Efeu - Die Kulturrundschau

Konkrete Poesie unter konkreten Umständen

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25.09.2017. Am Berliner Ensemble hat Oliver Reese seine Intendanz mit Brechts "Kaukasischem Kreidekreis" gestartet: Die Nachtkritik sah einen mozärtlichen Elefanten tanzen. Die SZ freut sich, dass in Berlin noch gutgelauntes Theater möglich ist. Der Tagesspiegel ätzt gegen Kultursenator Klaus Lederer, der mit der Besetzung die Volksbühne zur Eventbude verkommen lasse. Der Standard ließ sich beim Steirischen Herbst Asche, Lava und Knochen auf Porzellantellern servieren. Und die NZZ lernt von Manon, sich von der Zeit zu befreien.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.09.2017 finden Sie hier

Bühne


Stefanie Reinsperger als Grusche im "Kaukasischen Kreidekreis" am Berliner Ensemble. Foto: Matthias Horn

Im Berliner Esemble hat Oliver Reese seine Intendanz eröffnet. Nachtkritikerin Esther Slevogt wäre in Michael Thalheimers Inszenierung des "Kaukasischen Kreidekreis" zwar beinahe in Theaterblutströmen ertrunken, fand aber einen Rettungsanker: "Das Drama ist im Grunde auf das reine Rührstück der Magd Grusche reduziert, die unter Einsatz ihres Leben und ihres Glücks das Kind ihres Herren annimmt und rettet: wie sie unterwegs barmt und leidet, zittert und bebt, mit der Entscheidung hadert, ihre Liebe opfert und doch nicht anders kann. Allerdings wird diese Magd von Stefanie Reinsperger gespielt, einer Schauspielerin mit archaischer, fast animalischer Wucht, auf die die berühmte Beschreibung des Regisseurs Jürgen Fehling für Heinrich George passt, der den großen Schauspieler als 'mozärtlichen Elefanten' beschrieb. Wie Reinspergers Grusche mit ihrer geballten physischen Präsenz in den Abend linkisch die zärtlichsten und zartesten Momente tupft: in blauem Kittelkleid und mit überdimensionierten blonden Zöpfen."

In der taz schreibt Katrin Bettina Müller verhalten. In der SZ freut sich Peter Laudenbach: "Im schrecklichen Berlin ist es noch möglich, ein Theater gut gelaunt, ausgesprochen professionell und ohne störende Nebengeräusche zu eröffnen."

Sonderlich sympathisch erscheinen die Politaktivisten der SZ-Kritikerin Mounia Meiborg nicht, die seit dem Wochenende die Berliner Volksbühne besetzt halten: "'Staub zu Glitzer' nennt sich die Gruppe, die die Aktion nach eigenen Angaben monatelang vorbereitet hat. Die Besetzung bezeichnen sie als 'transmediale Theaterinszenierung', die den Titel B61-12 trägt. So heißt das neueste Sprengkopf-Modell der amerikanischen Atombombe, die gefährlichste Waffe der Welt. Klingt nicht gerade friedlich. Bescheiden auch nicht." Peter Laudenbach fürchtet in der SZ, dass sich die Besatzung der Volksbühne zu einer langwierigen Sache ausweiten könnte, im Stile von Hamburgs Roter Flora: "Falls man, um sich gegen die Gentrifizierung zu wehren, Häuser besetzen möchte, wären leer stehende Spekulations-Immobilien geeignetere Objekte." Geht's überhaupt um Kunst?, fragt Jens Uthoff in der taz: "Sarah Waterfeld, Autorin und ehemalige Mitarbeiterin der Linkspartei, gehört dem Kollektiv an. Sie sagt, es gehe um die kuratorische Ausgestaltung des Orts."

Im Tagesspiegel ätzt Rüdiger Schaper gegen Berlins Kultursenator Klaus Lederer: "Lederer hilft mit, die Volksbühne nach zwei Jahren bitterer, aber auch theaterfachlicher Diskussion zur Quatsch- und Eventbude zu machen, zum rechtsfreien Raum. Lederer hat kein Gefühl für die Sensibilität und Verletzlichkeit eines Theaterorganismus. Er vergisst: Die Arbeit von Frank Castorf und seinen Theaterkünstlern ist hochprofessionell, ästhetisch höher einzuschätzen als politisch."

In der FR sieht Harry Nutt den Vorgang eher als Selbstdemontage der Volksbühne: "So unterhaltsam das Spektakel für nicht wenige auch sein mag, entpuppt sich die quälende Volksbühnenaffäre mehr und mehr als kulturpolitische Bankrotterklärung. Und so ist das stolze Haus zu dem geworden, was man unbedingt verhindern wollte: eine Eventbude."

Besprochen werden Philippe Manourys Musiktheaterstück "Kein Licht", das auf Texten von Elfriede Jelinek basiert und ein Gedankenspiel zum Reaktorunfall von Fukushima ist (NZZ), Gorkis Drama "Kinder der Sonne" im Münchner Residenztheater (Schwäbische Zeitung, nachtkritik, SZ, FAZ), Johan Simons' Inszenierung von Don DeLillos "Cosmopolis" zum Abschluss der Ruhrtriennale in Bochum (DlFKultur, Spon, Welt, nachtkritik, FAZ), Ernest Thompsons Stück "Das Haus am See" im Wiener Volx/Margareten (Standard) und Felix Haffners Inszenierung von Nestroys "Höllenangst" am Wiener Volkstheater (Standard).
Archiv: Bühne

Kunst

Manon: Einst war sie Miss Rimini, 2003. Foto: Manon
"Die Zeit, diese unbarmherzige, erbarmungslose Feindin" ist die Obsession der Schweizer Performancekünstlerin Manon, deren Arbeiten eine Mischung aus Installation und Schauspiel sind. Daniele Muscionico hat in der NZZ mit der Künstlerin gesprochen. Auf die Frage, was sie machen würde, wenn sie nicht "Gefangene der Zeit" wäre, antwortet Manon: "Oh, ich würde mir wünschen, mehrere Leben parallel zu leben. Nicht umsonst ist das Thema 'Identität' mein Lebensthema geworden. Dies hat sich bereits 1980 beim 'Ball der Einsamkeiten' niedergeschlagen oder 2003 bei 'Einst war sie Miss Rimini', wo ich verschiedene Identitäten annehmen konnte. Diese Arbeiten habe ich geliebt. Am allerliebsten waren mir die verzagten, zerbrechlichen, disparaten Frauenfiguren."

Im Standard berichtet Colette Schmidt vom Steirischen Herbst, dessen Hauptschau "Prometheus Unbound" in der Neuen Galerie in Graz erkundet, wo Europas Kunst gerade steht: "Die raumfüllenden Arbeiten von Friedemann von Stockhausen und Lothar Baumgarten spielen mit archaischen Elementen. Etwa Stockhausens zusammengeschnürte, am Boden liegende Fellbündel, in denen man ein Menschenopfer erahnen könnte, oder die Installation Baumgartens, die im Material direkt auf den Feuerbringer Prometheus anspielt: Asche, Lava, Knochen, Federn in einem schweren Schaukasten, der auf gebranntem, filigranem Zivilisationsmaterial lastet - auf vier Stapeln Porzellantellern."

Weitere Artikel: Christiane Meixner berichtet im Tagesspiegel vom Museum für zeitgenössische afrikanische Kunst, Mocaa, das der einstige Puma-Manager Jochen Zeitz in Kapstadt eröffnet hat. Joseph Hanimann berichtet in der SZ von der Fotobiennale im Pariser Institut du monde arabe. Der Wiener Bildwissenschaftler Klaus Seidel denkt in der FAZ darüber nach, wie das Verstörende in Kunst kommt.
Archiv: Kunst

Literatur

Wenn Studierende die Abnahme von Eugen Gomringers Gedicht "avenidas" von der Fassade der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin fordern, sei das kein Angriff auf die Kunstfreiheit, meint die Lyrikerin Barbara Köhler, Preisträgerin des Alice-Salomon-Poetik-Preises, in der FAZ. Denn: Mit der Anbringung des Textes an ein Gebäude ändern sich auch grundlegend die Rezeptionsbedingungen des Gedichts - dessen Träger sei nun nicht mehr nur ein Stück Papier und der Autor, sondern tatsächlich ein ganzes öffentliches Gebäude samt der Personen darin. "Konkrete Poesie unter konkreten Umständen", nennt Köhler das. Und auf diesen Text im öffentlichen Raum wurde "eigentlich ganz zivilisiert und demokratisch reagiert." Der Text "wurde respektiert, es wurde diskutiert, über einen langen Zeitraum, Wörter zu Wörtern, und jetzt gibt es eine Ausschreibung der Hochschule, die auch den Erhalt des Textes explizit als Option einschließt; es müsste sich dafür halt nur jemand finden, der oder die überzeugend genug dahintersteht."

Weiteres: In ihrer Reihe mit russischen Tagebucheinträgen aus dem Jahr 1917 bringt die SZ Auszüge aus den Notizen des Dichters Rurik Iwnew. In Frankfurt hat Thomas Lehr seinen neuen Roman "Schlafende Sonne" vorgestellt, berichtet Judith von Sternburg in der FR. Für die FR hat Ilija Trojanow bei Málaga eine Flaschenpost ins Meer geworfen. Denis Scheck fügt in der Welt Nabokovs "Lolita" seinem Kanon hinzu.

Besprochen werden Xiao Bais "Die Verschwörung von Shanghai" (FR), Marion Poschmanns "Die Kieferninseln" (Standard), Olivier Rolins "Meroe" (SZ) und Davide Morosinottos "Die Mississippi-Bande" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Marleen Stoessel über Klaus Heinrichs "Aus dem Tagebuch Noah":

"Heute war der Tag regnerisch gestern
hat es geregnet Wasser
falten sich über dich Wasser
..."
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Film

Im Standard plaudert Christian Egger mit John Waters, der das Wiener Slash-Filmfestival besucht. Unter anderem gibt er im Gespräch zum Besten, wie er 1981 "Polyester" mit Rubbel-Geruchskarten in die Kinos brachte. Die Firma, die solche Karten herstellte, besaß "eine Bibliothek mit Gerüchen, und ich konnte natürlich nicht sagen 'bitte eine Million Fürze', also bestellte ich eine Million fauler Eier. Ich war diesbezüglich einfallsreich, und wir haben alle Karten gedruckt bekommen. Und als der Film erschien, lachten sie auch und waren gar nicht sauer. ... Ich habe noch die Originale in meiner Garage untergebracht, weil sie immer noch stinken. Sie scheinen kein Ablaufdatum zu haben."



Besprochen werden Ildikó Enyedis "Körper und Seele" (Standard), die Agentenkomödie "Kingsman: The Golden Circle" (Standard), Rolf Olsens auf BluRay veröffentlichter BRD-Actionthriller "Blutiger Freitag" aus den frühen 70ern (Freitag) und Sean Penns auf DVD veröffentlichter Film "The Last Face", der offenbar so missglückt ist, dass er SZ-Kritiker Philipp Bovermann "beschämt zurück" lässt.
Archiv: Film
Stichwörter: Waters, John, Geruch, Penn, Sean, BRD

Musik

Der Soulsänger Charles Bradley ist seinem Krebsleiden erlegen. Erst mit über 60 Jahren, ab 2011, hat der langjährige James-Brown-Impersonator mit eigenen Platten beachtliche Erfolge feiern können. Sein Durchbruchsalbum "'No Time For Dreaming' ließ den klassischen Soul der Südstaaten wiederauferstehen", schreibt Karl Fluch im Standard. "Mit Bradley hatte es einen Mann, der seine Sujets mit Leben erfüllte, wie nur jemand mit seiner Biografie es konnte. Er sang Geschichten von ganz unten, aus dem Leben, das er kennengelernt hatte. Mit einer Intensität, die sonst nur auf Tondokumenten von früher zu hören war." Jonathan Fischer kommt in seinem knappen Nachruf in der SZ auf die Fragilität von Bradleys Live-Shows zu sprechen: "Seine Gesten schienen der Verletzlichkeit seines Gesangs hinterherzuhinken, während sein Gesichtsausdruck stets mit einem Ausdruck zwischen Verzweiflung und schmerzhafter Ekstase kämpfte." 2016 führte der amerikanische Rolling Stone ein großes Interview mit ihm. Ein weiteres großes Gespräch hat Popmatters mit ihm geführt.




Weiteres: In der Jungle World porträtiert Arne Hartwig die Retro-Hardrocker Kadavar. Besprochen werden Moses Sumneys "Aromanticism" (Spex), das neue Album von Cold Specks (Tagesspiegel), das neue Album von Wolves in the Throne Room (The Quietus), das Comeback-Album "Music fot the Age of Miracles" von The Clientele (Pitchfork) und eine Box mit Aufnahmen von Isaac Hayes aus den 60ern und 70ern (Pitchfork).
Archiv: Musik