Efeu - Die Kulturrundschau

Das große Berliner Impro-Theater

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.09.2017. Die Volksbühne ist geräumt, die Feuilletons quellen über von abschließenden Bewertungen. Es war das Theaterevent des Jahres, ruft die taz. Ein Riesen-Kindergarten, meint der Tagesspiegel. Berlin ist halt ein Neunzigerjahre-Erlebnispark, seufzt die Zeit. Außerdem: Zeit online porträtiert den Filmregisseur Adrian Goiginger, der in seinem Debüt "Die beste aller Welten" von seiner Kindheit mit einer heroinabhängigen Mutter erzählt. Und die Musikkritiker streiten sich, ob Miley Cyrus als Sexfratz besser ist oder als braves Mädchen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.09.2017 finden Sie hier

Film



Anke Sterneborg porträtiert für ZeitOnline den gerade mit dem First-Steps-Award ausgezeichneten Regisseur Adrian Goiginger, der in seinem Debüt "Die beste aller Welten" von seiner Kindheit mit einer heroinabhängigen Mutter erzählt - und das auf eine liebevolle Weise, wie auch Andreas Busches Besprechung im Tagesspiegel zu entnehmen ist: Goiginger bewege sich "in einer schönen Tradition, den Filmen Larry Clarks oder Uwe Frießners vergessenem Jugenddrama 'Das Ende des Regenbogens'. Ohne Sentimentalität erzählt 'Die beste aller Welten' aus dem Alltag einer Drogensüchtigen, den Ups and Downs, den Rückfällen in die Arme des Dämons."

Michael Pekler und Dominik Kamalzadeh haben sich für den Standard mit Michael Loebenstein zusammengesetzt, der die Nachfolge von Alexander Horwath am Österreichischen Filmmuseum antreten wird. Horwaths Tradition wolle er fortführen, er habe aber "einen stärkeren wissenschaftlichen Hintergrund" als der vormalige Leiter, sagt er. Auch um die Frage nach analoger oder digitaler Bewahrung des Filmerbes geht es: Ihm schwebt eine "hybride Lösung" vor: "Solange es geht, muss man analog, auf Film, sichern. Film ist das sicherste Format. Aber es ist illusorisch zu glauben, dass man die ganze Filmgeschichte über einen Kamm scheren kann. Es gibt Formate, bei denen die analoge Sicherung nicht medienadäquat wäre. Man muss auch digital sichern, und es braucht eine klare politische Strategie für beides."

Weiteres: Auf SpOn geht Frédéric Jaeger in seiner Branchen-Quartalskolumne hart ins Gericht mit der hiesigen Filmbranche, die zwar allenthalben nach mehr Geld verlange, sich dann aber vor allem auf gefälliges Mittelmaß in gut ausgeleuchteten Bildern versteife. In der Berliner Zeitung gehen Frank Junghänel die Augen über angesichts des Produktionsstandards von Tom Tykwers, Hendrik Handloegtens und Achim von Borries' Serie "Babylon Berlin", die ab Oktober auf Sky laufen wird. Im Tagesspiegel spricht Christiane Peitz mit Rainer Rother über mögliche Pläne für ein mögliches Filmhaus in Berlin.

Besprochen werden die Neuverfilmung von Stephen Kings Horrorklassiker "Es" (FR, Tagesspiegel, unsere Kritik hier), Marion Hänsels "Stromaufwärts" (Tagesspiegel), Stephen Frears' "Victoria und Abdul" (FR, Standard, Zeit), Julian Roman Pölslers "Wir töten Stella" mit Martina Gedeck (Standard) und die Arte-Fernsehserie "Unerwünscht" (FR).
Archiv: Film

Bühne

Die Volksbühne ist friedlich geräumt worden (mehr dazu hier), nachdem die meisten Besetzer schon vorher das Haus verlassen hatten. Im Tagesspiegel zeichnen Christiane Peitz, Ronja Ringelstein und Hannes Soltau die Ereignisse nach, die so typisch sind für das heutige Berlin: "Die Politik, das Theater, die Besetzer, sie nehmen sich gegenseitig nicht ernst. So endet dieser Streit um ein Haus fürs Erste nicht im Eklat, nicht im Skandal, sondern als Riesen-Kindergarten. 'Da wir keine Besetzung sind, kann es auch keine Räumung geben', beharren die Besetzer bis zuletzt. Räumen oder Nicht-Räumen, Tegel auf oder zu, Mieten runter statt rauf, marode Schulen, arbeitsunfähige Bürgerämter. Das große Berliner Impro-Theater: Die Stadt wurschtelt sich durch. Mit der nun ex-besetzten Volksbühne hat sie jetzt auch das Theater, das sie verdient."

In der taz schwärmt Gereon Asmuth von den Besetzern: "Was für eine Farce. Und was für ein Verlust für Berlin. Denn das, was die Besetzer in wenigen Tagen auf die Beine gestellt haben, war ohne Zweifel das Theaterevent des Jahres. Gemessen an den klassischen Maßstäben des Feuilletons war der kulturelle Output gering. Doch der Hauptact war das Plenum, bei dem täglich Hunderte mit aller Leidenschaft um die Zukunft dieses Theater gerungen haben. Und um die der Stadt."

Auf Zeit online sieht Robin Detje das ganze sehr unsentimental: "Um die Geschichte ganz zu verstehen, muss man wissen: Berlin ist eine Stadt, in der das Wort Veränderung Panikattacken auslöst. Es gibt einen quasi von oben verordneten Nostalgiezusammenhang. Offiziell angestrebt wird eine Art Neunzigerjahre-Erlebnispark: kein Wohnungsbau auf dem Tempelhofer Feld, Tegel muss offen bleiben, Überlassung der Volksbühne an die Familie Castorf in Erbpacht zum ewigen Weiterwüten, die DDR war eigentlich gar nicht so schlecht und Sven Marquardt lässt immer alle ins Berghain rein. (Nur die Touristen nicht.) Will man sich als Künstler*in in Berlin mit der realen Gegenwart auseinandersetzen, hat man eher ein Problem. Schon wer 'Gegenwart' sagt, wird mindestens schief angeguckt."

Außerdem: Aus dem eigentlichen Konflikt mit Chris Dercons Konzept ist jetzt auch die Luft raus, bedauert Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung: "Wer hat jetzt noch Lust, sich über die Volksbühne zu streiten?" Auf faz.net giftet der ehemalige Volksbühnen-Dramaturg Carl Hegemann gegen Chris Dercon. Daniele Muscionico hofft in der NZZ, dass Chris Dercon jetzt endlich eine Chance bekommt: "Und vielleicht, wie andere in der Kunst auch, sogar mehr als eine." Auf faz.net fragt Simon Strauss: "Was wäre beispielsweise, wenn die ebenfalls jugendliche, spontihaft-rechtspopulistische 'Identitäre Bewegung' auf die Idee käme, hier ein Politbüro aufmachen zu wollen? Würden man ihnen dann nicht auch einen Platz einräumen müssen? Diese Gewissensfrage muss man sich schon stellen." Und: "Eine Niederlage auf ganzer Linie. Für alle Beteiligten", bedauert Nikolaus Merck in der nachtkritik.

Jürgen Flimm, Intendant der Staatsoper Berlin, die nun doch noch fertig wird, erzählt in einem ausufernden Interview mit Jan Brachmann in der FAZ, wie die Intendanten der Berliner Opern es hinbekommen haben, den Berliner "Drei-Opern-Streit" klein zu halten: "Wir drei Intendanten waren damals ja alle neu: Barrie Kosky an der Komischen, Dietmar Schwarz an der Deutschen Oper und ich. Eine Sache hatten wir uns damals in die Hand geschworen: Wir machen keinen Krach, vor allem nicht öffentlich. Wir gehen manchmal essen und quasseln uns leer. Das funktioniert und ist sehr beglückend."

Besprochen werden Dusan David Parizeks Inszenierung von Kafkas "Amerika" am Deutschen Theater Berlin (nachtkritik, Berliner Zeitung) und die Uraufführung von Anja Hillings Stück "Wie kann ich dich finden, zu mir ziehen und überreden zu bleiben (UA)?" am Nationaltheater Mannheim (nachtkritik).
Archiv: Bühne

Literatur

Im Logbuch Suhrkamp erzählt Anna Kim vom Exil. Besprochen werden Alain Claude Sulzers "Die Jugend ist ein fremdes Land" (NZZ) und Thomas Lehrs "Schlafende Sonne" (FR).

Archiv: Literatur

Kunst

Im Tagesspiegel stellt Christiane Meixner die vier Finalistinnen des Preises der Nationalgalerie für junge Kunst vor, deren Arbeiten im Hamburger Bahnhof gezeigt werden. Laut Nicola Kuhn (Tagesspiegel) übergibt die Familie Bastian ihr Chipperfield-Haus nun doch der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Auf Art stellt Raphael Dillhof Jo Preußlers Band "The Death of Graffiti" vor.

Besprochen werden die große Raffael-Schau in der Wiener Albertina (taz) und die Ausstellung "Max Beckmann. Welttheater" in der Bremer Kunsthalle (taz).
Archiv: Kunst

Musik

Skandal! Kreuzbrav geworden ist der einstige "Sexfratz" (Dietmar Dath, FAZ) Miley Cyrus für das neue Album "Younger Now"! Viel zu brav, meinen manche Kritiker. In der SZ trägt Jens-Christian Rabe daher schon schwarz: Vom verdrogten Anarcho-Krawall von Cyrus' letzten Platten sei keine Spur mehr geblieben: Stattdessen "gibt's nur dengelndes Country-Gedudel mit Patentante Dolly Parton wie in 'Rainbowland', blütenweiße Up-tempo-Balladen mit großem Emo-Gejaule in "Malibu", launige Langeweile mit Steel-Guitar-Gequengel, mit Geigengefiedel wie in 'Inspired'. Papa und Country-Star Billy Ray Cyrus ist stolz. Braves Mädchen." Donna Schons wünscht sich in der taz daher "die alte Miley zurück" und tröstet sich bis dahin mit dem politischen Engagement der Musikerin. Fabian Wolff schert auf ZeitOnline jedoch aus: "Mal ganz vorsichtig in den Raum gefragt: Ist Miley Cyrus die weiße Rihanna?"

Weiteres: In der taz porträtiert Ali Çelikan den türkischen Pianisten Fazıl Say, der wegen seiner regierungskritischen Haltung "verunglimpft, bedroht und angeklagt" wird. Für den Freitag trifft sich Johanna Montanari mit der Sängerin Barbara Thalheim. Zum Tod von Joy Fleming schreiben Rene Hamann (taz) und Christian Schröder (Tagesspiegel).

Besprochen werden die neue EP von Kamasi Washington (Pitchfork), ein Kinodokumentarfilm über die deutsche Produzentenlegende Conny Plank (Welt), ein Dokumentarfilm über die österreichische Punkband Chuzpe (Standard) und ein Konzert von Midori Takada (Tagesspiegel).
Archiv: Musik