Efeu - Die Kulturrundschau

Das Los der Schildkröte

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.08.2017. In der SZ erklärt Shirin Neshat, weshalb sie Verdis Aida, die sie nun in Salzburg inszeniert hat, für eine Zumutung hält. Auf Randy Newmans Comebackalbum lauscht sie beeindruckt der halben amerikanischen Musikgeschichte in acht Minuten. Die taz sinniert über Schamlosigkeit als Menschenrecht und Zensur bei Instagram. Die Berliner Zeitung staunt, wie Josef Koudelka den Israel-Palästina-Konflikt in Comic-Gewaltfantasien ablichtet. Die FAZ fragt: War Dürer ein Reformator? Und die Kritiker feiern John Carroll Lynchs "Lucky" in Locarno.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.08.2017 finden Sie hier

Bühne

Die iranische Künstlerin Shirin Neshat hat mit Verdis "Aida" bei den Salzburger Festspielen ihre erste Oper inszeniert. Riccardo Muti dirigiert, Anna Netrebko singt die Titelrolle. Im SZ-Gespräch mit Sonja Zekri erklärt Neshat, warum sie die Oper für eine "Zumutung" hält: "Im Kern sei es doch wieder eine westliche Geschichte über arabische Barbaren, die ihre Nachbarn quälen und sich dann mit einem bis zur Unspielbarkeit bekannten Marsch feiern: 'Verdi schuf eine Oper, um Europäer zu zerstreuen', sagt sie: 'Das ist mein größtes Problem: dass ,Aïda' so gute Unterhaltung ist.'" Deshalb "dreht sie die geografische und historische Perspektive von Siegern und Besiegten, Tätern und Opfern einfach um. Der ägyptische König, der Pharao, wird bei ihr zum Europäer oder zumindest zum Vertreter einer europäisierten Monarchie. Die kriegsgefangenen Äthiopier sind Flüchtlinge, dargestellt von realen syrischen, irakischen oder anderen afrikanischen Flüchtlingen."

Bild: Christine Gaigg / 2nd nature "CLASH" Foto: Karolina Miernik.

Ein wenig erschlagen, schließlich aber doch tief geschockt berichtet Nachtkritikerin Veronika Krenn über den von Christine Gaiggs bei Impulstanz Wien gezeigten Bühnenessay "Clash", der sich mit dem Orlando-Attentat, Homophobie und queerer Kultur auseinandersetzt: "Noch während sich Max Fossati als Jack Smith auf dem Boden wälzt, erhebt Juliane Werner die Stimme. Sie verkündet Unglaubliches von der Kanzel: Die Opfer von Orlando seien Sodomiten und Pädophile. Sie sei enttäuscht, dass der Attentäter 'seinen Job nicht ordentlich zu Ende gebracht' habe, denn die Opfer verdienten, was sie bekommen hätten. Gaigg stellt sie als einen Pastor der Verity Baptist Church in Sacramento, Kalifornien vor, der alle seine Predigten im Internet veröffentlicht. Die vorgetragenen Texte seien Teile einer tatsächlichen, 45 Minuten langen Predigt über das Orlando-Attentat."

Vergnügt hat sich taz-Kritikerin Katrin Bettina Müller die beim Berliner Festival "Tanz im August" gezeigte Retrospektive der feministischen spanischen Choreografin La Ribot angesehen. Etwa die aus 34 Solos bestehende Performance "Panoramix": "Was an den Wänden hängt und auf dem Boden liegt, sind die Requisiten, die nach und nach ins Spiel kommen. Mit einem Klappstuhl zum Beispiel, dessen Sitz sie sich unbekleidet vor die Scham hält, während die Beine der Performerin im Rahmen des Stuhls stecken, ahmt sie in 'Distinguished Piece No 14' mit einem immer schnelleren, quietschenden Klappern die Mechanik eines Orgasmus nach, komisch in der Verfremdung und grausam zugleich in der Monotonie. Sie trägt dabei eine Banderole 'zu verkaufen' um den Hals."

Gut, dass Wagners Musik und allen voran Dirigent Marek Janowski Frank Castros "Stückezertrümmerungsfuror" beim "Ring des Nibelungen" in Bayreuth ein wenig in Schach gehalten haben, meint Kerstin Holm in der FAZ, die dennoch mit der gesamten Inszenierung sehr zufrieden ist: "als Siegfried Brünnhilde wachküsst, eröffnet die Musik einen utopischen Raum. Im Verlauf ihres halbstündigen Zwiegesangs, bei dem sich Vinkes mächtige Stimme rundet und Fosters Sopran monumental erstrahlt, ergehen sich die beiden selbstvergessen in der tristen, neonerleuchteten Fußgängerzone am Alex, wo - als Symbol der freigesetzten Menschennatur - Krokodile herumspazieren, die sich seit der Premiere schon von drei auf neun vermehrt haben."

Weiteres: In der Welt porträtiert Manuel Brug den neuen Chef der Salzburger Festspiele, Markus Hinterhäuser. In Salzburg lieben alle "unseren Markus", meint er: "den milden, immer ein wenig leidenden, verschmitzt vergrübelten, dann wieder unverdrossen an seinem Programm herumpuzzelnden Weltschmerzler, den es trotzdem zur Macht drängt."
Archiv: Bühne

Musik

Sehr famos geraten ist das Comebackalbum "Dark Matter" des Popsatirikers Randy Newman, findet SZ-Kritiker Max Fellmann. Schon der Auftakt "The Great Debate" sei schlechthin der Wahnsinn in Tüten: "Pathetisches Intro, dann Jazz-Nummer, ein paar Takte Gospel, auf einmal schräge Geigen, Märchenerzählerstimme, plötzlich Spukmusik, harter Wechsel zur Nachtclub-Säuselei, wieder zurück zum Gospel, dann eine Art Hymne, die gleitet in eine Country-Rock-Nummer, wieder Geigen, ein pathetisches Ende, das zu jedem Republikanerparteitag passen würde, schließlich die Ziellinie, Schlussakkord. Wumm. Die halbe amerikanische Musikgeschichte in acht Minuten, neun Sekunden. Dagegen ist 'Bohemian Rhapsody' ein Kinderlied." Das wollen wir uns nicht entgehen lassen:



Wer vor diese Fülle an Referenzen, musikalischen Wendungen und durchgeknallter Ideen kapituliert, wende sich im übrigen so hoffnungs- wie vertrauensvoll an Pitchfork - dort erklärt Randy Newman jeden einzelnen seiner neuen Songs.

Für die NZZ hat Michael Stalknecht die Bachwoche in Ansbach besucht, wo er insbesondere die Darbietungen des Cellisten Jean-Guihen Queyras sehr genoss: Dieser spiele "Bach mit schlankem und biegsamem, dennoch durchschlagskräftigem Ton, wobei er sich ganz auf die deutliche Zeichnung der Linien konzentriert. Nicht tänzerisch auftrumpfend ist der Ansatz, sondern er strebt nach formaler Klarheit, die innere Zusammenhänge verdeutlicht. Die Sarabande der Fünften Suite etwa ist hier nicht als Expedition in elegische Tiefsinnigkeit zu hören, sondern als denkerische Reflexion."

Weiteres: Die Veranstalter des aus Steuermitteln finanzierten Berliner Popkultur-Festivals haben sich die Kritiken aus dem letzten Jahr zu Herzen genommen, stellt Andreas Hartmann in der taz fest. Die Welt streamt ein Schostakowitsch- und Messiaen-Konzert. The Quietus präsentiert beachtenswerte Bandcamp-Labels.

Besprochen werden das Berghain-Konzert der New Yorker Trans-Künstlerin Mykki Bianco (Tagesspiegel, taz), ein von Arte online gestellter Dokumentarfilm über Joe Cocker (FR), das neue Album von Waxahatchee (FAZ) und ein Konzert des Windsbacher Knabenchor beim Rheingau Musik Festival (FR).

Außerdem präsentiert die Spex ein neues Video von Barbara Morgenstern mit der Monika Werkstatt:


Archiv: Musik

Literatur

Erschöpft berichtet Ernst Osterkamp im literarischen Wochenend-Essay der FAZ von seiner nun endlich erfolgten Erstlektüre von Adalbert Stifters Tausend-Seiten-Werk "Witiko". Den Leser erwarte darin zwar "die ästhetische Radikalität einer aufs äußerste durchritualisierten Sprachwelt", doch ein Freund des Werkes ist Osterkamp nicht geworden: Stifter unterlaufe nämlich "die große Leistung des europäischen Romans seit dem achtzehnten Jahrhundert: ganze Menschen darzustellen in der unauflöslichen Einheit von Leib und Seele und in ihrer Einbindung in gesellschaftliche Konfliktfelder." Stifter flüchte sich seiner Detailversessenheit zum Trotz "so weit wie möglich aus seiner eigenen Zeit und verweigert seinen Figuren das, was Menschen zu Menschen macht: eine Seele."

Weiteres: In der taz wirft Alem Grabovac Schriftsteller Martin Suter Stichworte zu. Alexander Diehl erinnert in der taz daran, dass Science-Fiction-Autor Arthur C. Clarke schon in den 70ern in einem Roman darüber nachdachte, wie man einen Fahrstuhl ins All konstruieren könnte (warum man diese Idee auch heute noch umsetzen sollte, erklärt der Ingenieur Rainer Kresken im taz-Interview gegenüber Michael Brake).Die NZZ gibt Lektüretipps für den Strand, außerdem bringt sie bislang unveröffentlichte Gedichte von unter anderem Monika Rinck, Friederike Mayröcker und Charles Simic. Die SZ grüßt mit einer neuen Reihe über die Ferienhäuser großer Literaten aus dem Sommerloch: Den Auftakt macht Thomas Steinfeld, der Hintergründe zu Thomas Manns Domizil in Nidden liefert.

Besprochen werden Friederike Kretzens "Schule der Indienfahrer" (NZZ), Jeanette Erazo Heufelders "Der argentinische Krösus - Kleine Wirtschaftsgeschichte der Frankfurter Schule" (Tagesspiegel), Stefanie Sargnagels "Statusmeldungen" (taz), eine Hörspielversion von Virginia Woolfs "Zum Leuchtturm" (taz), Richard Russos "Ein Mann der Tat" (ZeitOnline), das anonym verfasste "Inzest-Tagebuch" (Literarische Welt), Simon Werles Neuübersetzung von Charles Baudelaires "Blumen des Bösen" (SZ) und Marie NDiayes "Die Chefin" (FAZ, Literarische Welt).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur

Kunst

taz-Kritiker Claus Leggewie nimmt den von Arvida Byström und Molly Soda aus Protest gegen Instagrams Zensur von gewalttätigen, nackten, diskriminierenden, pornografischen oder sexuell stimulierenden Fotos herausgegebenen Bildband "Pics or It Didn't Happen" zum Anlass über den Wandel von Nacktheit und Tabu nachzudenken: "Die Nutzer sozialer Medien sehen es heute als ihr gutes, fast absolutes Recht an, eigene Nacktheit und Intimität auszustellen, eventuell auch die von Partnern oder gänzlich Fremden, die mit im Bild sein mögen. Was einmal als schamlose Selbstdarstellung galt, die man nicht nur vor Kinderaugen zu verbergen hatte, gilt ihnen als eine Art Menschenrecht, dessen Beschränkung durch die AGB einer Privatfirma sie voller Empörung skandalisieren. (...) Als Tabubruch gilt nicht mehr das Zeigen von Geschlechtsmerkmalen und mit körperlicher Sexualität verbundenen Bildern, sondern dessen Verhinderung oder Beschneidung durch Dritte."

Jürgen Müller fragt sich in der FAZ nach dem Besuch der, wie er findet, gelungenen Nürnberger Albrecht-Dürer-Ausstellung, die zahlreiche Reformatorenporträts versammelt: War Dürer ein Reformator?: "Die sehenswerte Ausstellung macht deutlich, dass es der Künstler in einer unübersichtlichen Zeit anscheinend dezidiert vermied, öffentlich Stellung zu beziehen, um sein Werk nicht in die Gefahr einseitiger Vereinnahmung zu bringen. Sie zeigt aber zugleich, dass die Frage konfessioneller Identität nicht so eindeutig zu beantworten ist, wie es uns das neunzehnte Jahrhundert nahegelegt hat. Wenn Dürer sich nicht eindeutig zum Protestantismus bekannte, aber der Reformation in vielen Punkten durchaus nahestand, was war er dann eigentlich? Ein reformierter Katholik?" Bild: Albrecht Dürer: Bildnis Philipp Melanchthons, 1526 (Detail), Kupferstich. Museen der Stadt Nürnberg, Kunstsammlungen

Auf "herbe Art philosophisch" findet Ingeborg Ruthe in der Berliner Zeitung die nun im C/O Berlin gezeigten Fotografien des Magnum-Fotografen Josef Koudelka. Etwa die zwischen 2008 und 2012 entstandene Serie "The Wall", für die Koudelka nach Israel und in die Palästinensergebiete reiste und die 700 Kilometer Stahl und Beton-Festung fotografierte: "Leben dort, in Jerusalem und dahinter Menschen? Und wo sind sie? Das fragen die Fotos. Er seziert zerfetzte, einsame Landschaften im 'Heiligen Land', der Himmel düster, die Judäische Wüste vermüllt. Die Sonne spiegelt sich höchstens im Metall des Stacheldrahts. Manchmal ist der Himmel bedrohlich wie der nächste Krieg, manchmal zeigen die Panorama-Bilder Graffiti auf Betonwänden, als spiegle sich so der israelisch-palästinensische Konflikt in Comic-Gewaltfantasien."

Weiteres: In der Welt erklärt Marc Reichwein, was ihn an Vincent van Gogh nervt: "Gerade auf seinen sogenannten Blockbustern sieht van Goghs Pinselstrich oft einfach so gerollt nach Strudel aus, als hätte er seine Farben mit metallischen Substanzen angereichert und vor dem Trocknen noch schnell einen Magneten hinter die Leinwand gehalten."

Besprochen wird: eine Ausstellung mit Zeichnungen von Peter Handke (Tagesspiegel)

Archiv: Kunst

Design

Für die Literarische Welt hat Adriano Sack Mary Blumes Biografie über den Couturier Cristobal Balenciaga gelesen: Dieser war "der vielleicht reinste unter den klassischen Designern. Weder Selbstdarstellungssucht noch sozialer Ehrgeiz oder Marketinggeschick überschatteten seine Schneiderkunst. Er war besessen davon, die perfekte Symbiose aus Stoff und Körper zu schaffen und verwandte mehr Sorgfalt in den Schnitt eines Ärmels als andere Kollegen für eine ganze Kollektion."
Archiv: Design

Film


Harry Dean Stanton ist "Lucky".

Mit seinen 91 Jahren ist der unvergleichliche Harry Dean Stanton ein Urgestein der Filmgeschichte. In Locarno feierte jetzt John Carroll Lynchs "Lucky" Premiere, der dem meist auf Nebenrollen abonnierten Darsteller ein Denkmal setzt - der erste Höhepunkt des Festivals, sagen die Kritiker: Stanton spielt darin einen schrulligen alten Mann, der Angst vorm Sterben hat. "Die spröd-philosophischen Dialoge sind so humorvoll wie melancholisch",  schreibt Susanne Ostwald in der NZZ. Die Bilder "spiegeln die Unbehaustheit der Seele, als seien sie von Edward Hopper gemalt. ... Was John Carroll Lynch hier mit viel Feingefühl aus Harry Dean Stanton, der allzu lange nur in Nebenrollen zu sehen war, an künstlerischem Ausdruck herausholt, ist sensationell." Auch Patrick Blum vom Tagesanzeiger findet den Film umwerfend - nicht zuletzt wegen eines Monologs, den David Lynch in einem Gastauftritt "über das Los der Schildkröte hält. Der Panzer, der sie zeitlebens auf ihrem Rücken trage, verwandle sich am Ende ihrer Existenz in den Sarg, in dem sie sterbe. 'Ich weiss nicht, wie es euch geht', sagte die Lynch-Figur, 'aber ich finde das berührend.' Fanden wir auch."

Weiteres: In seiner Essayreihe zur Zukunft des Kinos schreibt Patrick Holzapfel beim Filmdienst über Segen und Hölle der Cinephilie im digitalen Zeitalter. Urs Bühler von der NZZ sah in Locarno außerdem Sabine Gisigers Dokumentarfilm "Willkommen in der Schweiz". Wieland Freund schreibt in der Welt zum Tod des Schauspielers Robert Hardy, der zuletzt vor allem als Cornelius Fudge in den "Harry Potter"-Filmen zu sehen war. Im Deutschlandfunk Kultur erklärt uns Georg Seeßlen, warum uns Außerirdische in Film und Literatur so faszinieren.

Besprochen werden der Actionthriller "Das Gesetz der Familie" mit Michael Fassbender (Tagesspiegel), der Dokumentarfilm "Die guten Feinde" von Christian Weisenborn (Freitag) und Petra Volpes "Die göttliche Ordnung" über die feministische Bewegung in der Schweiz der 70er (FR).
Archiv: Film