Efeu - Die Kulturrundschau

Schwarze Technologie des Wassers

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01.12.2017. Rem Koolhaas erklärt im Interview mit der NZZ, warum das Land für einen Architekten heute interessanter ist als die Stadt. Die FR feiert Jürgen Vogel als Ötzi. Die Musikkritiker beugen sich über neue Alben von U2, Neil Young und Errorsmith. Die SZ besucht eine Ausstellung über Afrofuturismus. Die Sopranistin Agneta Eichenholz findet im Interview mit dem Standard Bergs Lulu ganz real. Die taz bringt einen Nachruf auf Verena Stefan.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.12.2017 finden Sie hier

Architektur

Rem Koolhaas soll in den kommenden zwei Jahren eine Ausstellung über die "Countryside: Future of the World" im New Yorker Guggenheim-Museum vorbereiten. Ein "Anti-Urbanist" wird er dabei nicht, erklärt er im Gespräch mit der NZZ: "Ich war immer von Städten fasziniert, deshalb habe ich mich so viel mit ihnen beschäftigt. Nach zwanzig, dreißig Jahren lohnt es sich aber, in die andere Richtung zu schauen und sich auf das andere - das Land - zu konzentrieren. Hinter den urbanen Kulissen wohnen all die Dinge, die eine Stadt braucht, um zu überleben. Eine durchorganisierte und digitalisierte Agrarwirtschaft, gigantische Warenhäuser von Amazon, Datenzentren. Diese Gebäude sind viel zu groß, als dass man sie in Städte stellen könnte. Wenn man aber die Stadt und ihren Reichtum weiterhin unterhalten möchte, muss das Land, und das ist eine unserer Hauptthesen, zu einem Grad organisiert und strukturiert sein, der bis jetzt nicht seinesgleichen kennt."
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Film



Die berühmteste Alpenmumie ist fürs Kino auferstanden und sieht jetzt aus wie Jürgen Vogel: Im Steinzeit-Alpenwestern "Der Mann aus dem Eis" erzählen er und Regisseur Felix Randau die mögliche Geschichte, wie Ötzi einst zu Tode gekommen sein könnte. Insbesondere der Hauptdarsteller hat FR-Kritiker Daniel Kothenschulte beeindruckt: "Vogel verleiht seinem mumifizierten Rollenvorbild Ötzi die archaischen Züge einer Schnitzerei aus Mammutzahn. Und zieht gerade dadurch mehr und mehr in seinen Bann, ja erweckt eine stetig wachsende Anteilnahme, die gerade durch den Verzicht auf alles Emotionalisierende unaufhaltsam ist." Für den Tagesspiegel bespricht Gunda Bartels den Film.

Weiteres: Für die taz unterhält sich Toby Ashraf mit Regisseur Robin Campillo über dessen (in der Welt besprochenen) Film "120 BPM" und den Aids-Aktivismus der 80er- und 90er-Jahre. Daniel Kothenschulte unterhält sich in der FR mit Lee Unkrich über dessen neuen Pixar-Animationsfilm "Coco", in dem es um den mexikanischen Día de los Muertos geht. Katja Belousova porträtiert den Schauspieler Louis Hofmann, der in der deutschen (in der taz besprochenen) Netflix-Serie "Dark" die Hauptrolle spielt.

Besprochen werden die von Arte online gestellte Mini-Serie "Der vierte Mann" über ein RAF-Verbrechen aus schwedischer Perspektive (ZeitOnline, FR) und Martin Koolhovens Neo-Western "Brimstone" (Welt, FAZ).
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Kunst


Cristina De Middel, "Iko Iko" aus "The Afronauts", 2012, © Cristina De Middel / Ausstellung "Afro-Tech and the Future of Re-Invention", HMKV im Dortmunder U

Fasziniert hat sich SZ-Kritiker Till Briegleb die Ausstellung "Afro-Tech and the Future of Re-Invention" angesehen, die verschiedene Positionen des "Afrofuturismus" zeigt: "Da sich der berühmte schwarze Protestslogan 'Freedom in our lifetime' bis heute nicht wirklich erfüllt hat, sind in den zwanzig künstlerischen Positionen, die im Dortmunder U vorgestellt werden, sehnsuchtsvolle und kämpferische Umdeutungen weißer Geschichte das Prinzip vieler Arbeiten. Tabita Rezaires Videocollage über den elektronischen Kolonialismus, den große Internetfirmen wie Facebook auf Afrika ausüben, behauptet, dass die Glasfaserkabel im Meer die gleichen Routen zwischen den Kontinenten ziehen wie die einstigen Sklavenhändler beim Atlantischen Dreieckshandel. Als Alternative zur digital wiederholten Geschichte der Versklavung Afrikas entwickelt Rezaire eine spiritistische schwarze 'Technologie' des Wassers, in der alles Wissen flüssig gespeichert sei."

FAZ-Kritiker Karl-Heinz Lüdeking fragt sich nach einem Besuch in der Cezanne-Ausstellung in der Londoner National Portrait Gallery, weshalb Cezannes Porträts meist Geistesabwesende, Schielende und Blinde zeigen: "Wenn Cézan­ne in sei­nen Por­träts die Fi­xie­rung des Ge­gen­übers mit dem aus­wei­chen­den Blick zur Sei­te ver­eint, dann passt das ge­nau­so we­nig zu­sam­men wie das Se­hen und das Ge­se­hen­wer­den. Die­se Dif­fe­renz stei­gert sich bei Cézan­ne des­halb zu ei­nem dra­ma­ti­schen Ant­ago­nis­mus, weil al­les, was er malt, we­der selbst se­hen, noch von ir­gend­wo­her ge­se­hen wer­den will."

Besprochen werden außerdem eine Werkschau der Künstlerin Rebecca Horn (die außerdem mit dem Wilhelm-Lehmbruck-Preis der Stadt Duisburg ausgezeichnet wird) im Lehmbruck-Museum in Duisburg (taz), die Ausstellung "Theft is Vision" im Luma-Westbau Zürich (NZZ) und eine Märtyrer-Ausstellung im Kunstraum Kreuzberg (Berliner Zeitung).
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Bühne

Die Sopranistin Agneta Eichenholz spricht im Interview mit dem Standard über ihre Rolle als Lulu und die #metoo-Bewegung: Lulu, sagt sie, "sollte keine Figur sein, die handelt, sondern die nur reagiert - auf die Männer. Sie reagiert auf jeden Mann anders, wenn sie etwas von ihm zu bekommen versucht - das finde ich entscheidend. ... Vieles von dem, was Lulu macht, entspricht dem, was Frauen die ganze Zeit über tun müssen: Wir müssen versuchen, mit all den Typen von Männern zurechtzukommen, die ihre Macht ausnutzen. In diesem Sinn ist Lulu ein Spiegel der Realität".

Weiteres: Peter von Becker gratuliert im Tagesspiegel dem Theaterautor David Mamet zum Siebzigsten. Besprochen wird die Erstaufführung von Nicola Antonio Porporas Oper "Mitridate" am Theater Heidelberg (nmz).
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Literatur

Verena Stefan, Autorin des feministischen Bestsellers "Häutungen" aus dem Jahr 1975 - ein Buch, das seinerzeit ungeheures Aufsehen erregte -, ist im Alter von siebzig Jahren in Montreal gestorben, schreibt Monika Mengel in der taz. In Montreal lebte sie seit 1999. Nach "Häutungen" publizierte sie weitere Bücher, unter anderem über ihren Großvater, der illegal Abtreibungen durchgeführt hatte. "Mit ihrem Tod scheint sich ein Kreis zu schließen. Denn heute stehen Frauen wieder vor dem Dilemma, nicht über ihren eigenen Körper bestimmen zu sollen, wie die Bekenntnisse unter dem Hashtag #MeToo, vor allem aber auch der Prozess gegen die Ärztin Kristina Hänel zeigen. Hänel wurde verurteilt, weil sie publik machte, dass sie Abtreibungen vornimmt."

Weitere Artikel: Erst seit sie die Ukraine hinter sich gelassen hat, pflegt sie Ukrainia in ihrem Alltag, erklärt die Schriftstellerin Tanja Maljartschuk im Freitext-Blog auf ZeitOnline. Im Schloss Bellevue diskutierte Frank Walter Steinmeier mit Daniel Kehlmann, Eva Menasse und Salman Rushdie, berichtet Felix Stephan in der Welt. Für die FAZ besucht Verena Lueken James Baldwins Grab - dazu stellt die FAZ einen Essay des Schriftstellers und Aktivisten, dessen Originalversion hier online zu finden ist.

Besprochen werden Julia Rothenburgs Debüt "Koslik ist krank" (FR), Antanas Skemas ursprünglich 1958 veröffentlichter Roman "Das weiße Leintuch" (NZZ) und Marc-Antoine Mathieus Comic "Otto" (SZ).
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Musik

Eigentlich hätte das neue U2-Album "Songs of Experience" schon vor einem Jahr erscheinen sollen, doch dann kam die weltpolitische Lage dazwischen, weshalb Weltverbesserer Bono seiner Band zwecks Reaktion darauf nochmalige Studioklausur verordnete, wie wir von Karl Fluch im Standard erfahren. Genutzt hat es dem Stadionpop kaum, eher sogar im Gegenteil: Das politische Pathos "geht auf Kosten der Lockerheit. ... Bono deklamiert Durchhalteparolen auf einem Klavierteppich, der nach Coldplay für Arme klingt - wären Coldplay nicht ohnehin nur für Arme. Nett rumpelnde Songs wie 'Summer of Love' vermögen es nicht, diese Schieflage noch zu begradigen. Am Ende ist man als Hörer müde missioniert." Auch Welt-Kritiker Michael Pilz ist sanft genervt von diesen "epischen Gitarrenechos und Gesängen über Blumen, die in Bombenkratern wachsen."

Weltverbesserungslyrik gibt es auch auf Neil Youngs mittlerweile 39. Studioalbum "The Visitor" zu hören, erklärt Christian Schröder im Tagesspiegel, der dem Album eine gehörige "Text-Sound-Schere" attestiert: Der Alt-Hippie finde "für die brennende Besorgnis um sein Gastland (...) musikalisch keine adäquate Form." Und "die Licht- und Naturmetaphorik des Albums verrutscht mitunter in einen grellbunten Kitsch, der an die Landschaftsidyllen des Fernsehmalers Bob Ross erinnert." Hier eine Hörprobe.



Zum Glück gibt es da noch ambitionierte elektronische Musik - die von Erik Wiegand etwa, der unter dem Namen Errorsmith veröffentlicht. Für dessen Album "Superlative Fatigue" transformiere er, wie Christian Wertschulte in der taz erklärt, "global zirkulierende Rhythmen zu einer eigenen Soundästhetik. Für diese hat er einen Synthesizer programmiert, der mittlerweile von einer Berliner Softwarefirma vertrieben wird. Dessen Sounds sind mit analogen Schaltkreisen nicht reproduzierbar, sondern bringen auch gut ausgestattete Computer an den Rand der Rechenkernschmelze. Statt erdiger Wärme und stilsicherem Vintage-Sound entwirft Wiegand eine digitale Präzision, die den rhythmischen Futurismus der globalen Beatszene auch klanglich auffängt." Hier kann man sich das Album anhören.

Außerdem: Daniel Ender besucht für den Standard das neue Beethoven-Museum in Wien.

Besprochen werden Björks neues Album "Utopia" (Standard, Spex), ein Konzert von Patricia Kopatchinskaja und Teodor Currentzis in Zürich (NZZ), ein Konzert des Artemis Quartetts (Tagesspiegel), eine Schostakowitsch-Edition (NZZ), Billy Braggs Album "Bridges Not Walls" (Welt) und ein Konzert der SloMo-Jazzer von Bohren und der Club of Gore (taz).
Archiv: Musik