Efeu - Die Kulturrundschau

Ich, Du, Politics, Language

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.04.2017. Die NZZ sucht ihr Drehbuch in Hans Op de Beecks Wolfsburger Rauminszenierungen. Die SZ reist durch die Konzertsäle Europas auf der Suche nach dem besten Klang. Keine Gummibäume mehr und keine toten Fische, verspricht der neue Leiter der Wiener Festwochen Tomas Zierhofer-Kin im Standard. Ilma Rakusa reist für die FAZ auf Rilkes Spuren durch Russland.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.04.2017 finden Sie hier

Kunst


Hans Op de Beeck, The Settlement, 2013. © Hans Op de Beeck

Wie Alice im Wunderland bewegt sich NZZ-Kritikerin Kerstin Stremmel im Museum Wolfsburg durch die Rauminszenierungen Hans Op de Beecks, der seine Modelle oft kleiner oder größer baut als das Original, immer auf der Suche nach ihrem eigenen Film: "Die Künstlichkeit und Akribie erinnert an Filmsets, die der schwedische Regisseur Roy Andersson über Wochen in seinem Studio bauen lässt und dann oft nur für eine einzige Kameraeinstellung benutzt. Bei Hans Op de Beeck sind wir es, die immer irgendwie unpassend gekleideten Besucher, die sich ein Drehbuch überlegen müssen. In diesem Raum wirkt alles bekannt und fremd zugleich und ist in seiner reduzierten Farbigkeit weniger langweilig als beruhigend und irgendwie zeitgemäß entschleunigend. Die Schatzkammer des Sammlers wird in Wolfsburg durch einen Balkon ergänzt. Von hier aus hat man einen Blick auf eine düstere Unterstadt, das Szenario erinnert an den Film 'Metropolis'."


Paul Elliman, Autumn/Winter 2016/17, Courtesy der Künstler

In den Berliner Kunst-Werken beginnt der neue Kurator Krist Gruijthuijsen seine Amtszeit mit einem Premieren-Trio zur Konzeptkunst, berichtet Christiane Meixner im Tagesspiegel: "Das Wesentliche ist für Gruijhtuisen das Wort. Es steht am Beginn der Konzeptkunst und formt den Gedanken, aus dem heraus ein Werk wie von Hanne Lippard entstehen kann. Sie war die Erste in seinem Premieren-Trio und hat im Hauptraum eine Wendeltreppe samt akustischer Installation aufgebaut, die den Besucher mit Fragen konfrontiert: Was willst du, wer bist du, was ist der Sinn deines Daseins? Paul Elliman, der den Eröffnungsreigen im ersten Stockwerk fortsetzt, gibt vorsichtige Antworten. In seiner Ausstellung 'As you said' formen sie in monumentalen Buchstaben auf Displays oder Plakaten vor allem Parolen der Gegenwart: Ich, Du, Politics, Language." Der anderen beide Künstler sind Ian Wilson und Adam Pendleton.

Weitere Artikel: "Nichts als alternative Fakten" sieht ein faszinierter Marcus Woeller (Welt) in Damien Hirsts neue Ausstellungen in Venedig, die angeblich einen versunkenen antiken Schatz zeigen, den Hirst aus dem Meer geborgen haben will. Anlässlich der Schau Jack Bilbo/Daniel Richter, die ab 28. April im Atelier Liebermann in Berlin zu sehen ist, druckt die taz einen Text über Bilbo von Ludwig Lugmeier aus dem Katalog vorab. Im Guardian schreibt Lara Feigel anlässlich der kommenden großen Giacometti-Ausstellung in der Tate Modern über Giacomettis Obsessionen.

Besprochen werden zwei Ausstellungen mit Bildern aus drei Jahrhunderten venezianischer Malerei in der Hamburger Kunsthalle und in der Würzburger Residenz (FR) und eine Ausstellung des Südafrikaners Kemang Wa Lehulere in der DB-Kunsthalle Berlin (FR).
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Architektur

Reinhard J. Brembeck hört sich für die SZ durch europäische Musiksäle, dem Geheimnis des Klangs auf der Spur. Yasuhisa Toyota, der für die Akkustik der Hamburger Elbphilharmonie zuständig ist, soll nämlich eventuell auch den geplanten neuen Konzertsaal am Münchner Ostbahnhof betreuen. Von der Akkustik in Hamburg ist Brembeck aber alles andere als begeistert. Der Saal braucht einfach Zeit, beruhigt ihn Kent Nagano: "In alten Konzertsälen, erklärt Nagano, in Hamburgs Laeiszhalle oder in dem von Musikern so geschätzten Wiener Musikvereinssaal, könne man 'mit der Akustik in einer Partnerschaft spielen'. Weil die Säle bei jedem Impuls mitschwängen, so dass sich der Klang von selbst entwickele. In modernen Sälen dagegen gelange der Klang schnell und effizient zum Hörer, klar und genau. Das entspreche den Idealen der digitalen Gesellschaft. 'Dieser informative Aspekt', sagt Nagano, 'kann sehr kalt klingen.' Genauigkeit sei aber nicht Wahrheit, auch habe Information absolut nichts mit Musik zu tun."
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Film

Das Blog Duoscope führt durch das Schaffen des Regisseurs Helmut Käutner. Frank Junghänel (FR), Andreas Kilb (FAZ) und Tobias Kniebe (SZ) gratulieren Jack Nicholson zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden die Netflix-Serie "Tote Mädchen lügen nicht" (Freitag), die dritte Staffel der Amazon-Serie "Bosch" (ZeitOnline) und die Netflix-Serie "Girlboss" (ZeitOnline, FAZ).
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Stichwörter: Netflix, Käutner, Helmut

Bühne

Keine Gummibäume mehr und keine toten Fische. Am 12. Mai startet die erste Saison der Wiener Festwochen unter dem neuen Intendanten, Tomas Zierhofer-Kin. Und der traut sich was. Im Interview mit dem Standard erklärt er, wie er neben dem konservativen Publikum mit Performance, Tanz, bildender Kunst, Vorträgen auch jüngeres Volk anlocken will: "Mich stört am Sprechtheater die Repräsentation, nicht nur im machtpolitischen Sinn, sondern von 'Ich spiele etwas'. Es hat viele Entwicklungen verschlafen, wohingegen ich anderswo merke, dass da etwas passiert, bei dem ich ganz anders gefordert werde als in der bürgerlichen Idee von Lernen, Analysieren, Verstehen. ... Die passive Idee, irgendwelche teuer produzierten toten Fische herzutun, die wahnsinnig schön sind, wo man aber danach nur sagen kann, wo gehen wir essen, das ist nicht meines."

Besprochen werden Tomas Schweigens Inszenierung von Ivna Žics "Blei", ein Stück über die Ambivalenzen von Erinnerung und Vergangenheitsbewältigung am Schauspielhaus Wien (Presse, Standard, nachtkritik), das Solostück "Hunter" der belgisch-deutschen Choreografin und Tänzerin Meg Stuart im Tanzquartier Wien (Standard) und die Eröffnung des Krass-Festival auf Kampnagel Hamburg mit Branko Šimićs Gewaltstudie "Portrait Explosiv" (nachtkritik).
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Literatur

Dass der Schriftsteller Friedrich Christian Delius in einem Aufsatz in der Zeitschrift Sinn und Form Kanzlerin Merkel als für die Literatur ungeeignete Figur abtut, hält Burkhard Müller im SZ-Kommentar für einen Offenbarungseid: "Delius traut der Literatur offenbar nur dann Handlungsfähigkeit zu, wenn sie sich von der lebendigen Nähe ihres Gegenstands verabschiedet hat. ... Das Genre des Kanzlerromans, da hat Delius recht, ist bis jetzt ziemlich dünn besetzt. Das betrachtet er kleinmütig als ein Argument dagegen. Man könnte aber auch umgekehrt behaupten, es würde höchste Zeit, dass sich mal einer dranmacht."


Tolstois Haus in Jasnaja Poljana (Bild: Celest.ru, CC BY-SA 3.0)

Im literarischen Wochenendessay der FAZ berichtet die Schriftstellerin Ilma Rakusa von ihrer Reise durch Russland auf Rilkes Spuren. Unter anderem führt sie ihr Weg auch zu Lew Tolstois Haus in Jasnaja Poljana, wo die Aura des Groß-Schriftstellers sie sichtlich beeindruckt: "Alles, was hier zu sehen ist, ist authentisch und an seinem ursprünglichen Ort. Der Schreibtisch, den Tolstoi von seinem Vater, die Kommode, die er von seiner Erzieherin geerbt hatte. Der Diwan, auf dem er - und nach ihm alle seine Kinder - zur Welt gekommen ist. Der Phonograph, das Grammophon, der Fotoapparat, mit dem er schon 1862 ein Selbstporträt schoss, die Hanteln (Tolstoi war sportlich), zwei Becker-Flügel (Tolstoi spielte glänzend Klavier und komponierte Walzer), die Porträts (von Kramskoi und Repin), die Remington-Schreibmaschine, das Baumwollhemd mit einer Brusttasche für Bleistifte, ein Spazierstock, ja sogar ein Rollstuhl. Insgesamt 41.000 originale Gegenstände birgt das Haus, darunter rund 23.000 Bücher."

Weiteres: Für die taz liest Frank Schäfer Wolfgang Welts postum im Schreibheft veröffentlichtes Romanfragment "Die Pannschüppe". Marcus Müntefering hat für den Freitag den schottischen Thrillerautor Graeme Macrae Burnet besucht, den die überraschende Man-Booker-Nominierung seines zweiten Romans "Das blutige Projekt" aus der Kleinverlagsnische ins Rampenlicht der Betriebsöffentlichkeit geholt hat. FC-Bayern-Fan Friedrich Ani ärgert sich im Freitext-Blog auf ZeitOnline maßlos über das Gejammer seines Vereins. Für den Tagesspiegel trifft sich Nicole Henneberg mit taz-Redakteurin und Debütschriftstellerin Fatma Aydemir.

Besprochen werden Jérôme Leroys "Der Block" (FR, unsere Kritik hier), Zbigniew Herberts "Gesammelte Gedichte" (NZZ), die Anthologie "Von der unendlichen Ironie des Seins. Ungarische Ungereimtheiten" (NZZ), die Wiederveröffentlichung von Curt Corrinths "Potsdamer Platz oder Die Nächte des neues Messias: Ekstatische Visionen" von 1920 (ZeitOnline), Reginald Hills "Die letzte Stunde naht" (Welt), Noëlle Revaz' "Das unendliche Buch" (NZZ), Toni Morrisons "Gott, hilf dem Kind" (FAZ), Sei Shōnagons "Kopfkissenbuch" (Literarische Welt) sowie neue Hörbücher von Harry Rowohlt und Max Goldt (taz).
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Musik

Mit ihrer Entscheidung für den jungen Dirigenten Jakub Hrůša haben die Bamberger Symphoniker eine gute Wahl getroffen, freut sich Marco Frei in der NZZ nach dem Anhören einer neuen Aufnahme von Smetanas "Má Vlast", mit der sich das einstige Exil-Orchester auch weiterhin einfühlsam seinen historischen Wurzeln im heutigen Tschechien zuwendet. Hrůša verzichte auf jedes nationalistische Getöse, "sondern arbeitet eine hellhörige Balance zwischen klassisch-schlanker Lyrik und wirkungsvoller Dramatik heraus. ... Wenn sich im finalen 'Blaník' das Martialische zu einem berückenden Idyll wandelt, wird fast schon eine aktuelle Zeitkritik hörbar. Jedenfalls verrät Hrůšas Leitung, dass ihm jedweder Musik-Nationalismus fremd ist - politische Tendenzen, die gegenwärtig gerade in Osteuropa wieder unangenehm in Mode kommen. Ein wunderbares Orchester ist auf der Smetana-CD zu erleben." Eine weitere Besprechung mit Auszügen aus der Aufnahme gibt es bei BR Klassik.

Weiteres: Für die taz plaudert Thomas Winkler ausführlich mit Tom Schilling, der nun mit seinem Debütalbum "Vilnius" ebenfalls ins Metier der singenden Schauspieler gewechselt ist. Stefan Hentz erinnert in der NZZ an die Original Dixieland Jass Band, die vor 100 Jahren die erste Jazzplatte veröffentlichte. Gerhard R. Koch berichtet in der FAZ vom Heidelberger Frühling und dessen Schwerpunkt "Neuland.Lied". René Martens schreibt in der taz zum Tod des Musikers Frank Dostal. Außerdem bringt NPR Auszüge aus dem ersten Interview, das Kendrick Lamar nach der Veröffentlichung seines neuen Albums "Damn" (mehr dazu hier und hier) gegeben hat. Hier das Gespräch in voller Länge:



Besprochen werden Christian Gerhahers Aufnahme von Brahms' "Die schöne Magelone" mit Zwischentexten von Martin Walser (NZZ), ein Konzert der Manfred Mann's Earth Band (taz), die Ausstellung zur Geschichte der elektronischen Musik im Musikinstrumentenmuseum in Berlin (Tagesspiegel), das neue Album "Semper Femina" von Laura Marling (NZZ), das Album "Gleisdreieck" von Joy Denalane (taz) und das neue Album von Future Islands (FAZ.net).
Archiv: Musik