Efeu - Die Kulturrundschau

Neue Formen des Performativen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.05.2017. Raum und Distanz, fordert Karl Ove Knausgard in der Zeit für die Kunst. Ein Recht auf Müdigkeit und Freiheit fordert Chris Dercon in der Zeit fürs Theater. Die NZZ empfiehlt Lyrik beim Rumstehen auf der Rolltreppe und Elektro-Avantgarde von Raster-Noton. Der Standard staunt über die Stille in Cannes nach Arnaud Desplechins Eröffnungsfilm "Les Fantômes d'Ismaël".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.05.2017 finden Sie hier

Kunst


Edvard Munch, Das Kohlfeld. Courtesy das Munch Museum

Der Schriftsteller Karl Ove Knausgard hat für das Munch Museum in Oslo eine Ausstellung kuratiert. Munchs Bilder wurden im Alter immer alltäglicher, immer weniger aufgeladen mit Bedeutung. Kein Schrei mehr, sondern ein Kohlfeld, das einfach ein Kohlfeld ist. Im Interview mit der Zeit erklärt Knausgard, warum ihn gerade diese Bilder interessieren: "Beim 'Schrei' füllt die Angst der Figur alles aus, sie ist unmittelbar da. Heute leben wir in einer Zeit der Unmittelbarkeit, das Leiden ist immer unmittelbar, kaum ist es passiert, bekommen wir es schon auf unsere Smartphones gespielt. Zu Munchs Zeit war das radikal und neu und nur der Kunst möglich. Daran musste ich denken, als ich die letzte Anselm-Kiefer-Ausstellung in London sah, die nur von Raum und Distanz handelt, da gibt es keine Menschen. Das Gegenteil zu Munchs 'Schrei'. Was Kiefer macht, ist, was wir heute brauchen: Raum und Distanz."

Weitere Artikel: Die FAZ hat zum 200. Geburtstag der Städel-Schule auf zwei Seiten Künstlerstimmen gesammelt, die sich an ihre Zeit dort erinnern. Zum Tod des Berliner Malers Johannes Grützke schreiben Edouard Beaucamp im Aufmacher des FAZ-Feuilletons, Nicola Kuhn im Tagesspiegel und Ingeborg Ruthe in der Berliner Zeitung.
Archiv: Kunst

Design


Bloom-LED-Leuchte von Nanoleaf

Die energie-effizienten LED-Leuchten emanzipieren sich seit geraumer Zeit von ihrem Image als stromsparende ästhetische Zumutungen, freut sich Bernd Graff in der SZ: Längst loten die Designer die Gestaltungsmöglichkeiten der flexiblen Lichtspender aus - was sich nicht nur auf die Gestalt der Lampen an sich beschränkt, sondern auch die variante Farbgebung in den Wohnstuben selbst, deren Stimmungen man nun munter wechseln könne: "Man muss darum wirklich von Lichtarchitekturen sprechen, die das ganze Heim verändern. Denn mit den unterschiedlichen Licht- und Farbstimmungen verwandelt sich die Räumlichkeit der Orte, die ja auch weniger erhellt als vielmehr skulpturiert und prononciert sein wollen. Man möchte von Sessel-Theater und Polster-Inszenierungen sprechen."
Archiv: Design
Stichwörter: LED, Lichtgestaltung, Lampen

Bühne

Nirgends habe er sich so unfrei, so unter Druck gefühlt wie in Berlin, erklärt Chris Dercon im Interview mit der Zeit. Er würde sein Programm für die Volksbühne gern organisch entstehen lassen, in einem Zustand der fatigue: "Die Idee ist, dass wir etwas erfinden wollen, was noch keinen Namen hat, das vielleicht völlig anders ist als die Kunst oder das Theater oder das Kino, das wir kennen. Das Kino beispielsweise entwickelt neue Weisen, Filme herauszubringen. Plötzlich gibt es kleine Filme von nur sechseinhalb Minuten, wie den neuen Film von Alejandro González Iñárritu in Cannes. Wenn es daneben auch Filme gibt, die 200 Stunden lang sind, und wenn die Produktions- und Distributionsbedingungen sich so rasant ändern, dann muss man auch an eine andere Präsentationsform des Films denken. Das ist eine Revolution. Wir werden in allen Sparten neue Formen des Performativen erleben. Unser Programm soll den Konvoi der Sparten ermöglichen, neue Allianzen der Künste. So etwas macht jetzt auch Alexander Kluge mit Anna Viebrock und Thomas Demand. Das macht auch jemand wie der Intendant Kay Voges in Dortmund."

Ein aktuelles Video-Interview mit Chris Dercon findet sich bei der nachtkritik. In der taz findet Katrin Bettina Müller den Neustart der Volksbühne gar nicht so übel.

Weitere Artikel: "Ich begegne in Wien tatsächlich Leuten, die mir sagen, sie wären schon damals dabei gewesen, als ich hier mein Debüt hatte!", erklärt Placido Domingo, der am Freitag mit einer Gala an der Wiener Staatsoper sein 50-Jahr-Bühnenjubiläum feiert, im Gespräch mit dem Standard. Daniele Muscionico beschreibt in der NZZ die Probleme des Theaters in Winterthur.

Besprochen wird die Uraufführung von "Promised Ends: The Slow Arrow of Sorrow and Madness" durch das Künstlerkollektiv Saint Genet aus Seattle bei den Wiener Festwochen (Standard, nachtkritik) und Johanna Wehners Frankfurter Inszenierung von Wallace Shawns "Evening at the Talk House" bei den Ruhrfestspielen (FAZ).
Archiv: Bühne

Literatur

Schade findet es Felix Philipp Ingold in der NZZ, dass Lyrik so einen schweren Stand bei Rezensenten und Lesern hat. Dabei wäre das Gedicht doch schon aus pragmatischen Gründen die ideale Literaturform für unsere hektische Gegenwart: "Jedes einzelne Gedicht kann als ein Volltext gelten, dessen integrale Lektüre - im Unterschied zum Roman - in kurzer Zeit und bei vielen Gelegenheiten problemlos möglich ist, in der Warteschlange oder im Straßencafé ebenso wie auf der Rolltreppe und beim Zwischenhalt auf der Gebirgswanderung."

Weiteres: Der Tagesspiegel bringt einen Lagebericht aus Damaskus der syrischen, unter Pseudonym schreibenden Schriftstellerin Salma Salem. Entnommen ist der Text dem kollaborativ zwischen deutschsprachigen und syrischen Schriftstellern geführten Blog weiterschreiben.jetzt, auf dem bis Ende des Jahres 40 Texte veröffentlicht werden sollen.

Besprochen werden u.a. Carlos Ruiz Zafóns "Das Labyrinth der Lichter" (NZZ), Tomas Espedals "Biografie. Tagebuch. Briefe" (Tagesspiegel), Tetsuya Tsutsuis Manga "Poison City" (Tagesspiegel), eine Ausstellung des Jahrhundertwendesatirikers Eduard Thöny im Karikaturenmuseum Krems (Standard) und die große Ausstellung "Comics! Mangas! Graphic Novels!" in der Bundeskunsthalle in Bonn (SZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur

Film


Szene aus Arnaud Desplechins "Les Fantômes d'Ismaël".

Das hat es in Cannes auch noch nicht gegegeben, staunt Dominik Kamalzadeh im Standard nach der Premiere von Arnaud Desplechins "Les Fantômes d'Ismaël", mit dem gestern das wichtigste Filmfestival der Welt eröffnet wurde: Kein Applaus, keine Buhs nach der Vorstellung - die Kritiker im Kinosaal: ratlos. Dabei ist dieser französische Autorenfilm par excellence zwar eigentlich wie für Cannes gemacht, aber dennoch "kein Film, der von nostalgischer Wehmut durchdrungen ist, sondern einer, der von der Erfindungslust seines Autors lebt. Der 56-jährige Franzose ist ein cinephiler Regisseur, einer, der das Kino liebt und durch dessen Bilder sein radikal eigenes formt." Der fragmentiert erzählte Film über einen Regisseur und dessen Verhältnis zu den Frauen wirkt "auf Dauer leicht ermüdend", so Kamalzadeh, nutzt aber "immer wieder virtuos die vielen Stilmittel des Kinos". Auch Andreas Busche vom Tagesspiegel wundert sich, dass dieser geradezu ideale Festivaleröffnungsfilm so rasch erschlafft. Woran liegts? "Die fließenden Übergänge bleiben so lange interessant, wie sich die Zusammenhänge nicht erschließen. Doch sobald die Konstruktion der Geschichte (ein Film-im-Film) offensichtlich wird, verliert das Changieren der Erzählebenen schnell seinen Reiz."

Ziemlich vernichtend fällt Tobias Kniebes Urteil in der SZ aus: Ihm zeigt der Film, dass sich das französische Autorenkino in seinen "pubertären Schöpfungsfantasien und Privilegien inzwischen behaglich eingerichtet" hat. Verena Lueken berichtet im FAZ-Festivalblog. Tim Caspar Boehme schreibt in der taz über die neuen Sicherheitskontrollen des Festivals.


Bertrand Bonellos "Nocturama"

Nicht gezeigt wurde letztes Jahr in Cannes wegen der Terroranschläge Bertrand Bonellos "Nocturama", der heute in unseren Kinos startet. Darin geht es um von ihrem Konsum-Ennui geplagte Jugendliche, die einen Anschlag planen. "In seiner Verweigerung sozialer Thesen" ein sehr zeitgemäßer Film, meint Dominik Kamalzadeh in der taz: "Er richtet seinen Blick auf einen Nihilismus, der kurz aufflammt, um im nächsten Moment unter Masken, Doubles und Doppelgängern wieder verschlungen zu werden." Patrick Holzapfel schließt sich im Perlentaucher an: "Bonello verbindet Emotionen zwischen Gleichgültigkeit und Spektakel, Wahrscheinlichkeit und Irrationalität sowie äußere und innere Bedürfnisse wie kaum ein anderer Filmemacher, und spricht damit präzise und mitreißend von unserer Zeit."

Außerdem: Daniel Kothenschulte (FR) und Philipp Stadelmaier (SZ) resümieren die Kurzfilmtage in Oberhausen. Und: Nachdem Fandor David Hudsons internationale Filmpresseschau nicht mehr haben wollte (wir berichteten), geht sie nun beim US-Qualitätslabel Criterion weiter - wir gratulieren und freuen uns!

Besprochen werden Sobo Swobodniks Dokumentarfilm "6 Jahre, 7 Monate und 16 Tage. Die Morde des NSU" (taz), Mike Mills' "Jahrhundertfrauen", die Georg Seeßlen in der Zeit ganz weich werden lassen (Perlentaucher, FAZ), Ridley Scotts "Alien: Covenant" (NZZ, SZ), Andres Veiels Collagenfilm "Beuys" (Tagesspiegel, unsere Kritik hier) und die Liebeskomödie "Through the Wall" der ultraorthodoxen israelischen Filmemacherin Rama Burshtein (NZZ).
Archiv: Film

Musik

Mit einem dicken Wälzer feiert das zwischen Kunst und Club changierende Elektro-Avantgarde-Label Raster-Noton sein über 20-jähriges Bestehen. Für Bjørn Schaeffner von der NZZ ein angenommener Anlass zur Rückschau und Bilanz: "Wo Karl-Heinz Stockhausen postulierte, dass Sound uns verändere, machen die Musiker von Raster-Noton die Probe aufs Exempel: Sie forschen auf der Achse von Körperlichkeit und Entkörperlichung, im Grenzgebiet von Materie und Äther. Carsten Nicolai experimentierte früh mit Frequenzen, die im subliminalen Bereich liegen. Eine japanische Fan-Page trat irgendwann sogar das hübsche Gerücht los, dass sich Nicolai mit Fledermäusen unterhalte.  ... Innovative, neue Musik steht per se unter Krach-Verdacht. Was den einen so verwirrend wie ein Borges-Labyrinth vorkommt, ist anderen ein ewig angestrengtes Klanggewühl."

Weiteres: Jürg Huber resümiert in der NZZ den Zürcher Liederfrühling. In der NZZ schreibt Peter Hagmann über die Situation des Sinfonieorchesters Basel, das derzeit mit einer eher ungenügenden Exilspielstätte vorlieb nehmen muss.

Besprochen werden ein Konzert von All Diese Gewalt (Tagesspiegel), Shobaleader Ones nach sich selbst benanntes Album (taz), Laibachs Konzertfilm aus Nordkorea (Spex), ein Konzert des Rappers Stormzy (Tagesspiegel), der Auftakt des Berliner Klavierfestivals mit Yevgeny Sudbin (Tagesspiegel) und eine "Best Of"-Box von Nick Cave und den Bad Seeds (wohl eher eine "Bekanntest-Of" gähnt Erz-Fan Karl Fluch im Standard).

Archiv: Musik