Efeu - Die Kulturrundschau

Das Drama wütet subkutan

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21.08.2017. Im monopol-magazin erklärt der chinesische Künstler Wang Quingsong, wie junge Chinesen den Kommunismus nutzen. Die Feuilletons feiern Krzysztof Warlikowskis Ruhrtriennalen-Auftakt "Pelleas und Melisande". Die Welt verteidigt die religiösen Kacheln von Markus Lüpertz in der Karlsruher U-Bahn. Die Zeit tanzt friedlich zu Techno im Nahen Osten. Und die Kritiker trauern um Jerry Lewis.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.08.2017 finden Sie hier

Kunst

In der Welt kommentiert Hans-Joachim Müller die "Posse" um die Keramikkacheln mit Szenen aus der Genesis, die der Maler Markus Lüpertz in der Karlsruher U-Bahn anbringen will. Peter Weibel, Direktor des Karlsruher Zentrums für Kunst und Medien (ZKM), hatte der zuständigen Kommission in einem SZ-Interview Sakralisierung des öffentliche Raums ohne Beteiligung der demokratischen Öffentlichkeit vorgeworfen (unser Resümee.) Tief durchatmen, meint Müller: "Was wäre denn so schrecklich, wenn der U-Strab-Nutzer seine Wartezeit im Schacht vor einer Szene aus der Schöpfungsgeschichte verbringen würde? Er muss ja nicht. Aber wenn er dann doch einmal vor einem Lüpertz'schen Relief hängen bliebe, fiele ihm vielleicht ein, dass diese Schöpfungsgeschichte allen Kreationisten zum Trotz bis heute die konkurrenzlos schönste Poetisierung der Evolutionstheorie geblieben ist. Und wenn seine Straßenbahn pünktlich käme, hätte er immer noch ein wenig Zeit zum Träumen vom veganen Glück, von stimmbegabten Kriechtieren und der Regelnacktheit, über die man ja doch dankenswerterweise hinaus ist."

Im monopol-magazin spricht der chinesische Fotograf Wang Quingsong, dessen Fotografien aktuell in der Ausstellung "Arbeiten in Geschichte. Zeitgenössische chinesische Fotografie und die Kulturrevolution" im Berliner Museum für Fotografie zu sehen sind, über die Rolle von Bildern in der chinesischen Gesellschaft und die Bedeutung von Kommunismus für die jungen Generationen: "Der Kommunismus ist wie eine Marke. Einerseits glaubt man nicht mehr an die Ideale der Kommunistischen Partei, andererseits nutzt man sie für sich. Junge Menschen treten in die kommunistische Partei ein, um ihren zukünftigen Arbeitgebern zu vermitteln, dass sie 'brave Jungs' sind, dass sie immer auf den Chef hören."

Vor einigen Wochen brachte der Perlentaucher Wolfgang Ullrichs Vortrag, in dem der Kunsthistoriker eine Spaltung zwischen Kuratoren- und Marktkunst erkannte. In der FAS erkennt Boris Pofalla aber selbst auf der diesjährigen hyperpolitisierten Documenta allerdings nur eine "scheinbare" Trennung, auch wenn keine große Galerien ausstellen: "Was der Öffentlichkeit 34 Millionen wert ist und vom Bundespräsidenten eröffnet wird, das ist bedeutsam. Auch wenn es enttäuschte Liebe ist, die viele Kritiker jetzt so wütend macht, die Sammler so enttäuscht und die Museumsleute diskret mit den Augen rollen lässt. Grämt euch nicht, möchte man ihnen zurufen, ihr seid nicht verstoßen worden! Ihr sollt nur mal kurz verschwinden, zusammen mit den Sponsoren und den Sammlern, am besten durchs Küchenfenster, und hinterher treffen wir uns dann alle in Basel wieder."

Weiteres: In der FAZ schwärmt Andreas Plattaus über die Weimarer Ausstellung "Wege aus dem Bauhaus - Gerhard Marks und sein Freundeskreis": "Die Ausstellung berührt, weil sie so persönliche Facetten enthüllt."

Besprochen wird die Frankfurter Ausstellung "Bewegung im Bild" (FR).
Archiv: Kunst

Bühne

Bild: Szene aus "Pelleas und Melisande". Ruhrtriennale. Ben van Duin.

Die Ruhrtriennale eröffnete mit Krzysztof Warlikowskis Inszenierung von Debussys Oper "Pelleas und Melisande" und die Kritiker sind überwiegend begeistert: "Das Drama wütet subkutan" schwärmt Regine Müller in der taz: "Warlikowski deutet die Geschichte der geheimnisvollen Mélisande, die Golaud im Wald findet und mit auf sein verwunschenes Schloss nimmt, wo ihre seltsame Anziehungskraft tödliches Unheil auslöst, als ein Panorama heutiger Einsamkeit und als Protokoll familiärer Gewaltzusammenhänge. Gestaute Gewalt lauert bei Warlikowski hinter jeder Geste, keiner ist unschuldig in dieser verstrickten Familie, die durch Mélisande aus ihrer fragilen Balance gerät. Die Sänger agieren wie Filmschauspieler, keine einzige Operngeste schleicht sich ein."

Und in der SZ lobt Egbert Tholl den Fokus auf das Innenleben der Figuren: "Warlikowski und Hannigan verwandeln indes das Mysterium der Mélisande in eine aufregende, hochpräzise Studie einer manisch-depressiven Frau, die in sich selbst nie ein Glück finden wird. In delikater Zartheit ist ihre Stimme reine Poesie, man möchte sie nur noch in den Arm nehmen. Dann wieder bricht Wut und Selbstzerstörung aus ihr heraus." In der FAZ erlebt Jan Brachmann "Oper wie im Kino", hätte sich allerdings mehr Hintersinn gewünscht. Im Deutschlandfunkkultur spricht Dirigent Sylvain Cambreling über die Oper.

Bild: Szene aus "Der Nachmittag der Maulwürfe". Sommerfestival auf Kampnagel. Martin Argyroglo.

Beim Sommerfestival auf Kampnagel hat taz-Kritiker Robert Matthies mit Philippe Quesnes "Nacht der Maulwürfe" und Mariano Pensottis "Loderndes Leuchten in den Wäldern der Nacht" zwei gelungene Abende erlebt. Besonders die "lustvolle" Anarchie von Quesnes Maulwürfen hat es ihm angetan: "Irgendwann beginnen sie, die Bretterbude einzureißen, treiben grobe Späße miteinander, sprühen Höhlenbilder auf die Wände. Ein Stein wird mit einer Seilwinde an die Decke gehievt, bald landet dort nach äußerst knapper Trauerzeit auch ein beim Arbeitsunfall tödlich verunglückter Maulwurf. Wer mag, vermag darin alles Mögliche erkennen: eine Allegorie aufs menschliche Dasein, ein theatrales Nachspielen seiner Kulturentwicklung und ein vom Kopf auf die, nun ja, Schaufelhände gestelltes Höhlengleichnis."

Weiteres: Für das Zürcher Theaterspektakel hat der Ägypter Wael Shawky das "Rolandslied" aus arabischer Sicht inszeniert. "Unverkrampft" und moralinfrei, lobt NZZ-Kritikerin Katja Baigger. In der SZ zieht Dorion Weickmann eine zufriedene Zwischenbilanz vom Berliner Tanz im August, das vor allem auf die Ehrung von "verstorbenen Helden" und "lebenden Diven" setzt: "Auf die Übersättigung mit zusehends sinnlosen Performance-Formaten folgt offenbar die Sehnsucht nach kunstfertiger Erneuerung."

Besprochen wird: Bernhard Mikeskas "Camera Obscura: Lenz" in Weimar (nachtkritik) und Athina Rachel Tsangaris Inszenierung von Frank Wedekinds "Lulu" bei den Salzburger Festspielen (FAZ)
Archiv: Bühne

Film

Jerry Lewis ist tot. Erste, vorgefertigte Nachrufe bringen der Hollywood Reporter und Variety. "Seine eigenwillige, höchst durchdachte und selbstreflexive Art, mit allen filmischen Parametern wie Montage, Kameraarbeit, Farbe, Dekor und vor allem Ton umzugehen, brachte ihm zudem die uneingeschränkte Bewunderung besonders von französischen Filmkritikern ein, die Lewis zu den bedeutendsten Autoren des Hollywoodkinos zählen", schreibt Till Brockmann in der NZZ. Hier legen wir nochnal eine flotte Sohle mit ihm aufs Parkett:



Und eine Hommage:

In der Jungle World empfiehlt Esther Buss eine Med Hondo gewidmete Filmreihe im Berliner Kino Arsenal. Der Avantgarde-Filmemacher, Schauspieler und Synchronsprecher forderte die Sichtbarmachung der afrikanischen Erfahrung ein: Mit seinem Debüt "Soleil Oil" von 1969 "schafft er eine originäre Form: ein experimentelles politisches Kino, das sich auf keine Erzählform, keinen ästhetischen Stil festlegen lässt. Der in kontrastreichem Schwarzweiß gedrehte Film wechselt übergangslos zwischen ­Cartoons, ätzender Satire und historischem re-enactment."

Weiteres:  In der NZZ begibt sich Tobias Sedlmaier auf die Suche nach den letzten verbliebenen Videotheken. Daniel Schleferdecker plaudert in der Berliner Zeitung mit Hannah Herzsprung. Besprochen werden Terry Georges "The Promise" (FR) und der Dokumentarfilm "Kedi" über die Katzen Istanbuls (Freitag).
Archiv: Film

Design

Frederic Jage Bowler besucht für den Tagesspiegel Werner Ettels Braun-Sammlung in Berlin. Dass die Gebrauchsgegenstände aus den besten Tagen der Firma später das minimalistisch-elegante Apple-Design inspirierten, ist heute Allgemeinwissen. "Im Selbstverständnis der Marke Braun fanden Ideen des Bauhauses ebenso Anklang wie die utopischen Bekundungen der neu gegründeten Ulmer Hochschule für Gestaltung. Es kam zu einer Phase der intensiven Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und Hochschule. ... Dabei näherte man sich mit einer stets anwachsenden Produktpalette immer weiter dem Ulmer Diktum, 'vom Löffel bis zur Stadt', alles zu gestalten. Für den Hochschullehrer Max Bill bedeutete dies nichts Geringeres als den 'Aufbau einer wirklichen und in die Tiefe gehenden Kultur des Alltags.'" Verantwortlich für die schlichte, anschmiegsame Produktgestaltung war der Industriedesigner Dieter Rams - hier ein kleines Portrait:


Archiv: Design

Musik

Jens Balzer schreibt in der Zeit über eine Partyreihe namens "Hafla", in der der israelische DJ Omer Lichtenstein den Nahen Osten wenigstens für die Dauer einer durchtanzten Nacht musikalisch friedlich vereint. "Stärker als alles, was politisch trennt, ist die egalisierende Kraft des 4-to-the-floor. Doch auch wenn Lichtenstein diese Kraft wahren will, so will er zugleich die enthistorisierende Monochromie des Techno mit den Farben und Sounds der nahöstlichen Musikgeschichte anreichern: Seine Partys zielen auf eine Gemeinschaft, die das Glück des reinen Jetzt feiert, aber den Reichtum der Herkunft nicht vergisst - und auch nicht die Unterschiede, die Vielfalt der Traditionen."

Weiteres: Sun Ra hat mächtig Konjunktur, fällt NZZ-Kritiker Christoph Wagner auf.

Besprochen werden der Auftakt von Young Euro Classic (Tagesspiegel), ein Konzert des Schlagzeugers Jonas Burgwinkels (Tagesspiegel), Yuja Wangs Auftritt beim Rheingau Musik-Festival (FR), Daniel Barenboims Konzert mit dem West-Eastern Divan Orchestra bei den Salzburger Festspielen (Standard) und Peter Gülkes Buch über "Dirigenten" (SZ).

In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Marine Vazzoler über Antoines "Elucubrations":

Archiv: Musik

Literatur

Paul Ingendaay nimmt sich in der FAZ Dagmar Ploetz' Neuübersetzung von Gabriel García Márquez' "Hundert Jahre Einsamkeit" zur Brust und vergleicht sie genau mit Curt Meyer-Clasons Übersetzung. Dessen Deutsch ist zwar "das überschwänglichere, freiere (und damit ungenauere), es ist aber auch das ältere, gelegentlich ambitioniert literarischere Deutsch. Bei Meyer-Clason 'entbehrten' die Dinge des Namens, bei Ploetz (und García Márquez) 'hatten' sie keinen. Meyer-Clason schreibt 'Mittagsschlummer', Ploetz (und García Márquez) nennen es Siesta. An anderer Stelle vertraut sich Meyer-Clason beherzt dem karibischen Machismo an und erinnert mit 'Geilereien und Bocksprüngen' eher ans Offizierskasino, während Dagmar Ploetz es bei 'schamlosem Geturne' belässt. Überhaupt ist die neue Übersetzung zurückhaltender und respektiert damit die Klarheit des Erzählers García Márquez, der auch ein brillanter Journalist war."

Michel Houellebecq hat ein Buch der Schopenhauer-Verehrung geschrieben, doch Karl-Heinz Ott nimmt ihm in der NZZ nicht ab, dass ihn vor allem die Mitleidsethik und das freie Philosophieren anegtan haben: "Was Houellebecq am meisten mit Schopenhauer verbindet, wird in diesem jüngsten Bekenntnis allerdings ausgespart, nämlich dessen misanthropisches Gegrummel und misogynes Gegeifer."

Weiteres: In der Welt teilt Matthias Heine mit, dass nach hochamtlicher Zählung der Dudenkorpus auf einen Umfang von knapp 23 Millionen deutschen Wörtern kommt. Silge Bigalke besucht für die SZ-Sommerreihe über Ferienhäuser großer Schriftsteller Astrid Lindgrens Domizil auf der Schäreninsel Furusund.

Besprochen werden Colson Whiteheads "Underground Railroad" ("nichts weniger als ein Meisterwerk", staunt Julian Weber in der taz), Omar El Akkads "American War" (Tagesspiegel), Richard Fords "Zwischen ihnen" (Tagesspiegel), der Band "Wenn ich mir etwas wünschen dürfte. Intellektuelle zur Bundestagswahl 2017" (Berliner Zeitung), Iman Humaidans "Fünfzig Gramm Paradies" (FR), John Grishams "Das Original" (SZ) und neue Hörbücher, darunter Karl Bruckmaiers Hörspielbearbeitung von Elfriede Jelineks "Am Königsweg" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Sebastian Kleinschmidt über Christian Lehnerts "Sie ist mir eingegeben, die Libelle":

"Sie ist mir eingegeben, die Libelle,
ein stilles Komma in der Luft, sie steht,
als ihr das Graslicht in die Augen weht,
..."
Archiv: Literatur