Efeu - Die Kulturrundschau

Knallhart bis verbissen

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12.06.2017. Nach der Documenta wurde in Münster mit den Skulptur Projekten gleich das nächste Kunstgroßereignis eröffnet: Welt und Berliner Zeitung freuen sich über so viel entspannte und poetische Gegenwartskunst. Die SZ fordert allerdings eine Förderung der Projekte durch die Krankenkassen. Die FAS blickt erschrocken in die kulturelle Leere des New Yorker Amazon-Shops. Die taz erlebt, wie René Pollesch das Raumschiff Volksbühne im Mainstream verglühen lässt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.06.2017 finden Sie hier

Kunst


Ayşe Erkmen, On Water, Skulptur Projekte 2017, Foto: Henning Rogge

In Münster wurden am Wochenende die alle zehn Jahre stattfindenden Skulptur Projekte eröffnet, das dritte Kunstgroßereignis in diesem Sommer. In der SZ kann Kia Vahland nur milde spötteln über die freundliche, aber doch harmlose Kunst, etwa wenn Ayşe Erkmen die Menschen über das Wasser des alten Hafenbeckens wandeln lässt: "Sein derbes Ambiente hat der Hafen längst verloren, Cafés und Restaurants säumen das Ufer. Gefährlich und verstörend ist die Kunst hier nicht, poetisch aber und beflügelnd. Sie lockt die Menschen aus ihren Höhlen, bringt sie aufs Fahrrad und führt sie in einer Schnitzeljagd durch die Stadt. Es erschiene folgerichtig, würden neben Banken und der Bundeskulturstiftung auch Krankenkassen die Skulptur Projekte fördern, als gesundheitliche Vorsorgemaßnahme."

Viel positiver blickt Hans-Joachim Müller in der Welt auf Münster: Keine Routine, kein Spektakel, kein Markt: "Kasper König, Britta Peters, Marianne Wagner sind klug und erfahren genug, um sich nicht auf Werke zu verlassen, die mit ihrer Aufgeladenheit protzen. Visueller Triumph als Ausweis künstlerischer Unbedingtheit - eine solche Denkfigur ist so obsolet geworden wie die Selbstermächtigung des Künstlers zum Ausnahmemenschen. Kunst gewinnt Bedeutung nur im Kontext, zu dem sie sich verhält. Nur dort, wo sie sich auf die Welt bezieht, kann sie Gegenwelt sein." In der Berliner Zeitung konstatiert Ingeborg Ruthe: "Was derzeit die documenta 14 in Kassel knallhart bis verbissen, banal bis verspannt - und doch so berechtigt! - als Kapitalismus-Kritik ausdrückt, ist in Münster formal entspannter, philosophischer, poetischer formuliert." Für den Standard besichtigt Roman Gerold die Documenta.

Die FR meldet, dass die Documenta Straßen in Kassel nach den Opfern der NSU-Morde benannt hat.

Besprochen werden die Ausstellung "The Japanese House - Architecture and Life after 1945" in der Lononer Barbican Art Gallery (SZ), die Ausstellung "Frischs Fiche" im Zürcher Museum Strauhof (NZZ)
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Literatur

Sehr glücklich berichtet Ekkehard Knörer in der taz vom Prosanova-Festival für den literarischen Nachwuchs in Hildesheim: "Das Publikum ist sehr jung. Die Stimmung ist relaxt, aber nicht kuschelig, nur freundlich und solidarisch. Auf die Platzhirsche der deutschen Literatur hat man mit Absicht deutlicher als zuvor noch verzichtet, aber alle Stimmen, die ich höre, sind mindestens interessant."

FAS-Autor Lars Jensen kommt beim Betritt des Buchladens, den sich Amazon in New York eingerichtet hat, das blanke Gähnen: Der Laden wirke "in seinem ästhetischen Stumpfsinn so uninspirierend, dass einem noch beim Tritt über die Schwelle die Lust zum Lesen vergeht. ... Das Sortiment basiert auf Milliarden von Datensätzen, die Amazon mit seiner Website generiert, und in der Auswahl des Angebots manifestiert sich der kleinste gemeinsame Nenner von Millionen Kunden."

Weiteres: In einem online nachgereichten Essay aus der Literarischen Welt vom Wochenende staunt Mara Delius, wie Grey Gowrie in seiner Wordworth-Umwidmung "Upon Westminster Bridge" die "angespannte, ernüchtert erhabene Stille auf den Straßen der Stadt nach einem Anschlag" zu fassen bekommt. Im Politischen Feuilleton des Deutschlandfunks Kultur trauert der Schriftsteller Rolf Schneider um das zusehends erlahmende linksliberale Engagement der deutschen Großliteraten. Schriftsteller David Wagner kann sich in der Zeit nicht entscheiden, ob er sich ein schönes Leben herbeikonsumieren oder sich nicht doch lieber von allem freimachen möchte. Auf Geheiß des Goethe-Instituts diskutierten in Nancy neun deutsche und französische Schriftstellerinnen und Schriftsteller über die "verlorene Avantgarde", berichtet Cornelius Wüllenkemper in der FAZ.

Besprochen werden Jan Wagners "Der verschlossene Raum. Beiläufige Prosa" (taz), Andrew Millers "Nachts ist das Meer nur ein Geräusch" (Standard), Hans Blumenbergs "Schriften zur Literatur - 1945-1958" (SZ) und neue Hörbücher, darunter das zu Toni Morrissons Roman "Gott, hilf dem Kind" (FR).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Uwe Wittstock über "Menschenleben" von Karl Marx:

"Stürmisch entfliehet
Der Augenblick;
Was er entziehet,
Kehrt nicht zurück.
..."
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Film

Andreas Busche (Tagesspiegel) und Olga Baruk (critic.de) besprechen Julian Radlmaiers Filmtheorie-Komödie "Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes". Christian Schröder schreibt im Tagesspiegel zum Tod der Schauspielerin Glenne Headly. Für Vulture schreibt Matt Zoller Seitz einen großen Nachruf auf Adam West, der in den 60ern als campiger Batman Fernsehgeschichte geschrieben hat:



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Musik

Bei seinem Bühnencomebacks zeigte sich Phil Collins als von Alter und Nervenkrankheit schwer gezeichneter Mann: Kai Müller umkreist im Tagesspiegel daher die Frage, wie so ein Normalo als Popstar erst so omnipräsent werden konnte, nur um dann von eigenen Erfolg so erbarmungslos verbrannt zu werden. Im Plausch mit Daniel Schieferdecker von der Berliner Zeitung preist der Rapper Marteria unter anderem das Angeln und die Vorzüge eines drogen- und alkoholfreien Lebens (u.a. "dass mich jetzt keiner mehr anruft, wenn er mal feiern geht"). Ingeborg Harms spricht in der Zeit mit Kiefer Sutherland, der jetzt Countrymusiker ist. In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Uwe Ebbinghaus über "Do kanns zaubre" und "Verdamp lang her" von BAP.

Besprochen werden Konzerte beim Collegium Novum in Zürich (NZZ), ein Konzert von Sophia Kennedy (taz), ein Konzert der Wiener Philharmoniker mit Christian Thielemann und Dieter Flury (Standard), der Münchner Auftritt von Depeche Mode (SZ), Cody Chesnutts neues Album "My Love Divine Degree" (SZ), ein Konzert der Rapperin Sookee (Tagesspiegel) und eine neue Aufnahme von Ferdinand Ries' Cellosonaten (FAZ).



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Bühne


René Polleschs "Dark Star" an der Volksbühne. Foto: Leonore Blievernicht

Jetzt hat auch René Pollesch in der Volksbühne seinen Abschied gegeben, er lässt in "Dark Star" die Volksbühne im Mainstream der kalifornischen Ideologie verglühen: In der taz ist Eva Behrendt mäßig berührt: "Erst ist das Geplauder über Kommunikation in der Weltraum-Theater-WG noch ganz witzig ('Immer, wenn ich gerade die Kaffeemühle anstelle, will er ein Gespräch anfangen'). Später häufen sich Insider-Jokes auf die Zukunft der Volksbühne unter Chris Dercon ('Bei der Bewegung nach Westen muss ich immer an OST denken', 'Die Saison 2017/18 findet nicht statt - ist das von Baudrillard?!'), und schon ist das kollektiv auftretende Volksbühnen-Subjekt wieder bei seinem Lieblingsthema gelandet: sich selbst. Umprogrammierungsmission accomplished?"

Mounia Meiborg verspürte in der SZ tatsächlich mehr Melancholie als Galle: "Antihelden auf Sinnsuche." (NZZ, Tagesspiegel, Berliner Zeitung und FAZ)

Weiteres: In der NZZ erliegt Martina Wohlthat dem Zauber von Händels Oper 'Alcina', die von Lydia Steiers am Theater Basel sinnenfroh und hintersinnig inszeniert hat: "Wenige Barockopern können es aufnehmen mit der Fülle und dem emotionalen Tiefgang dieser Partitur." Katharina Wagner hat die fünfzig Jahre alte "Lohengrin"-Inszenierung ihres Vaters Wolfgang Wagner noch einmal in Prag auf die Bühne gebracht. In der Welt blickt Manuel Brug "irgendwie berührt auf dieses akribisch nachgemachte Traumspiel und Rumstehtheater."

Besprochen werden Sasha Waltz' neues Stück "Kreatur" im Berliner Radialsystem (Tagesspiegel, Berliner Zeitung, FAZ) und die die Choreografien der Reihe "Nahti. Aha. Sasa" bei den Wiener Festwochen (Standard), das Flüchtlingsmusical "Traiskirchen" der Künstlerinitiative Die Schweigende Mehrheit im Volkstheater Wien (Standard), Peter Handkes "Die Stunde da wir nichts voneinander wussten" an der Bürgerbühne des Staatsschauspiels (Nachtkritik) und Arthur Millers "Hexenjagd" im Düsseldorfer Schalchthau (Nachtkritik).
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