Efeu - Die Kulturrundschau

Manchmal auch ein Fisch

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27.09.2017. Die FAZ schildert die Atmosphäre der Angst , die in Moskaus Kunst- und Kulturszene um sich greift. Die Welt gibt Berlins Kultusenator Klaus Lederer die Schuld an der Besetzung der Volksbühne. Der Standard lernt beim Steirischen Herbst von Walid Raad, Fakten und Spukgeschichten voneinander zu unterscheiden. Die SZ untersucht, warum so wenig Frauen bei der Slam Poetry gibt. Und die taz hört Cloud Rap.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.09.2017 finden Sie hier

Kunst


Walid Raads "Kicking the Dead" beim Steirischen Herbst.

Einfach fantastisch findet Colette M. Schmidt im Standard die Performance des libanesisch-amerikanischen Künstlers Walid Raads, der mit "Kicking the Dead" beim Steirischen Herbst einen schönen Korb aus Fiktion und Fakten flicht: "Wer sich das Ganze allein als Ausstellung ansieht, hat auch viel zu entdecken, es lohnt sich aber unbedingt, an einem 'Walk Through' mit dem Künstler teilzunehmen. Eingebettet in Spukgeschichten liefert Raad hunderte Fakten: etwa darüber, wie seine Hochschule, eine der Einzigen in den USA, wo das Studium gratis angeboten wurde, durch Finanzspekulationen hochverschuldet wurde; und wie die Studierenden angesichts drohender horrender Studiengebühren monatelang das Büro des Rektors besetzt hielten. Vom Hauptsitz dieser Hochschule ausgehend, erklärt Raad, wie einige wenige Versicherungskonzerne und Immobilienhaie nicht nur New York fest im Griff haben."

Christian Saehrendt geht in der NZZ detailliert der Frage nach, wie die Dokumenta bei einem großzügigen Etat von 29 Millionen Euro (der Ende letzten Jahres nochmal auf 34 Millionen erhöht wurde) so ein finanzielles Debakel hinlegen konnte. Ausgaben, die besonders für den Ableger in Athen viel größer wurden als erwartet, seien vertuscht worden, resümiert Saehrend, außerdem hätten etliche Documenta-Mitarbeiter Bargeldbeträge in einer Höhe von bis zu 10.000 Euro mit nach Griechenland geschmuggelt, weil man dort pro Woche nur 120 Euro vom Automaten abheben kann. So sei eine genaue Buchhaltung unmöglich geworden und man habe die Übersicht verloren, erfährt Saehrens durch Gespräche mit hessischen Lokalpolitikern.

Weiteres: Sean O'Hagan gibt im Guardian eine großzügig bebilderte Einführung in die Arbeit des Fotografen Thomas Ruff, dem die Whitechapel Gallery in London eine große Retrospektive widmet. In der New York Times berichtet Matthew Haag, dass das Guggenheim Museum dem Protest von Tierschutz-Aktivisten nachgegeben hat und aus der geplanten Ausstellung "Art and China After 1989" drei Werke entfernt, in denen Tiere aufeinander losgelassen werden. Alexander Menden besucht für die SZ in der Ferens Art Gallery in Hull in Yorkshire die Schau der Nominierten zum Turner-Preis. In der FAZ berichtet Gina Thomas.

Besprochen wird eine große Schau des New Yorker Starkünstlers Jean-Michel Basquiat in der Barbican Art Gallery (Guardian).
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Bühne

Mit dem Prozess gegen den Regisseur Kirill Serebrennikow greift in Moskau eine "Atmosphäre der Angst" um sich, berichtet in der FAZ Friedrich Schmidt, der sich vor allem mit der Theaterkritikerin Marina Dawydowa unterhalten hat. Und sie sieht hier nicht nur die übliche Einschüchterungstaktik der national-religiösen Zirkel: "Der Fall Sebrennikow sei anders. Er betreffe nicht nur ihn, sondern die Leute, die ihn stützten, bis hinauf zu Medwedjew, sagt die Theaterexpertin. Die Spaltung gehe nicht bloß durch die Elite, sondern durch alle Segmente der Gesellschaft, versichert sie. Ein kleiner Teil wolle weiter gesellschaftliche Modernisierung und wolle die kulturellen Verbindungen zum Westen nicht kappen. Doch der große Teil habe 'archaische Wünsche'."

Am Tag fünf der Besetzung der Volksbühne fassen Christiane Peitz und Hannes Soltau die Ereignisse um die Volksbühne zusammen. Die Volksbühne braucht gerade jetzt kein Laissez-faire, sondern "klare kuratorische Kante", meint Jens Uthoff in der taz und stört sich am schlichten Schwarzweiß-Denken der Castorf-Anhänger: "Aus der neuen Intendanz von Chris Dercon wurde - bevor sich der Vorhang zum ersten Mal geöffnet hatte - eine simple Erzählung. Alte Frank-Castorf-Volksbühne: subversiv, links, revolutionär, Berlin. Neue Dercon-Volksbühne: neoliberal, reaktionär, snobistisch, Nichtberlin." Ulrich Seidler findet in der Berliner Zeitung das Spiel der Besetzer "perfide": "Sie machen nicht nur keine Kunst, sondern auch keine Politik." Besonders ärgert ihn, dass die Besetzer jede Kritik an Chris Dercon diskreditiert haben: "Sie zerstören den demokratischen Zusammenhang, in dem sich die Debatte um die Volksbühne bisher abspielt. Sie setzen sich in aller Selbstzufriedenheit auf diesen Konflikt und verderben ihn."

In der Welt nimmt Felix Stephan Kultursenator Klaus Lederer ins Visier, und auch Swantje Karich zeigt sich erbost: "Er hat die Besetzung der Volksbühne geradezu provoziert und damit den Zauberlehrling gegeben. Mit der Art und Weise, wie er Chris Dercon zum Abschuss freigegeben hat, machte er die Volksbühne zum  rechtsfreien Ort", schreibt Karich und rät Dercon, auch weiterhin öffentlich zu schweigen: "Mit Coolness und Gelassenheit würde Chris Dercon endlich seine Rolle als Opfer hinter sich lassen und die realen Probleme angehen - und die sind groß."

Weiteres: Dresden braucht jetzt viel Theater, glaubt Helmut Schödel in der SZ und sieht vom neuen Intendanten Joachim Klement einen guten Anfang gemacht. taz-Kritikerin kommt mit gemischten Gefühlen aus Ersan Mondtags greller Inszenierung "I am a Problem" im Frankfurter Museum für Moderne Kunst: "Alles ist Einsamkeit und Gewalt, die Menschwerdung so brutal wie ihr Abgang."

Besprochen werden Philippe Quesnes Stück "Die Nacht der Maulwürfe" am Berliner HAU ("Das ist mal echter Underground!", jubelt Patrick Wildermann im (Tagesspiegel), Stefan Bachmanns Inszenierung des "Peer Gynt" am Schauspiel Köln (Kölner Stadt-Anzeiger, FAZ) und eine "Tannhäuser"-Inszenierung des irischen Regisseurs Patrick Kinmonth in Köln (FAZ, hier noch ein Interview mit Kinmonth im Kölner Stadt-Anzeiger).
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Literatur

Nach der Kontroverse um Sexismus im Literaturbetrieb sondiert Anna Fastabend für die SZ die Lage bei den Poetry Slams, die sich seit ihren subkulturellen Ursprüngen in den Neunzigern als festes Forum im Betrieb etabliert haben. Anfangs noch eine ziemliche Männerdomäne, habe sich zumindest der Anteil der Frauen mittlerweile deutlich erhöht, erfahren wir. In den Details gebe es aber noch immer Schieflagen, erzählt ihr Elisa Fischer, Mitgeschäftsführerin des Hamburger Veranstalters Kampf der Künste: "Slam-Poetinnen seien vor allem von 16 bis 20 Jahren in der Szene aktiv, Poeten von 22 bis 35 Jahren, sagt sie. Ihre Vermutung: Mädchen interessieren sich früher für Poetry-Slam als Jungen und wandern nach den ersten literarischen Gehversuchen in der Szene in den klassischen Literaturbetrieb ab. Vielleicht hören viele auch auf, weil sie sich nicht willkommen fühlen."

Besprochen werden Oskar Roehlers "Selbstverfickung" (FAS), Upton Sinclairs "Boston" (NZZ), Dezső Kosztolányis "Nero, der blutige Dichter" (NZZ), Sabrina Janeschs "Die goldene Stadt" (Zeit) und Marion Poschmanns "Die Kieferninseln" (FAZ).
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Film

"Noch nie gab es so viel Freiheit im Bezug auf die Länge einer filmischen Erzählung", stellt Barbara Schweizerhof im Freitag fest. Der Grund dafür: Fernsehserien sind längst nicht mehr an Sendeplätze, Programmpläne und Werbepausen gebunden. Wobei sich "die Freiheit von solchen Zwängen" bislang auch bei den neuen Streaming-Serien noch nicht recht zeige: Auch Amazon und Netflix orientieren sich am gängigen Staffel-Volumen und Episoden-Laufzeiten. "In sich aber sind die einzelnen Serien völlig anders und uneinheitlich organisiert: Nicht nur, dass sie sich in puncto 'horizontales versus vertikales Erzählen' unterscheiden, sie folgen eigentümlichen Gesetzen des Spannungsbogens. ... Sie sind irritierend, die neuen Freiheiten, die alte Formen und Erwartungen verabschieden, aber die nächste Reglementierung kommt bestimmt. Bis dahin sei das Chaos genossen, es wird, frei nach Brecht, die schönste Zeit gewesen sein."

Besprochen wird die Neuverfilmung von Stephen Kings Horrorroman "Es", der FAZ-Kritiker und King-Spezialist Dietmar Dath attestiert, der "beste Achtziger-Jahre-Steven-Spielberg-Film zu sein, der weder von Spielberg noch aus den Achtzigern stammt"
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Architektur

Amy Frearson erklärt in Dezeen, wie der Architekt Ole Scheeren einen alten Büroturm in Frankfurt in einen Jenga-artigen Wohnkomplex mit 200 Wohnungen und Blick auf den Main umbauen will.
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Stichwörter: Scheeren, Ole

Musik

Für die taz schaut sich Beate Scheder im Cloud Rap um, der derzeit im deutschsprachigen Raum von Wien bis Berlin boomt. Cloud Rap? Das ist "ein HipHop-Subgenre, das sich durch Sounds auszeichnet, die so sphärisch herumwabern, wie man Wolken in Musik übersetzen könnte", erfahren wir. Und: "Das Internet ist liebstes Kommunikations- und Distributionsmedium von Cloudrappern. Weitere Erkennungsmerkmale: Autotune-Effekt, Trap-Beats, Dada-Texte, Lo-Fi-Ästhetik. Aber auch DIY-Unbekümmertheit und ein grotesk überzeichnetes Spiel mit HipHop-Insignien. ... Cloudrapper sind das Gegenmodell zum hypermaskulinen aufgepumpten Gangsta-Typ." Typische Vertreter seien Insbesondere Rin und Yung Hurn.



Im SZ-Interview mit Jonathan Fischer zeigt sich Reggae- und Dub-Pionier Lee "Scratch" Perry mal wieder von seiner paradiesvogeligsten Seite: "The bear goes upstairs and the bear swear and take some beer… sure to catch the fish, while it flies to the ear", flüstert er Fischer ins Ohr, der daraufhin feststellt: "Ein Interview mit Lee Perry gleicht dem Versuch, Wasser mit einem Sieb einzufangen. Immerhin hat er diesmal kein Geld verlangt." Und Perry weiter: "'Mein Geheimnis? Ich bin kein menschliches Wesen, sondern ein Moskito, und manchmal auch ein Fisch. Mein Metier sind Wasser-Wissenschaft, Wasser-Erziehung, Wasser- Erscheinungen.' Meckerndes Gelächter."

Wolfgang Sandner staunt über den beträchtlichen Erfolg, über den sich Michael Wollny seit einiger Zeit freuen darf. Sogar der Klassikbetrieb empfängt den Jazzpianisten mit offenen Armen - eine Seltenheit.  Woran liegt's? Zum einen an Wollnys Vielseitigkeit, zum anderen an seiner Unbekümmertheit beim Überschreiten von Grenzen im Verbund mit "ausgeprägter ästhetischer Sensibilität", erklärt Sandner in der FAZ. Hier ein Liveauftritt mit Vincent Peirani, der einen guten Eindruck von Wollny Spiel mit den Stahlsaiten bietet:



Weiteres: Im "Unknown Pleasures"-Blog des Standard verneigt sich Karl Fluch tief vor Gene Clarks glücklosem Album "No Other" aus den 70ern, dessen ausbleibender Erfolg dem einstigen Byrds-Musiker das Herz gebrochen hat. Und in der SZ-Popkolumne staunt Jan Kedves über den momentanen Erfolg von Cardi B, die als erste Solo-Rapperin seit 19 Jahren die amerikanischen Charts anführt.



Besprochen werden ein Konzert von Beth Ditto (Standard) sowie die Autobiografie von Ex-Kraftwerk-Musiker Karl Bartos (Standard).
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