Efeu - Die Kulturrundschau

Quietschfidel in den knisternden Polyesterkleidern

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18.12.2017. Der Standard lässt sich mit Begeisterung am Wiener Volkstheater von Stephan Kimmig in die moralische Wüste des Krzysztof Kieslowski führen. "Glotz nicht so romantisch!", schallt es der taz in den Münchner Kammerspielen entgegen. Die SZ erliegt der Heiterkeit in den den Fotografien von Joel Meyerowitz. Die NZZ reist mit Ovid ans Schwarze Meer. Und nur Pitchfork verübelt Pharell Williams den Aktivisten-Chic auf seinem neuen Album "No_One Ever Really Dies"
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.12.2017 finden Sie hier

Bühne


Jan Thümer und Anja Herden in Stephan Kimmigs "Zehn Geboten". Foto © www.lupispuma.com / Volkstheater.

Im Standard jubelt Ronald Pohl über Stephan Kimmigs Bühnenfassung von Krzysztof Kieslowskis "Zehn Geboten" am Wiener Volkstheater, wo das Ensemble geradezu entfesselt aufspielte: "Hier haust der Schutzengel der von Gott, vor allem aber von allen guten Geistern verlassenen Kieslowski-Figuren. Regisseur Stephan Kimmig hat seine acht Schauspieler zurück in die moralische Wüste geschickt. Er hat sie geduldig aufgetaut und quietschfidel in die knisternden Polyesterkleider von früher gesteckt. Es ist, kurz gesagt, eine Herzenslust, diesen Versehrten und im Kopf Verkehrten bei der Verwaltung der gottlosen Zustände zuzusehen. Und so arbeitet sich das Ensemble durch lauter Fallgeschichten und Tragödienskizzen, denen allen das nämliche moralische Dilemma zugrunde liegt: Kein Gott gibt diesen moralischen Minderleistern zu sagen, was sie leiden, mehr noch aber, was sie tun sollen."

Wirklich faszinierend findet taz-Kritikerin Sabine Leucht das Remake von Brechts Revolutionsstück "Trommeln in der Nacht"  an den Münchner Kammerspielen: "Es ist der 14. Dezember 2017, und an den Münchner Kammerspielen - und damit am selben Ort wie 95 Jahre zuvor - wird Bertolt Brechts frühes Revolutionsstück gegeben. Nur dass der Regisseur diesmal nicht Otto Falckenberg heißt, sondern Christopher Rüping. Der hat im Zuschauerraum Plakate aufhängen lassen, auf denen wie damals steht: 'Glotzt nicht so romantisch!', und nachdem die Schauspieler sich auf offener Bühne umgezogen haben, tritt eine bleierne Schwere auf den Plan."

Besprochen werden außerdem Marie Bues' Uraufführung von Thomas Köcks "paradies spielen" am Nationaltheater Mannheim ("stark und berührend" findet Alexander Jürgs das Stück in der Nachtkritik, FAZ), Johan Simons Inszenierung von Joseph Roths "Radetzkymarsch" am Wiener Burgtheater (SZ, Welt), Jakob Fedlers Inszenierung "Gertrud" nach Einar Schleef im Deutschen Theater Berlin (taz), Jetske Mijnssens Inszenierung von Tschaikowskis "Eugen Onegin", bei der Oksana Lyniv ihren Einstand als Dirigentin an der Grazer Oper gab (Kleine Zeitung, FAZ) und Ersan Mondtags Stück "Die letzte Station" am Berliner Ensemble (Tagesspiegel),
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Kunst


Joel Meyerowitz: Catskills Mountains, New York, 1963. Courtesy Howard Greenberg, C/O Berlin.

Peter Richter hat sich redlich bemüht, doch am Ende konnte er sich nicht dem Charme von Joel Meyerowitz' "unerschütterlich freundlichen" Fotografien entziehen, die das C/O Berlin in einer großartigen Ausstellung zeige: "Gegen die Heiterkeit dieser Szenen ist man am Ende auch dadurch nicht gefeit, dass man den langen Anlauf dahinter immer mitsieht. Bei Meyerowitz ist ja selbst ein Motiv heiter, das laut Titel einen 'Antikriegsprotest' zeigt und auf den ersten Blick ein Knäuel von zähnefletschenden Hunden, wie man das von den ikonischen Schreckensbildern aus der Bürgerrechts-Ära kennt... Das Amerika, das Meyerowitz zeigt, ist ein ungleich lebens- und liebenswerterer Ort als das von William Eggleston und Stephen Shore, den anderen beiden großen amerikanischen Pionieren der Farbfotografie, hinter deren Bildern man immer irgendeine Art von Drama, Kaputtheit, Gewalt, Serienmord und Leben ohne Krankenversicherung zu ahnen meint."

Weiteres: Andreas Busche bedauert im Tagesspiegel sehr, dass die Stadt Berlin sich über ein Jahr kein Konzept für das Haus der Bürgerrechtsikone Rosa Parks überlegen konnte, das der Künstler Ryan Mendoza nun wieder in die USA zurückverfrachten lässt. Im Standard hat André Ballin noch nicht herausgefunden, ob die huldvolle Großausstellung "Super-Putin" ernstgemeint, Therapie oder gut versteckte Provokation ist. Tilman Spreckelsen empfiehlt in der FAZ nachdrücklich die "Etrusker"-Ausstellung im Badischen Landesmuseum in Karlsruhe mit einer "Fülle sagenhafter Exponate", vor allem aus den Nekropolen.

Besprochen werden die große Modigliani-Schau in der Tate Modern (SZ) und eine Schau über den Kunsthändler Louis Sachse im Berliner Liebermann-Haus (Tagesspiegel).
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Film


Von Fragen unbehelligt: Szene aus Till Cösters "Super Friede Liebe Love" (Bild: obs/ZDF/Franz Kastner)

In der taz empfiehlt Jens Müller den vom ZDF online gestellten Dokumentarfilm "Super Friede Liebe Love", in dem Till Cöster eine Gruppe älterer Herren in einem katholischen Männerwohnheim porträtiert. Cöster "behelligt sie nicht mit seinen Fragen. Das wäre ein allzu journalistischer Ansatz. Sie erzählen einfach drauf los, etwa der Mann, dem der Film seinen Titel verdankt. Jeden Quadratzentimeter seines Zimmers hat er mit seinen Friedensbotschaften vollgeschrieben."

Weitere Artikel: In der Welt setzt Peter Huth zur Ehrenrettung der bei Fans und Kritik gleichermaßen verfemten "Star Wars"-Prequels an, die George Lucas in den 00er Jahren nachgeliefert hat. Die Serie "Outlander" ist "erzählte Quantenphilosophie für die Sehnsüchte der Post-Post-Moderne", erklärt Petra Kohse in der FR nach dem Ende der dritten Staffel. Gaston Kirsche schreibt in der Jungle World Wissenswertes über Michael Curtiz' Klassiker "Casablanca", der vor 75 Jahren in die Kinos kam.

Besprochen werden die Serie "One Mississippi" mit Tig Notaro (Freitag) und das Weihnachts-Special der britischen Science-Fiction-Serie "Doctor Who", bei der mal wieder ein Wechsel in der Besetzung der Titelfigur ansteht (Welt).
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Literatur

Erika Achermann besucht für die NZZ Constanza, die Stadt am Schwarzen Meer, in der vor 2000 Jahren der Dichter Ovid starb. "Das Schwarze Meer ist ein ganz anderes Meer als das Mittelmeer, es ist schwierig zu beschreiben. Der Blick findet keinen Halt. Himmel und Wasser verschmelzen. Wo hat man schon so viel Leere erlebt? ... Es kommt mir vor, als ob es keinen Horizont gäbe, als ob's das Ende der Welt wäre. Ein paar Schiffe, ja, verschwommen, winzig, obwohl es Kriegsschiffe sein könnten. Weit draussen auf der Mole im 'Gastlichen Meer', wie es in der Antike hieß, beklagte schon Ovid die Langeweile. Das tue ich nicht. Ich liebe ihn, den weiten Blick, dem nichts im Weg steht."

Im Logbuch Suhrkamp setzen Andreas Pflüger und Erik Spiekermann ihr ausgiebiges Gespräch über Typografie und daran anhängige Themen fort (hier der erste Teil). Pflüger lobt die gute, wie penible Zusammenarbeit bei seinem aktuellen Thriller "Niemals": "Wir haben jedes Detail des Buches mit Bedacht gestaltet und darauf geachtet, dass alles im Einklang ist. Keine Hurenkinder, keine Schusterjungen, das sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Doch in den letzten Jahren hat sich diese Nachlässigkeit in die meisten Romane eingeschlichen, weil es billiger für die Verlage ist, denn der Autor muss keinen Text ändern. Das spart Zeit und damit Geld. Wir leben in einer Feudalherrschaft des Ökonomischen."

Außerdem: Für den Standard unterhält sich Christa Nebenführ mit Ivana Sajko über deren "Liebesroman".

Besprochen werden unter anderem Juli Zehs "Leere Herzen" (taz), Pascal Manoukians "Nachtvögel" (Freitag), der von Norbert Bicher dokumentierte Briefwechsel zwischen Willy Brandt und Heinrich Böll (Tagesspiegel), die gesammelten Briefe zwischen Vladimir Nabokov und seiner Gattin Véra (Zeit), Linda Boström Knausgards "Willkommen in Amerika" (SZ) und neue Hörbücher, darunter eine Auswahl von Heinrich Bölls Originalaufnahmen aus den Jahren 1952 bis 1985 (FAZ).
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Musik

Das neue Album "No_One Ever Really Dies" von Pharrell Williams und seiner alten Combo N.E.R.D. kommt bei der hiesigen Kritik ziemlich gut an. Julian Dörr frohlockt in der SZ angesichts der stilistischen Dichte und Originalität auf diesem Album. Zu hören gibt es das Popjahr 2017 in nuce, meint er: "Jeder Soundfetzen, jeder Beatbrocken, jeder Produktionskniff, der in diesem Jahr irgendwo im Pop auftauchte - auf dieser Platte kehrt er zurück. ... Am Ende ist 'No_One Really Dies' so etwas wie 'Happy' mit Haltung. Superlässiger Irrsinn, aber mit Tiefenschärfe. Pop in seiner totalen, hirnschmelzenden Gleichzeitigkeit." Auch Nadine Lange vom Tagesspiegel sieht in diesem Album einen späten Höhepunkt des sich neigenden Pop-Jahres. Pitchfork-Kritiker Jonah Bromwich nimmt dem Album allerdings seinen "Aktivisten-Chic" übel, der nie in wirklichen Protest umschlage. Hier die Kooperation mit Rihanna:



O Du Fröhliche? Nicht ganz: Die Feuilletons filettieren das Fest der Liebe lieber: So lasse sich auf einer neuen Zusammenstellung der Weihnachts-Singles der Beatles nachvollziehen, wie die Liverpooler "mit ihren Hörspielen, Collagen, Klanginstallationen, Dadaismen, Surrealismen, Zappaesken, Happenings, ihrer Musique concrete oder wie immer man das nennen möchte (...) Weihnachten dekonstruieren", schreibt Welt-Kritiker Michael Pilz im Dekonstruktionspop-Glück. Und Paul Jandl erzählt in der NZZ, wie einst Peter Alexander mit einem offenbar gewieften Audio-Angriff aus dem Radio im Jahr 1971 ein Weihnachtsfest sprengte: "In der Familie rissen Gräben auf, von deren Existenz man bisher nicht einmal etwas geahnt hatte. Es gab über die genealogischen Linien hinweg Verbrüderungen, während nahe Verwandte ihr bisheriges Verhältnis vollkommen zerrütteten. Das Weihnachtsfest endete früh. Sehr früh."

Gunnar Leue erinnert in der Berliner Zeitung an die Entstehungsgeschichte des in der DDR in den späten 50ern entwickelten Subharchord-Synthesizers: Dieser "innovative Technikkasten brachte Brumm- und Knarztöne, aber auch flotte Tanzmusik und 'Ernste Musik' hervor". Das Filter hat über das Gerät vor einiger Zeit ein tolles Videofeature erstellt:



Außerdem: Felix Zwinzscher und Christian Meier diskutieren in der Welt über Sinn und Unsinn von MTV im Jahr 2017, da der ehemalige Musikfernsehsender nun seine PayTV-Schranken hat fallen lassen. Für Das Filter holen Thaddeus Herrmann und Martin Raabenstein nochmals das vor zehn Jahren erschiene, verknistert-rauschende Elektro-Album "Xerox Vol. 1" von Alva Noto aus dem Schrank. Tobias Prüwer porträtiert in der Jungle World die israelische Black-Metal-Band Arallu, die in ihrer drastischen Musik eigene Terror-Erfahrungen verarbeitet.

Besprochen werden das Weihnachtskonzert der Zürcher Sängerknaben (NZZ), ein von Lionel Bringuier dirigiertes Beethoven-Konzert des Tonhalle-Orchesters (NZZ), Isabelle Fausts Auftritt bei der musica viva (SZ) und der Frankfurter Auftritt des Jazztrompeters Till Brönner (FAZ).

Und Pitchfork kürt die besten Elektro-Alben des Jahres - ganz vorne: "Plunge" von Fever Ray, mit der Quinn Moreland unter anderem über die ästhetischen Einflüsse aus der Welt der polymorphen Perversionen gesprochen hat - dem Video merkt man den Einfluss an:


Archiv: Musik