Efeu - Die Kulturrundschau

Manifestation eines seltsamen musikalischen Syndroms

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06.12.2017. Die 63-jährige Künstlerin Lubaina Himid bekommt in diesem Jahr den Turner-Preis. Der Guardian reagiert mit verhaltener Freude. Auf Zeit Online erzählt Ann Cotten von ihrer Reise nach China. Die FAZ erlebt am Krakauer Stary Teatr eine Stimmung wie unter General Jaruzelski. Die Zukunft der Berlinale liefert weiter Diskussionsstoff: Die SZ träumt schon den Albtraum der hausgemachten Lösung. Und Frankreich unter Schock: Der eigentlich unsterbliche Johnny Hallyday, größter Rockstar der Welt, ist tot.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.12.2017 finden Sie hier

Kunst



Lubaina Himid: Naming the Money, 2004. Ausstellungsansicht, Spike Island, Bristol 2017. Foto: Stuart Whipps. Turner Prize

Der Turner Prize geht in diesem Jahr an die 63-jährige Künstlerin Lubaina Himid, die besonders mit ihrem Tableau "A Fashionable Marriage" von 1987 oder ihrem Lancaster Dinner Service eine wichtige Vertreterin der Black British Art geworden ist. Im Guardian kommentiert Adrian Searle: "Himids Kunst interessiert sich für Ideen ebenso wie für Gegenstände, für Geschichte wie für Malerei. Ihre Tableaus von überlebensgroßen Figuren und Gruppen haben eine comichafte Ausgelassenheit und Lebendigkeit, die ihren Bilder oft abgeht. Himid hat Theaterdesign studiert, mit der Theatralik ihrer besten Arbeiten macht sie ernsthafte Punkte über Ethnizität und Geschichte, Herkunft und Ankommen, ohne sich davon herunterziehen zu lassen. Ihre Kunst hat eine überraschende Leichtigkeit. Aber es ist seltsam, dass sich der Turner-Preis mehr auf Errungenschaften aus der Vergangenheit stützt als auf gegenwärtigen, auch wenn er sich damit von seinem etwas ermüdenden Fokus auf das Neue befreit."
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Film

In Berlin diskutierte Kulturstaatsministerin Monika Grütters mit Leuten aus der Filmbranche über die Zukunft der Berlinale (siehe dazu auch schon unsere gestrige Kulturrundschau). "Ausgesprochen friedfertig und konsenstauglich" ging es bei der Diskussion zu, berichtet Anke Sterneborg in der SZ. Die Idee, die Berlinale künftig von einer Doppelspitze, getrennt nach geschäftlichem und kuratorischem Ressort, leiten zu lassen, kam allseitig gut an. Doch ließ Grütters parallel per Pressemitteilung mitteilen, dass sie, was die Forderung nach einer internationalen Findungskommission betrifft, "keinen Millimeter vom Protokoll abweicht." Sie "hat sich für ihre Suche vom Berlinale-Aufsichtsrat gerade zwei Mitglieder aus dem Gremium selbst an die Seite stellen lassen: Björn Böhning als Vertreter des Landes Berlin und Filmfunktionärin Mariette Rissenbeek. So ungefähr sah der potenzielle Albtraum einer hausgemachten Lösung wohl aus, den die 79 Filmemacher mit ihrem offenen Brief verhindern wollten."

Christiane Peitz und Gunda Bartels bringen im Tagesspiegel Hintergründe und Wissenswertes zur Debatte. Auch sie haben noch Fragen zu der von Monika Grütters eingesetzten Findungskommission: "Allerdings staunt man darüber, dass Grütters all das nicht bereits Anfang des Jahres in die Wege geleitet hat. Die Zeit drängt." In der Berliner Zeitung fasst Frank Junghänel den Abend zusammen.  Auf kino-zeit.de berichtet Katrin Doerksen von einer "unbefriedigenden" Diskussionveranstaltung, auf der der Filmemacher Christoph Hochhäusler zum "geprügelten Hund des Abends" wurde.

Weiteres: Für den Tagesspiegel besucht Lissy Kaufmann Dani Levy bei Dreharbeiten in Jerusalem. Willi Germund schreibt in der FR einen Nachruf auf den Bollywoodstar Shashi Kapoor. Daniel Kothenschulte schreibt zum Tod des Schauspielers und Regisseurs Ulli Lommel.

Besprochen werden die Ausstellung "Slow Down! Filmische Hinwendungen zur Reduktion" in der Wiener Kunsthalle Exnergasse (Standard), "A Ghost Story" mit Casey Affleck (ZeitOnline), die deutsche Netflix-Serie "Dark" (NZZ) und Katell Quillévérés "Die Lebenden reparieren" (FAZ).
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Design

Mit seiner Firma Chermayeff & Geismar & Haviv gestaltete der 85-jährig verstorbene Grafiker Ivan Chermayeff das ästhetische Gepräge der USA in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entscheidend mit, schreibt Antje Stahl in ihrem NZZ-Nachruf: "Berühmt sind sie für Logos wie das des MoMA oder der New York University, die sich auf alles legen lassen, was das Unternehmen auf den Markt spült und spülen wird. Der bunte Pfau der Fernsehanstalt NBC stammt aus ihrer Feder und wird, seit er 1986 entworfen wurde, für alle Kanäle verwendet. ... Fast alle Gestaltungsideen des Büros, zu dem heute auch Sagi Haviv gehört, wirken wie Fussabdrücke der klassischen Moderne, auf die sich der Glitzer der Pop-Ära legt. Abstrakt, keine Angst vor Farben, fast zeitlos." Auf Youtube gibt es einen Porträtfilm über ihn:


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Literatur

Das hatten wir übersehen: Bereits vor einigen Tagen schrieb Ann Cotten im Freitext-Blog auf ZeitOnline ausführlich über ihre Eindrücke in China: Der Aufenthalt dort war "wie aufzuwachen aus der Kindheit oder aus einem mit skandinavischen Möbeln möblierten Traum. Hier sind Erwachsene. Sie gehen, links, rechts von mir, ihren Gewerben nach, waschen Sachen im Abfluss, führen Pudel spazieren. Sie sprechen ohne die Stützräder der kindlichen europäischen Moralmärchen - so klingen für mich die Melodien der Sprechakte."

Weiteres: "Wie kein an­de­rer verkörperte er die In­sti­tu­ti­on des fran­zö­si­schen Schrift­stel­lers", schreibt Jürg Altwegg in der FAZ über den 92-jährig verstorbenen Jean d'Ormesson. Die SZ bringt einen knappen Nachruf von Joseph Hanimann.

Besprochen werden Aharon Appelfelds "Meine Eltern" (FR), Geoff Dyers "White Sands" (Tagesspiegel), Andreas Steinhöfels Kinderbuch "Rico, Oskar und das Vomhimmelhoch" (NZZ), Arturo Pérez-Revertes "Der Preis, den man zahlt" (SZ) und Ismail Kadares "Die Verbannte" (FAZ). Die NZZ empfiehlt Kinder- und Jugendbücher für den Gabentisch.
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Bühne

Vor einem halben Jahr hat Polens PiS-Regierung den international angesehenen Regisseur Jan Klata als Intendant des Krakauer Stary Teatr entlassen und an seine Stelle den unerfahrenen Theaterkritiker Marek Mikos gesetzt. In der FAZ verteidigt Marta Kijowska den neuen Direktor, der für sich politische Neutralität reklamiert, und sieht in ihm sogar einen Hoffnungsträger: "Was am meis­ten be­un­ru­higt, sind die Ent­schei­dun­gen der un­mit­tel­bar Be­trof­fe­nen, der Schau­spie­ler, Re­gis­seu­re, Büh­nen­bild­ner und Kom­po­nis­ten, die ih­re be­ste­hen­den Ver­trä­ge kün­di­gen oder ih­re Mit­ar­beit an den neu­en Pro­duk­tio­nen ver­wei­gern. Und die Tat­sa­che, dass im­mer öf­ter von 'Kol­la­bo­ra­ti­on', 'Boy­kott' und 'Raz­zia' die Re­de ist, was die Äl­te­ren an die La­ge der Kul­tur­schaf­fen­den zu Be­ginn der acht­zi­ger Jah­re er­in­nert, als Ge­ne­ral Jaru­zel­ski das Kriegs­recht ver­hängt hat­te. Ein En­de des Kon­flikts scheint vor­erst nicht in Aus­sicht."

In der SZ hofft Christine Dössel sehr, dass der bisherige Intendant des Theater Basel, Andreas Beck, in München das Residenztheater übernehmen wird: "Vor allem weil er das Theater radikal zeitgenössisch und mit Gespür für die Fragen der Zukunft denkt, ohne dafür das Erzähltheater aufzugeben und ohne das Ensemble- und Repertoiresystem infrage zu stellen."

Besprochen werden Jürgen Kruse Gruselschocker-Version von Albert Camus' "Missverständnis" am Deutschen Tehater in Berlin (SZ, Berliner Zeitung, Tagesspiegel), Barrie Koskys Schtetl-Musical "Anatevka" an der Komischen Oper Berlin (SZ), Luigi Cherubinis "Medea" in Insznierungen in Erfurt und Stuttgart (FAZ).
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Musik

Johnny Hallyday wird von den Franzosen für mindestens so unsterblich gehalten wie Elvis Presley von den Amerikanern. Das relativiert Meldungen vom angeblichen Tod des in Frankreich größten Rockstars der Welt im Alter von 74 Jahren.  Serge Loupien und Emmanuèle Peyret erzählen in einem epischen Artikel für Libération seine Karriere: "Das Jahr 1961 ist auch das Jahr des Twist. Wie alle seine Rock'n'Roll-Grünschnabel-Kollegen der Zeit (später nannte man sie die 'yéyés') huldigt auch Johnny dem neuesten aus den USA importierten Tanz. Es ist bei ihm die erste Manifestation eines seltsamen musikalischen Syndroms, das ihn seine ganze Karriere lang verfolgt und das darin besteht, dass er systematisch die neuesten modischen Genres ausbeutet. Die schlimmsten und die besten." Les Inrocks bringen die Top Ten, an denen nichts vorbei geht, natürlich auch das Duett mit Eric Cantona von 1998 (aber bitte nicht zu laut kreischen!). Einen Eindruck vermittelt auch dieses Konzert von 1963:



In der taz stellt Steffen Greiner Spirit Fest vor, das neue Projekt von Notwist-Musiker Markus Acher, der sich hier mit Musikern der japanischen Dreampop-Band Tenniscoats zusammengetan hat. Auf deren Konzept ist er bei einer Japantour gestoßen, erfahren wir: "Schon ging er verloren in deren Klangkosmos aus einem jenseitigen, intimen LoFi-Pop und dem Konzept, sich anderen Mitspielern vollständig zu öffnen. ... Ihre spezifische Formensprache entsteht eher durch das Kuratieren von Sounds als durch kompositorische Dominanz." Was den deutschen Musiker sehr begeistert hat: "Alle Beteiligten gehen beim Musikmachen experimentell und intuitiv zu Werke" und "nichts war wirklich geplant, Musik und Arrangements haben sich beim Improvisieren von ganz alleine ergeben", berichtet Acher. Hier ein Video:



Weiteres: Im "Unknown Pleasures"-Blog des Standard erinnert Karl Fluch an die Blind Boys of Alabama, deren Aufnahmen Peter Gabriel vor einigen Jahren wieder zugänglich gemacht hat.

Besprochen werden Michael Schades Schubert-Konzert in Wien (Standard), Leif Ove Andsnes' Schubert- und Chopin-Abend in Berlin (Tagesspiegel) und das Preisträgerkonzert des Bundeswettbewerbs Gesang in Berlin (Tagesspiegel).
Archiv: Musik