Efeu - Die Kulturrundschau

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06.04.2017. Die Feuilletons bejubeln die asoziale Energie in Jakob Lass' "Tiger Girl". Im SZ-Interview beklagt der Regisseur die hiesige FilmförderungFAZ und Tagesspiegel finden in Paris das Primitive in Picassos Bildern. In der NZZ erklärt Raoul Schrott die Analogien von Poesie und Physik. Und in der Zeit wirft Maxim Biller seinen Kritikern Antisemitismus vor.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.04.2017 finden Sie hier

Film


Baseball-, statt Verurteilungskeule: Jakob Lass' "Tiger Girl" (Bild: Constantin)

Endlich wird das deutsche Kino wieder cool, jubeln die Kritiker über "Tiger Girl" von Jakob Lass, der schon mit "Love Steaks" für Aufsehen gesorgt hatte. In "Tiger Girl" prügeln sich nun zwei Mädchen zwischen feminisischem Empowerment und asiger Kriminalität durchs nächtliche Berlin. Hanns-Georg Rodek von der Welt würde sich ihnen am liebsten anschließen und auch mal gepflegt Backpfeifen verteilen und Vernissagen sprengen: "Der Film und seine Figuren sind geladen von dem Element, das dem deutschen Kino am meisten abgeht: von Energie. Sie bersten geradezu davon und ja, da ist asoziale Energie am Werk, kriminelle Energie, und Jakob Lass weigert sich, sofort die Verurteilungskeule auszupacken."

Ziemlich fantastisch findet es auch Juliane Liebert von der SZ, wie der Film sich um eine Position nicht schert: "Keine Moral. Keine Rettung. Dafür Frauen, die nicht in Willenlosigkeit vor sich hin wabern. ...  Jakob Lass zeigt selbstbewusst und eigenverantwortlich handelnde Menschen. Auch das macht diesen Film stark, weil er einen daran erinnert, wie sehr einen dieses Menschenbild anödet, das überall nur noch Zahnrädchen eines mysteriösen Spätkapitalismus oder konturlos zerfließende, verlorene Seelen sieht. Gerahmt vom Patriarchat oder der unerträglichen Leichtigkeit des Seins oder Wasauchimmer." Für den Tagesspiegel bespricht Thomas Groh den Film etwas weniger begeistert.

Im SZ-Interview äußert sich Lass gegenüber David Steinitz im übrigen auch über die hiesige Filmförderkultur: Für sein "Tiger Girl" hätte er ohne den Erfolg seines anarchischen, ohne Förderung im Gepäck ins Kino gebrachten "Love Steaks" jedenfalls keine Mittel einholen können, sagt er und fordert: "Entscheidungen dürfen nicht mehr so angstgetrieben sein, dafür gibt es überhaupt keinen Grund. Wir haben in Deutschland eine Filmindustrie und eine Förderkultur, beides zusammen müsste eigentlich ein idealer Nährboden für ein wildes Kino sein. Wir haben keinen Diktator, der Filmemacher wegen ihrer Werke ins Gefängnis wirft, wir haben durch die öffentlichen Förderungen ein finanzielles Sicherheitsnetz. Eigentlich gibt es keine Ausreden, man kann sich auch mal trauen, auf die Fresse zu fliegen."



Szene aus "A Caixa", Manoel de Oliveira (1994)


Weiteres: In der taz empfiehlt Ekkehard Knörer die Werkschau Manoel de Oliveira im Berliner Kino Arsenal: Dieser habe "eine ganze Reihe großartig verwunschener Filme gemacht. Einer schöner als der andere." Michael Freund berichtet für den Standard vom Filmfestival in Saas-Fee in der Schweiz. Für epdFilm porträtiert Anke Sterneborg Moritz Bleibtreu. In Berlin schießen die Kiezkinos derzeit aus dem Boden, berichtet Andreas Hartmann in der taz (aktuelles Beispiel: das wiedereröffnete Klick-Kino in Charlottenburg).

Besprochen werden Claudio Caligaris "Tu nichts Böses" (taz), die DVD des lange Zeit verbotenen Kultklassikers "Tanz der Teufel" von Sam Raimi (taz, mehr dazu hier), der Dokumentarfilm "Geschichte einer Liebe - Freya" über die Widerstandskämpferin Freya von Moltke (taz), Sam Gabarskis "Es war einmal in Deutschland" ("alles bleibt in der allmählich unfassbar müde machenden Filmförderungsmediokrität hängen", gähnt Elmar Krekeler in der Welt), der Dokumentarfilm "Ein deutsches Leben" über die frühere Goebbels-Sekretärin Brunhilde Pomsel (Welt), Marie-Castille Mention-Schaars "Der Himmel wird warten" (NZZ), Aldo Gugolz' Dokumentarfilm "Rue de Blamage" (NZZ) und der auf DVD veröffentlichte Horrorfilm "Halloween 3 - Season of the Witch" (Filmgazette).
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Musik

Mit verstörend delirierenden Klängen und Körperbildern hat Arca vor wenigen Jahren auf sich aufmerksam gemacht. Zwischenzeitlich hat er bei Björk Station als Produzent gemacht, jetzt ist sein neues Album, schlicht nach seinem Alias benannt, erschienen. Auch dieses ist wieder "zugleich Manifest und Feier der körperlichen Verstörung", schreibt Markus Schneider auf ZeitOnline. "Bilder und Musik erinnern an Egon Schiele oder Lucian Freud. Eine einsame Stimme cruist durch brummende, zerstreute und verbeulte Texturen. Und sie singt von Begehren und von Schmerz, von ewiger Angst und der Ahnung von Erlösung. Unwiderstehlich, abstoßend, sexy." Auf Pitchfork feiert Kevin Lozano das Album. Hier ein aktuelles Video:



Beim Avantgarde-Festival "New York Stories" in der Elbphilharmonie floh das Publikum mitunter am laufenden Meter, berichtet Alexander Diehl in der taz. Das habe damit zu tun, dass Karten für 'Elphi'-Veranstaltungen derzeit generell sehr begehrt sind, unabhängig vom Programm: "Da sitzen, in schwankenden Anteilen, Menschen im Publikum, die sich das jeweilige Programm nicht ausgesucht haben; man hat anscheinend an Tickets erworben, was zu kriegen war - und flieht notfalls wieder. Man war wenigstens dabei, auch wenn die Musik eine Zumutung war, sei sie nun von John Zorn oder Morton Feldman."

Weiteres: Nadine Lange erklärt im Tagesspiegel die neuen Regularien des Echo, die verhindern sollen, dass der zuvor weitgehend chartorientierte Musikpreis zur Helene-Fischer-Revue verkommt. Kanye Wests Album "The Life of Pablo" von 2016 ist das erste, das allein über Streaming Platinumstatus erreicht hat, meldet The Quietus. Für die taz spricht Andreas Hartmann mit der DDR-Band Ornament & Verbrechen. Karl Gedlicka vom Standard traf sich mit der Rockabilly-Sängerin Imelda May zum Gespräch.

Besprochen werden "Triplicate" von Bob Dylan (Pitchfork), eine Kompilation mit italienischem House aus den frühen 90ern (Pitchfork), ein Konzert von Beth Ditto (Berliner Zeitung), ein Berlioz-Konzert von Christian Gerhaher (FR), ein Wiener Konzert des HR-Sinfonieorchesters unter Andrés Orozco-Estrada (Standard), ein Konzert des Jazztrompeters Tomasz Stanko (FR) und das neue Album "Automaton" von Jamiroquai (FR).
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Bühne

In der taz hat sich Katja Kollmann auf dem F.I.N.D-Festival in der Schaubühne "Acceso", die erste Theaterarbeit des Filmregisseurs Pablo Larrain angesehen. Besonders Roberto Farias, der den Sandokan spielt, hat es Kohlmann angetan: "Farías dreht sich mit einer dermaßen ruckartigen Bewegung in meine Richtung, dass ich mit dem ganzen Körper abwehrend nach hinten schnelle, er aber bohrt seinen Blick in meine Augen, um dann mit harter Lexik weiter aus dem Leben eines chilenischen Parias zu berichten. Instinktiv möchte ich weghören, wenn Farías Sandokan von Heroin, Vergewaltigung durch Priester und Pornofilmaufnahmen, erzählt."

FAZ-Kritiker Malte Hemmerich hat an der Oper Köln eine pompös exotische "Turandot" gesehen: "Die junge Regisseurin Lydia Steier macht aus Giacomo Puccinis letzter Oper 'Turandot' eine vollgepfropfte Fernost-Gala mit Massenszenen, bunten Kostümen, Gewalt und Hintersinn. Denn indem sie alle Facetten eines eurozentrischen Blicks auf das Sujet dieser Oper freilegt, öffnet sie Augen und Ohren für Neues und schafft es, diesem Märchen über eine unnahbare Prinzessin aufregende Mehrdimensionalität zu verleihen."

Archiv: Bühne

Architektur

In der Welt staunt Dankwart Guratzsch über das von Daniel Libeskind entworfene Zentralgebäude der Leuphana-Uni in Lüneburg: "Louis Sullivans Forderung, die Form habe der Funktion zu folgen, ist außer Kraft gesetzt. Mit überkippenden schrägen Wänden, spitz herausstechenden Nasen und einem haifischmaulartigen Eingang scheint das Gebäude konkreten Funktionen zu spotten. Wenn es überhaupt eine ablesbare Symbolik hat, ist es der gebaute Regelverstoß."
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Stichwörter: Libeskind, Daniel

Literatur

Grundsatzüberlegungen zu Poesie und Physik stellt der Schriftsteller Raoul Schrott in der NZZ an. Beide stehen einander näher, als man meinen könnte, behauptet er: Beide greifen auf Metaphern zurück, um auf dem Grund der Dinge zu einem Begriff der Welt zu finden. "Die Physik stellt anhand eines solchen Analogiedenkens in sich geschlossene Modelle auf und kann damit - das ist das Erstaunliche an ihr - nachprüfbare Ereignisvorhersagen treffen. Der Wirklichkeit in ihrem Grund kommt sie dadurch aber nicht näher als die Poesie. Denn dieses Etwas an Energie, das man Photon nennt, ist weder ein Teilchen im Sinne eines Sandkorns noch eine Welle, wie wir sie im Wasser oder in der Schwingung eines Seils erkennen - es sind allein Vergleiche, die uns diese Phänomene fassbar zu machen scheinen. Ob Physik oder Poesie: Beide erschließen Strukturen von uns unbekannten Phänomenen durch Analogiebildungen zu uns bereits bekannten Erscheinungen."

"'Portnoys Beschwerden' ja, 'Biografie' nein?" Maxim Biller wirft den Kritikern seines Romans "Biografie" - Lothar Müller, Andreas Platthaus, Felix Stephan - auf zwei Seiten in der Zeit vor, dass sie "manchmal wie böse, alte Dreißiger-Jahre-Germanisten klingen". Der Ton seiner Klagearie ist dann aber mehr Walser als Roth: "Und waren sich die Rezensenten, die mein Roman ­ irritierte, der passiv-aggressiven Ambivalenz ihrer ­Positionen, Begriffe und Sprache bewusst, die ­ teilweise direkt aus der ideologischen Asservaten­kammer von Treitschke, Houston Stewart Chamberlain und solchen längst vergessenen NS- Germanisten wie Jost Trier oder Josef Nadler zu stammen schienen? War ihnen klar, dass sie einerseits als Gralshüter der wahren Erinnerungsarbeit und dankbare Konsumenten und Verteidiger der amerikanisch-jüdischen Provokationskultur des 20. Jahrhunderts auftraten - und andererseits über 'Biografie' so dachten und schrieben wie früher deutsche Kritiker über die Bücher von Lion Feuchtwanger, die Gedichte von Mascha Kaléko, die Bilder von George Grosz?"

Besprochen werden unter anderem Øyvind Torseters Kinderbuch "Der siebente Bruder oder Das Herz im Marmeladenglas" (NZZ) und Takis Würgers "Der Club" (SZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Wie sehr Picasso von afrikanischer Kunst beeinflusst wurde, ist aktuell im Pariser Museum am Quai Branly in der Ausstellung "Picasso Primitif" zu sehen. In der FAZ betrachtet Andreas Platthaus "etliche exotische Objekte, um deren Bedeutung für ihn man sicher weiß. Vor den reproduzierten 'Demoiselles' etwa steht die Holzstatue eines Tiki von den Marquesas-Inseln im Pazifik, die in Picassos Besitz seit 1910 nachgewiesen ist: ein Meisterwerk von atemraubender Strenge, aber ohne die markanten Augenschlitze und Nasengrate afrikanischer Masken, die sich bei den 'Demoiselles' finden." Und im Tagesspiegel bewundert Bernhard Schulz Picassos "Kampf mit den Dämonen": "Es ist in der Ausstellung faszinierend zu sehen, wie diese Objekte mit Gemälden korrespondieren, wie der Maler, der Bildhauer, der Bastler und Verwandler Picasso seine eigenen Obsessionen im Wortsinne 'objektiviert' und sich ihrer entledigt. Oder sie zumindest bändigt. In der Konfrontation mit den Kultobjekten verblasst die stilgeschichtliche Einteilung, die an Picassos riesenhaftem Œuvre stets vorgenommen wurde."

In der SZ hat sich Gottfried Knapp auf der Düsseldorfer Marcel Broodthaers-Retrospektive im K21 bestens mit den ironisch-heiteren Gedankenspielen und Installationen des belgischen Avantgardekünstlers amüsiert: "Das sind im traditionellen Sinne keine Kunstwerke, es sind anarchisch-poetische Erfindungen, die den Betrachter aus der Pflicht, alles verstehen zu müssen, gnädig entlassen. Aus dieser Ausstellung kann man also nichts nach Hause tragen außer dem guten Gefühl, einem kreativen Menschen beim anarchischen Spiel, beim heiteren Angriff auf die Weltordnung zugesehen zu haben."

Hingerissen berichtet Andrea Schurian im Standard von der Eduard-Angeli-Retrospektive in der Wiener Albertina: "Angeli malt die Stille. In aller buchstäblichen Ruhe und geradezu skandalösen Klarheit entfaltet seine Kunst ihre ganze magische Wirkmacht: messerscharfkantige Mauern; mysteriöse Dachlandschaften; tote Städte; Geisterstrände; grau in graue Häuserfassaden mit verriegelten Fenster- und Türläden, jedes Detail übrigens mit geradezu altmeisterlicher Präzision gemalt; gespenstische Hafenszenen; Bars, hinter deren verschlossenen Türen sich die Verlorenen und Vergessenen tummeln mögen; pastellene Wasserspiegelungen von betörender Zartheit; leergefegte Gassen: Bühnenbilder, die noch auf den Auftritt der Darsteller warte."

Weiteres: Über siebzig Künstler haben auf der Seite "Wirwollennichtzurdocumeta14.de" gegen die Documenta und Adam Szymczyks "Mobilisierungscharakter" protestiert, berichtet Harry Nutt in der Berliner Zeitung: "Unter dem Slogan 'Wir tragen keine Eulen nach Athen' begründen sie ihre Standhaftigkeit: 'Schluss mit diesen documenta Ausbeutungsstrukturen! Solidarität beginnt vor der eigenen Haustür! Die Moderne ist unser Späti! Für mehr Kunstvernichtung! Wir hassen Ideen!'" In der NZZ schreibt Andrea Köhler zur Kontroverse um Dana Schutz' auf der Whitney-Biennale gezeigtes Gemälde "Open Casket", das den ermordeten Emmett Till darstellt. (Bild und unser Resümee)
Archiv: Kunst