabenden Land leben, möchte man doch eigentlich meinen, dass dies möglich sei."

Weitere Artikel: Annett Jaensch berichtet in der taz vom internationalen Tanzfestival "Purple" in Berlin. Im Interview mit dem Standard spricht Regisseur Simon Stone über sein "Hotel Strindberg", das er gerade am Akademietheater in Wien inszeniert. In der neuen musikzeitung erinnert Christoph Schlüren an den österreichischen Komponisten Gottfried von Einem.

Besprochen werden Calixto Bieitos Inszenierung von Franz Schrekers Fin-de-Siècle-Oper "Die Gezeichneten" an der Komischen Oper in Berlin (FR), eine "Carmen" an der Wiener Staatsoper (Standard), Manfred Trojahns "Enrico" in Frankfurt (nmz), Eva Langes Inszenierung von Nina Raines Stück "Konsens" am Staatstheater Kassel (nachtkritik) und die Performance  "The Hairs Of Your Head Are Numbered" im Berliner Hau (SZ) und Verdis "Aida" in Halle (Zeit).
Archiv: Bühne

Kunst

Anne-Catherine Simon unterhält sich für die Presse mit dem französischen Galeristen Stéphane Corréard über den Streit um Jeff Koons' Tulpenskulptur, die als Denkmal für die Opfer der Pariser Anschläge vom 13. November in Paris gedacht ist: Für viele Franzosen "ist das Kunstwerk der Marketingcoup eines Luxuskünstlers".

Besprochen werden die Schau "Life in Cities" des Fotografen Michael Wolf im Fotomuseum Den Haag (taz), die Fotografieausstellung "In einem anderen Land" im Haus am Kleistpark in Berlin (Berliner Zeitung), die Ausstellung über die Etrusker im Badischen Landesmuseum (Welt) und die Schau "Affect Me. Social Media Images in Art" in der Kai10 Arthena Foundation in Düsseldorf (FAZ).
Archiv: Kunst