Efeu - Die Kulturrundschau

Sehr schön, hilft mir aber nicht weiter

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18.10.2017. 22 Prozent der Intendanzen sind von Frauen besetzt, dafür stellen sie 80 Prozent der Souffleusen: In der Nachtkritik sprechen die Regisseurinnen France-Elena Damian und Angelika Zacek über ihre gestern lancierte Initiave Pro Quote Bühne. NZZ und FAZ feiern die Eröffnung von Griechenlands Nationaloper mit "Elektra" und der großen Diva Agnes Baltsa. Les Inrocks fragt, ob ein Mann, der seine Freundin tot geprügelt hat, ein Recht auf ein Leben als Rockstar hat. Die SZ erinnert daran, dass Hollywoods berühmte "Castingcouch" von Männern und Frauen für ihre Zwecke genutzt wurde. Und im Standard erklärt Sibylle Berg, warum sie keine Literatur mehr liest.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.10.2017 finden Sie hier

Bühne

Frauen im Theater verdienen ein Drittel weniger und besetzen kaum Spitzenpostionen, sind dafür aber echt stark bei schlechtbezahlten Zuarbeiterjobs. Bei den Souffleusen stellen sie 80 Prozent. Im Interview mit der Nachtkritik sprechen die Regisseurinnen France-Elena Damian und Angelika Zacek über ihre gestern lancierte Initiative "Pro Quote Bühne": France-Elena Damian: "Es braucht die Quote, weil in den letzten 20 Jahren nichts passiert ist. Die Zahlen zeigen es. Nur 22 Prozent der Intendanzen sind weiblich besetzt, Inszenierungen werden zu 70 Prozent von Männern gemacht, während Frauen auf die kleinen Bühnen abonniert sind, aufs Kinder- und Jugendtheater. Was Führungspositionen angeht, sind sie völlig unterrepräsentiert." Und Angelika Zacek sagt: "Die 'gläserne Decke', an die viele von uns früher oder später stoßen, lässt sich ja schwer greifen. Aber jetzt liegen Fakten auf dem Tisch: Ende letzten Jahres kam die von Monika Grütters in Auftrag gegebene Studie 'Frauen in Kultur und Medien' heraus, die die Entwicklung von 1994 bis 2014 untersucht."

In der Berliner Zeitung sieht Petra Kohse einen guten Zeitpunkt für die Initiave: "Ein Blick in die Praxis anderer Theaternationen zeigt, dass Theaterarbeit durchaus nicht nur etwas für kinderlose Workoholics ist. Wenn ausgerechnet unser differenziertes Ensembleprinzip und unser Fördersystem für freies Theater den Modernisierungssprung nicht schaffen sollte, kann es eigentlich nur am mangelnden Willen liegen." Im Tagesspiegel berichtet Anne Sophie Schmidt.


Renzo Pianos Kulturzentrum in Athen. Foto: RPBW

Mit Richard Strauss' Oper Elektra" wurde am Wochenende endlich das spektakuläre Kulturzentrum eröffnet, das die Stavros-Niarchos-Stiftung von Renzo Piano in Athen hat bauen lassen. In der NZZ freut sich Michael Stallnecht, dass Griechenlands Nationaloper wieder auf die Beine kommt: "Renzo Piano hat ein Repräsentationsgebäude entworfen, wie es momentan nur sehr selten gewagt wird: bombastisch in den Ausmaßen, mit nicht geringem Pathosfaktor. Auf dem Platz zwischen Oper und Bibliothek, den der Architekt in Anlehnung an die antiken Marktplätze als Agora bezeichnet, fühlt man sich durchaus klein zwischen den fast dreißig Meter hohen Glaswänden. Doch die Fassaden wirken durchlässig und offen, die Säulen sind von schlanker Leichtigkeit, in der strengen Konzeption finden immer wieder verspielte Brechungen ihren Platz."

In der FAZ lobt Josef Oehrlein, wie der einfühlsame Dirigent Vassilis Christopoulos die bisher vor allem an das italienische Repertoire gewöhnten Musiker mit Strauss zu Höchstleistungen anspornte: Und es gab noch eine Überraschung. Agnes Baltsa, die große, auf allen Bühnen der Welt gefeierte griechische Diva, hatte im stolzen Alter von 73 Jahren ihre Auftrittspremiere in der Griechischen Nationaloper. Baltsas Stimme hat einiges von ihrer einstigen Farbenpracht verloren, der schrille, keifende Dauerton passte zwar zur Rolle der brutalen Gattenmörderin Klytämnestra, strengte aber auf Dauer auch etwas an. Mit ihrer immer noch imponierenden Präsenz verlieh Baltsa der Figur indes Kraft und kantige Kontur."

Besprochen wird das Festival "Theater der Dinge" in der Berliner Schaubude (Tagesspiegel) und Peter M. Preisslers "Fleischbank" im Wiener Theater zum Fürchten (Standard).
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Literatur

Eigentlich geht es im Standard-Gespräch, das Michael Wurmitzer mit Sibylle Berg und Franz Wenzl von der Band Kreisky führt, um das in Wien gezeigte Theaterstück "Viel gut essen". Aber dann spricht Berg natürlich auch über die Literatur: Belletristik lese sie nämlich nicht mehr, die sei "langweilig. Ich hab das Gefühl, ich muss so viel begreifen, es gibt so vieles, das mich interessiert, und ich komme gar nicht nach. Ich muss stapelweise Sachbücher lesen. Ich halt's nicht mehr durch, ein Buch zu lesen, wo einem einer eine Welt öffnet, seine Welt. Ich will Fakten. Das, was wir um uns haben, interessiert mich. Was passiert gerade? Ich bin zum Beispiel techniksüchtig, fast serverobjektophil, lese immer wieder zu Faschismusforschung. Literatur gibt mir einfach nix mehr. Houellebecq hab ich durch, ich habe kapiert, dass der alle und sich selber hasst, sehr schön, hilft mir aber nicht weiter."

Weiteres: Der Man Booker Prize geht in diesem Jahr an den Autor George Saunders - und damit zum zweiten Mal in Folge an einen Amerikaner, schreibt Sian Cain im Guardian. Ulrike Schuster berichtet in der SZ von einem Gruppe-47-Revival in Waischenfeld, wo 1967 das letzte Treffen stattfand. Denis Scheck stellt online nachgereicht Clarice Lispectors "Der große Augenblick" in seinen Welt-Literaturkanon.

Besprochen werden Annie Ernaux' "Die Jahre" (Tagesspiegel), Klaus Böldls "Der Atem der Vögel" (SZ), Pascale Kramers "Autopsie des Vaters" (NZZ), Uwe Timms "Ikarien" (Tagesspiegel, NZZ), Durs Grünbeins famoser neuer Gedichtband "Zündkerzen" (Standard), Philippe Pujols "Die Erschaffung des Monsters. Elend und Macht in Marseille" (ZeitOnline), Gaël Fayes "Kleines Land" (FR), der von Ayelet Waldman und Michael Chabon herausgegebene Band "Oliven und Asche" (FR) und Florjan Lipušs "Seelenruhig" (FAZ).
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Kunst

Auch in der NZZ feiert jetzt Thomas Ribi die große Tintoretto-Schau in Köln, auch wenn ihm der maler seine Bilder mitunter zu kühn inszeniert: "Bei kaum einem anderen Maler sind die Figuren derart leidenschaftlich bewegt und manchmal so künstlich verdreht wie bei Tintoretto."

Besprochen werden Monica Bonvicinis Ausstellung "3612,54 m³ vs 0,05 m³" in der Berlinischen Galerie (SZ), die Raffael-Ausstellung in der Wiener Albertina (FR) und Arbeiten der amerikanischen Malerin Betty Tompkins im Kunstraum Innsbruck (Standard).
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Musik

Seit einer Woche wird in Frankreich heftig über die Rückkehr des Musikers Bertrand Cantat gestritten, der im Jahr 2003 seine Lebensgefährtin Marie Trintigant zu Tode geprügelt hatte (mehr hier). Hat Cantat das Recht auf ein öffentliches Leben? Wie kann man den mann von dem Künstler trennen? Und soll man das überhaupt? Les Inrockuptibles hatte ihn aufs Cover gehoben und verteidigt nun die Entscheidung gegen den geballten Zorn seiner LeserInnenschaft: "Wir machen Journalismus. Das ist unsere Aufgabe, unsere Leidenschaft. Und Journalismus erfordert manchmal, auch die Schattenbereiche zu befragen, über Grenzen und Tasachen hinauszugehen. Journalismus ist nicht einfach eine moralische Position, von der aus man den den Daumen hebt oder senkt." Aber sie versprechen zugleich hoch und heilig, Gewalt gegen Frauen weiterhin zu bekämpfen.

Außerdem: Christoph Dallach unterhält sich für die Zeit mit St. Vincent. deren neues Album Karl Fluch im Standard bespricht. The Quietus bringt einen Essay des Poptheoretikers Mark Fisher über Roxy Music und Siouxsie Sioux. Beim Unsound-Festival in Krakau haben Musiker aus Indonesien Kompositionen von Moondog nachgespielt, berichtet Tabea Köbler in der taz: Jedes gespielte Stück "ist anders - manches wie ein fröhliches Pfeifen aus den Straßen New Yorks, manches polyrhythmisch verschlungen." Und im Standard erzählt Karl Fluch die Geschichte, wie es dazu kam, dass der vor kurzem verstorbene Charles Bradley vor dem Wiener Stephansdom sang - davon gibt es jetzt ein Video:



Besprochen werden Konzerte von Sigur Rós (FR) und James Blunt (Berliner Zeitung), sowie neue Alben von Kettcar (Welt, Spex), Postman (Standard), The Horrors (Standard) und Beck (Pitchfork).
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Architektur

In der taz kann Sophie Jung nur resigniert quittieren, dass sich beim Wiederaufbau der Baukademie in Berlin alle auf die Maßgabe "So viel Schinkel wie möglich" geeinigt haben: "Nur in Nuancen unterscheiden sich die Lager: Stadtbildsentimentale wünschen den originalgetreuen Wiederaufbau, Progressive eine kritische Rekonstruktion."

Jochen Stahnke meldet in der FAZ, dass israelische Archäologen die Überreste eines römischen Theaters in der Jerusalemer Altstadt freigelegt haben.
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Film

Ein Jahr, drei Festivals, drei Filme, alle mit der neuen Lebensgefährtin Kim Min-hee - es läuft für Hong Sang-Soo, stellt Dominik Kamalzadeh im Standard fest. "The Day After", der zweite Film dieser Quasi-Trilogie "ist ein besonders anschauliches Beispiel dafür, wie Hong - darin Verwandter von Meisterregisseur Eric Rohmer -, archetypische Begehrensmuster zu philosophischen Etüden über die Zerrissenheit seiner Figuren weiterspinnt." Dass der Regisseur sich auch mit diesem Film treu bleibt, zeigen auch die drei Clips aus dem Film, die auf Youtube stehen: In allen dreien sitzen ein Mann und eine Frau am Tisch - im dritten fehlen auch die typischen Bierflaschen nicht - und reden.



David Steinitz erzählt in der SZ die Geschichte der Besetzungscouch - und verweist dabei auch Kenneth Angers berüchtigten, genüsslich Skandale auswälzenden Klassiker "Hollywood Babylon" auf seinen Platz: Hier werde die Casting Couch "zum Mythos, zu einer anrüchigen, aber durchaus branchenüblichen Institution, die von Männern und Frauen gleichermaßen als Mittel zum Zweck benutzt wird. Das mag in manchen Fällen natürlich zutreffen, doch zeigen gerade die Vorwürfe gegen den Produzenten Harvey Weinstein, dass es sich bei der Couch auch schlicht und einfach um ein verharmlosendes Synonym für Missbrauch handeln kann."

Im Freitag befasst sich Isabella Reicher mit den "recaps", den kurzen Sequenzen vor neuen Serien-Episoden, die die bisherigen Geschehnisse zusammenfassen: Diese Form der filmischen Mini-Zusammenfassung sei dank des Wandels im Rezeptionsverhalten vom Aussterben bedroht - und wandere vor allem im englischsprachigen Raum ab ins Internet, wo die wöchentliche Kolumne zu neuen Episoden populärer Serien mittlerweile ein eigenes journalistisches Genre bildet.

Besprochen werden der Dokumentarfilm "78/52", der Schnitt und Schnitt und Stich für Stich die berühmte Duschszene aus Alfred Hitchocks "Psycho" seziert (Standard), die neuen Folgen von "Curb Your Enthusiasm" mit Larry David (FR), der Tennisfilm "Borg/McEnroe" (ZeitOnline) und der Thriller "Der Schneemann" mit Michael Fassbender (FAZ).
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