Efeu - Die Kulturrundschau

Glorreich ins Nichts

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25.07.2017. Die NZZ verfolgt mit angehaltenem Atem, wie sich das britische Theater gegen "kontinentales Regie-Zeugs" stemmt. Die SZ lernt vom Londoner Architektur-Kollektiv Assemble: Die Bauherren, das sind nicht die anderen. Außerdem befragt sie junge Autorinnen zu ihren Erfahrungen im Literaturbetrieb. Die taz porträtiert den israelischen Architekten Zvi Hecker. Die Welt feiert Christian Weisenborns Dokumentarfilm "Die guten Feinde". Und der Standard trauert um den Viennale-Direktor Hans Hurch.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.07.2017 finden Sie hier

Film


Christian Weisenborns Eltern in den dreißiger Jahren (Bild: Edition Salzgeber)

In der Welt dankt Alan Posener dem Filmemacher Christian Weisenborn sehr für den Dokumentarfilm "Die guten Feinde", in dem sich der Filmemacher mit seinen Eltern auseinandersetzt, die in der so genannten "Roten Kapelle" Widerstand gegen die Nazis geleistet hatten. Der Film sei "entschlossen privat, selbst da, wo er zur Ergänzung der Familienfotos und privaten Filmaufnahmen auf Materialien aus Wochenschauen zurückgreift. Selten sind die Größen des Regimes zu sehen, kaum je Uniformen. Der Film entgeht dadurch der Falle, in die so viele Möchtegern-Aufklärungsfilme tappen, nämlich die Wagnerianische Ästhetik des Regimes zu reproduzieren. ... Dieser intime Film sagt mehr aus über Widerstand im Nationalsozialismus als manch bombastische Produktion." Im Deutschlandfunk Kultur spricht der Regisseur über seinen Film und seine Familiengeschichte.

Viennale-Direktor Hans Hurch ist in Rom einem Herzinfarkt erlegen. "Die Unbestechlichkeit eines Autors" war ihm äußerst wichtig, schreibt Dominik Kamalzadeh in seiner letzten Würdigung im Standard. Hurch interessierten "Filme, wie sie nur Menschen machen konnten, die der Realität mit Ehrfurcht begegneten. Als Viennale-Direktor hat Hans Hurch oft betont, dass er das ganze Programm des Festivals zu verantworten hat und deshalb jeden Film selbst absegnet. ... Viele dieser Sorte gibt es nicht mehr: Während andere Filmfestivals ihre Programme anglichen, weil sie sich an einem bestimmten Konsensgeschmack, an kommerziellen Erwägungen ausrichteten, blieb die Viennale im Kern eigensinnig und unverwechselbar." Auch Andrey Arnold von der Presse erinnert an diesen beherzt renitenten Gestus: "Seine Haltung war stets beseelt von der Idee des Widerstands: Gegen den gedankenlosen Konsum von Laufbildern, die Vorherrschaft des Themas über die Form, die Einspeisung des Filmwunders in eine kunstfeindliche Diskursmaschinerie." Außerdem bringt der Standard eine Fotostrecke.

Besprochen werden die Netflix-Serien "Hot Girls Wanted" (Freitag), "Ozark" (Welt) und "Hibana" (NZZ), sowie Helena Hufnagels Münchenfilm "Einmal bitte alles" (SZ).
Archiv: Film

Literatur

Von den türkischen Gezipark-Protesten ist wenig übrig geblieben, erklärt Achim Wagner in der SZ: Aber immerhin die Bewegung #şiirsokakta, was soviel wie "das Gedicht ist auf der Straße" bedeutet, hat durchgehalten. Unter diesem Hashtag werden "Aufnahmen von Versen, die auf Straßen und Wände geschrieben waren, geteilt und weiterverbreitet. ... Alle größeren politischen Ereignisse in der Türkei finden seitdem ihren Widerhall auch in diesen poetischen Kommentierungen, die von der Straße, von Schulen und Universitäten in die sozialen Medien getragen werden. Weiterhin sind es Arbeiten der İkinci-Yeni-Dichter, die dabei eine exponierte Stellung einnehmen. Der Duktus der nun zitierten Gedichte ist dabei allerdings weitgehend melancholisch."

Angeregt von der Debatte um Sexismus an deutschen Hochschulen und insbesondere an deutschen Literaturinstituten hat sich Anna Fastabend mit den Nachwuchsautorinnen Maren Kames, Kathrin Bach, Alina Herbing und Juliana Kálnay für die SZ zu einem Gespräch zusammengesetzt. Alle vier haben gemeinsam in Hildesheim studiert. Unter anderem geht es in dem Gespräch um die Erfahrungen im Betrieb: Alina Herbig "wurde gesagt, mit einer weiblichen Ich-Erzählerin sei es schwieriger, einen Verlag zu finden"; Kathrin Bach erzählt, dass sie einmal "vor allem deshalb zu einer Lesung eingeladen wurde, weil sie zwischen lauter älteren Lyrikern gerne noch eine junge, hübsche Frau mit angenehmer Stimme lesen lassen wollten"; Juliana Kálnay berichtet davon, "einmal einen Kommentar zu meinem Autorinnenfoto gehört zu haben, den ein Mann wahrscheinlich nicht hätte hören müssen"; Maren Kames beschleicht der Eindruck: "Wenn ich mein ungewöhnliches Manuskript inklusive der QR-Codes, der Audio-Ebene und des großen Weißraums als Typ vorgelegt hätte, wäre es schneller gegangen."

Weitere Artikel: Vom großen Berlin-Roman unserer Tage fehlt auch weiterhin jede Spur, muss Gerrit Bartels vom Tagesspiegel beim Durchblättern der Verlagsankündigungen für den Herbst feststellen. Roman Bucheli schreibt in der NZZ zum Tod der Literaturkritikerin Elsbeth Pulver. Außerdem hat er einen Nachruf auf den Dichter Urban Gwerder verfasst.

Besprochen werden Bodo Kirchhoffs "Einladung zu einer Kreuzfahrt" (FR), Stefanie Sargnagels "Statusmeldungen" (Tagesspiegel), Julia Wolfs "Walter Nowak bleibt liegen" (Tagesspiegel), eine Ausstellung von Peter Handkes Zeichnungen in der Berliner Galerie Klaus Gerrit Friese (NZZ) und Harry Martinsons Reisefeuilletons "Reisen ohne Ziel", über deren Wiederentdeckung sich taz-Kritiker Julian Weber ziemlich freut.
Archiv: Literatur

Architektur

Richtig denkwürdig findet SZ-Kritiker Gerhard Matzig die Arbeit des Londoner Architekten- und Künstler-Kollektives Assemble, bei der Schau "Wie wir bauen" im Architekturzentrum Wien ist ihm geradezu ein Licht aufgegangen: "Es ist das große Verdienst dieser kleinen, dabei ungeheuer anregenden und inspirierten Schau, dass sich dieser Titel erfüllt. Nämlich so, dass man sich dem Kollektiv, diesem großen 'Wir' nahe fühlt. Zugehörig. Architektur vor Assemble, das bedeutete: Die dort, die Architekten, bauen etwas für uns, für die Bauherren. Die und wir, die Fachleute und die Öffentlichkeit, die Experten und die Gesellschaft. Architektur seit Assemble aber meint ernsthaft: wir. Wir sind eines, Bauherrin, Bauherr und Architektin, Architekt. Nicht, wie 'die' entwerfen, planen und bauen, ist das Entscheidende, sondern, wie 'wir' es tun."


Heinz-Galinski-Schule in Berlin von Zwi Hecker. Foto: Michael Kruger

Tal Sterngast porträtiert in der taz den inzwischen 84-jährigen israelischen Architekten Zvi Hecker, der seit 1995 in Berlin lebt und hier unter anderem die jüdische Grundschule im Grunewald baute: "Wegkreuzungen, Abstufungen, Lücken und Innenhöfe schaffen in der Schule eine urbane Topografie, in der man ständig aufs Neue überrascht wird. Das ist typisch für Heckers Gebäude, die selbst Landschaften schaffen, die die natürliche wie urbane Umgebung komplementieren, zugleich aber mit ihr in Konkurrenz stehen und gegen sie rebellieren. Als die Schule entstand, zeigte sich, dass eine andere Metapher Gestalt annahm. Sie begann wie die offenen Seiten eines Buchs auszusehen."

Außerdem: Im Standard unterhält sich Maik Novotny mit dem Direktor der Fondation Beyeler, Sam Keller, über die Aufgaben eines modernen Museums, die Anforderungen an Neubauten und Peter Zumthors neuen Erweiterungsbau.
Archiv: Architektur

Musik

Auf ZeitOnline porträtiert Daniel Gerhardt Popstar Ed Sheeran, der mit seinem Kuschelpop zwar die Charts anführt, aber trotzdem von aller Welt leidenschaftlich gehasst wird. Cornelius Pollmer berichtet in der SZ von Gisbert zu Knyphausens Heimspiel-Festival im Rheingau. Eric Facon (NZZ), Ueli Bernays (NZZ) und Ane Hebeisen (Tagesanzeiger) schreiben zum Tod des Schweizer Mundart-Rockers Polo Hofer.

Besprochen werden die Zusammenstellung "The Singles" von Can (taz), ein Konzert von Celine Dion (Tagesspiegel, Berliner Zeitung) und das von Teodor Currentzis diriegierte Mozart- und Schnittke-Konzert von Music Aeterna bei den Salzburger Festspielen (SZ).

Außerdem: Ein aktueller Eindruck aus Berlin - deshalb:


Archiv: Musik

Kunst

NZZ-Kritiker Paul Jandl wirft in der Galerie Klaus Gerrit Friese einen Blick auf Zeichnungen des Schriftstellers Peter Handke: "Es ist diese Schau eine abenteuerliche und manchmal auch sehr ironische Reise in die Welt eines Bildersüchtigen. Seine Zeichnungen tragen oft wunderbar seltsame Titel: 'Neugeborene Frösche, ca. zweifach vergrößert', steht unter einem Bild."

Besprochen werden Piotr Uklańskis Band "Real Nazis" (taz) und eine Ausstellung der Berliner Bildhauerin Jenny Wiegmann-Mucchi in der Zitadelle Spandau (Tagesspiegel).
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Bühne


Schnell und kraftvoll: "Jaguar" beim Impulstanz Wien. Foto: Laurent Paillier


Als echten künstlerischen Wurf feiert Helmut Proebst im Standard das Duett "Jaguar", das Marlene Monteiro Freitas und Andreas Merk beim Impulstanz in Wien zeigen: "Hier sind zwei Stunden hindurch zwei gleichwertige Tänzerfiguren mit äußerster Intensität am Werk. Sie dehnen und kontrahieren die Zeit, spielen mit der Musik, mit grobem Witz und feiner Ironie, lassen große Leidenschaften glorreich ins Nichts laufen oder zu berührender Mickrigkeit schrumpfen und brechen wie manisch aufgebaute Gefühlsbögen gnadenlos ab, um sie später wieder neu zu errichten."

Die Direktorin des Londoner Globe Theatre, Emma Rice, wurde entlassen, weil sie sich zu wenig an die historische Aufführungspraxis hielt. In der NZZ sieht Marion Löhndorf den Eklat als Teil der großen Kontroverse, die im britischen Theater gerade um "kontinentales Regie-Zeugs" ausgetragen wird: "Der Dramatiker David Hare bekundete in einem Zeitungsartikel seine Furcht vor der Invasion des europäischen Regietheaters auf englischen Bühnen. Damit trat er eine kleine Lawine los in einer Nation, die Debatten eher verdächtig findet oder doch weitaus weniger schätzt, als dies etwa die deutschsprachigen Länder tun." Im Guardian glaubt Mark Brown allerdings nicht, dass sich die Schauspielerin Michelle Terry an der Spitze des Globes als Bewahrerin der Tradition erweisen wird. 

Weiteres: Heute Abend eröffnen die Bayreuther Festspiele, die FAZ informiert ihre LeserInnenschaft mit Infografiken und Comics auf fünf Seiten über Geschichte, Leben und Werk Richard Wagners - plus: Sämtliche Verwandschaftsverhältnisse der Nibelungen, Wälsungen und Gibichungen! Im Tagesspiegel versichert Christiane Peitz, dass wirklich alles still ist am Grünen Hügel: "Friede, Freude, Meistersinger."

Besprochen wird Carl Maria von Webers Oper "Oberon" am Münchner Prinzregententheater (FR)
Archiv: Bühne