Efeu - Die Kulturrundschau

Im Dienst des Fortschritts

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01.04.2017. Teletubbies auf LSD? Tibetische Totenbegleitung? An den Münchner Kammerspielen inszeniert  Susanne Kennedy sehr frei Jeffrey Eugenides' "Selbstmordschwestern" und lässt die Kritiker recht konsterniert, fasziniert, befremdet und unberührt zurück. Die Welt lernt von der russischen Revolutionskunst in der Royal Academy, dass Fliegen aus reiner Menschenkraft möglich sein müsste. Die FAZ sorgt sich um den Fortbestand des Manesse-Verlags bei Random House. ZeitOnline wünscht sich mehr Licht in Johns Zorns Musik.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.04.2017 finden Sie hier

Bühne


Die Selbstmordschwestern an den Münchner Kammerspielen. Foto: Judith Buss

Susanne Kennedy hat an den Münchner Kammerspielen
eine sehr freie Adaption von Jeffrey Eugenides' Roman "Die Selbstmordschwestern" auf die Bühne gebracht. Es gab Teletubbies auf LSD und einen spektakulären Bühnenbild-Tempel. Furios findet das zumindest Erik K. Franzen in der FR: "Ein Flash von der ersten bis zur letzten Minute." NZZ-Kritikerin Daniele Muscionico hat lange überlegt, wo Kennedy mit ihrem Theater hin will, seit den "Selbstmordschwestern" weiß sie: "Kennedys Theater ist Seelsorge. In München sorgt für unsere Seelen: Timothy Leary, der Hohepriester bewusstseinserweiternder Drogen! Er führt durch den Abend als computergenerierter androgyner Avatar. Gibt es also LSD frei Haus? Vergessen. Gibt es denn eine Ahnung der Romanvorlage? Vergessen. Besser vergessen wir alles, was wir gelesen haben und nun sehen wollen - und legen wir uns in Kennedys Theater als Float-Tank. Wer Bauchatmung kann und über Meditationserfahrung verfügt, wird dort ein Kammerspiel träumen aus technischem Neuronengewitter letzter Hirnströme und aus schamanischer, hinduistischer Totenbegleitung."

In der SZ ist Christine Dössel fasziniert und befremdet zugleich: "Richtig sterben, so die Botschaft, heißt, loslassen können." In der Nachtkritik hält sich Shirin Sojitrawalla etwas bedeckt, erkennt in der Produktions allerdings eine gewaltige Verherrlichungsmaschine: "Der Tod und die Mädchen werden hier der Glorifizierung preisgegeben." Bei FAZ-Kritiker Simon Strauss hat die Inszenierung nicht gewirkt: "Nichts passiert an diesem anderthalbstündigen Abend, was in irgendeiner Weise verstören oder beklemmen würde."

Weiteres: Als radikalen Theatermagier porträtiert Reinhard Brembeck in der SZ den italienischen Opernregisseur Romeo Castellucci, der gerade in den Hamburger Deichtorhallen mit Kent Nagano Bachs Matthäus-Passion aufgeführt hat.

Besprochen werden Alvis Hermanis' "Parsifal"-Inszenierung an der Wiener Staatsoper (Standard, FAZ) und Enrico Lübbes Doppelabend "Die Maßnahme / Die Perser" an Leipzigs Schauspiel (Nachtkritik)
Archiv: Bühne

Literatur

Beim Literarischen Colloquium Berlin diskutierte man unter dem Stichwort Biblio-Diversität über die Verlagsvielfalt in Deutschland, berichtet Cornelia Geißler in der FR: Dort zeigte sich ihr, "dass für Alarmismus in Deutschland kein Anlass besteht, für Sorge schon." Einige Sorgen macht sich auch Wiebke Porombka von der FAZ, die Wind bekommen hat von Plänen des Konzerns Random House, die eigene interne Verlagsstruktur weitreichend umzubauen. Insbesondere den für edle Veröffentlichungen spezialisierten Verlag Manesse sieht sie bedroht. Bei Random House hält man sich auf Nachfrage bedeckt, doch die Indizien liegen für Porombka klar auf dem Tisch: "Wer vor einer Woche auf der Leipziger Buchmesse den Stand von Random House besuchte, musste mit einiger Irritation zur Kenntnis nehmen, dass etwa der Name Manesse als Schriftzug an den Wänden des Standes gar nicht mehr auftauchte. Die Bücher wurden nicht mehr sichtbar als eigenes Programm in den Regalen präsentiert, sondern auf kleine Stapel zusammengerückt, die man erst einmal mühsam aufstöbern musste."

Da durften die Archivare beim Stöbern schön stutzen: Gleich zweimal hatte sich Jane Austen, die in ihrem Leben keine Ehe eingegangen ist, ins Heiratsregister ihres Heimatorts Steventon eingetragen. Offenbar ein Jugendstreich, schreibt Marion Löhndorf in der NZZ: "Einen der Gatten taufte sie etwas hochtrabend Henry Frederic Howard Fitzwilliam. Er stammte angeblich aus London. Im zweiten von ihr gefälschten Vermerk erfand sie sich als künftige Frau eines Edmund Arthur William Mortimer aus Liverpool. Ob Fitzwilliam oder Mortimer je existierten, ist unbekannt." Ob die Autorin wohl aus "Scherzlust oder Sehnsucht" handelte? "Wir werden es nie erfahren. Mehr dazu auch bei der BBC.

Weiteres: Mara Delius mokiert sich in der Literarischen Welt über den Jargon ihrer Kritikerkollegen, die sie gemäß deren Wortwahl in die Kategorien "der Sachbearbeiter, der Wurstwarenfachverkäufer, der Sportreporter und der Restauranttester" einteilt. Tagesspiegel-Autor Lars von Törne porträtiert die Comicautorin Julie Doucet, die aus einer langjährigen Auszeit mit neuen Arbeiten zurückgekommen ist und beim Comicfestival Fumetto mit einer Retrospektive geehrt wird. Außerdem spricht Törne im Tagesspiegel mit der Schriftstellerin Margaret Atwood über ihren neuen Roman "Das Herz kommt zuletzt". Im Aufmacher der Literarischen Welt plauscht Mara Delius mit dem Fernsehmoderator Denis Scheck, der künftig mit wöchentlichen Textlieferungen einen neuen Literaturkanon aufbauen wird (den Auftakt macht ein Text zu Astrid Lindgrens "Karlsson vom Dach"). In der SZ verbeugt sich Schriftsteller Durs Grünbein tief vor Ovid und dessen "Ars Amatoria". Die Literarische Welt liefert eine weitere Folge aus Nadja Spiegelmans Fortsetzungsgeschichte "Ich sollte dir das eigentlich alles nicht erzählen". Cornelia Funke listet in der Literarischen Welt ihre ganz persönlichen Klassiker auf. Die FAZ bringt einen großen Vorabdruck aus Konstantin Richters Roman "Die Kanzlerin".

Besprochen werden Takis Würgers "Der Club" (taz), Martin Heideggers und Karl Löwiths "Briefwechsel 1919-1973" (Literarische Welt), Werner Biermanns Konrad-Adenauer-Biografie (FR), Otto Jägersbergs "Die Frau des Croupiers" (Tagesspiegel), Kristina Pfisters "Die Kunst, einen Dinosaurier zu falten" (ZeitOnline), Fatma Aydemirs "Ellbogen" (Berliner Zeitung) und Jan Wagners "Der verschlossene Raum" (FAZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Boris Kustodiew: Der Bolschewik, 1920.

Marcus Woellner hat sich für die Welt in der Royal Academy in London die großen Werke der russischen Revolutionskunst angesehen, die Kunst, Handwerk und Bolschewismus eins werden lassen wollte: "Das Land musste nicht nur alphabetisiert, sondern industrialisiert werden. Auch da war die Kunst an vorderster Front dabei. Boris Ignatowitsch und Arkadi Schaichet fotografierten Menschen und Maschinen und wie sie im Dienst des Fortschritts miteinander verschmelzen. Der ehemalige Ikonenmaler Tatlin konstruierte derweil Revolutionsarchitekturen. Sein berühmtes 'Modell für das Monument der Dritten Internationale' wurde zwar nie realisiert, stattdessen überzogen bald stählerne Strommasten und Radiotürme das Land, die den schiefen Spiralturm mit ihrer kühnen Funktionalität übertrafen. Tatlin ließ das nicht auf sich sitzen und tüftelte an seinem Raumgleiter. 'Letatlin' flog zwar nie, aber stellte heraus, das Fliegen aus reiner Menschenkraft möglich sein müsste, wenn man denn nur wollte."

Weiteres: Im Standard unterhält sich Andrea Schurian mit Elisabeth Leopold über ihre "ausgesprochen elegante" Landschaftsausstellung im Museum Leopold. Zum achtzigsten Geburtstag des Kunsthistorikers, Kurators und Kritikers Werner Spies schreiben Hans-Joachim Müller in der Welt, Niklas Maak in der FAZ und Ingeborg Ruthe in der FR.

Besprochen wird die Ausstellung Water des kanadischen Fotografen Edward Burtynsky im Kunsthaus Wien (Standard).
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Film

Der Filmdienst startet Patrick Holzapfels sechsteilige Essayreihe zur Zukunft des Kinos. "Man muss den Mut haben, vom Kino etwas zu wollen", schreibt der auch für den Perlentaucher tätige Autor darin. "Es muss einen Ausbruch aus der Stagnation von Modellen geben. Es ist beispielsweise erschreckend, mit welcher Penetranz von Filmverleihern an einer Struktur festgehalten wird, die eigentlich nur mit analogen Kopien Sinn macht. ... Ähnliches gilt auch für das Filmemachen. Dort führen Filmemacher wie Wang Bing, Lav Diaz oder Albert Serra vor Augen, dass das Digitale nicht nur ästhetisch, sondern auch bei den Produktionsverhältnissen neue Freiheiten eröffnet. Die meisten jungen Filmemacher aber orientieren sich, angeleitet durch die Filmhochschulen, an einem Drehmodell aus der Analogzeit, was dazu führt, dass digitale Produktionen niemals billiger sind als analoge, obwohl für das Filmmaterial kaum Kosten anfallen. Man pflegt einen elitären Gestus, eine Professionalität, die nichts mit Wahrnehmung und Haltung zu tun hat, sondern einem 'Alexa'- oder 'Red'-Kamerawahnsinn huldigt. Das Digitale imitiert dann im Regelfall das Analoge. Es kommt zu einem einheitlichen Look."

Weiteres: Für den Filmdienst porträtiert Michael Ranze die Schauspielerin Rooney Mara. Norbert Grob würdigt in epd Film den Kaurismäki-Kameramann Timo Salminen. Besprochen wird der Netflix-Film "The Discovery" mit Robert Redford (ZeitOnline).
Archiv: Film

Musik

Bei John Zorns Konzert in der Elbphilharmonie gab es mächtig und in Hochgeschwindigkeit was auf die Ohren, wie wir von Ulrich Stock auf ZeitOnline erfahren: "Zorn ist Musiker, Dirigent und Komponist in einer Person. Zu Beginn macht er alles gleichzeitig. Mit der Linken hält er - spielend - das Saxofon, mit der Rechten gibt er nach einem ausgeklügelten Handzeichensystem Mitspielern Hinweise zur Improvisation und steuert mit dem ganzen Körper ihre Einsätze. Später zieht er sich zurück und lässt sie nur noch seine Musik spielen, quer durch viele Genres. ... Man wünscht sich eine Digitalanzeige ('Sie hören Bagatelle 154'), aber würde das mehr Licht ins Dunkel seiner Absichten bringen? So müssen wir uns selber einen Reim machen auf den rasenden Motivhagel, der bei aller Zentrifugalität von der zornschen Klebkunst zusammengehalten wird."

Weiteres: Für die taz spricht Stephanie Grimm mit dem Musiker Ahmed Gallab von der sudanesisch-amerikanischen Band Sinkane. Alexander Gorkow wagt sich für das Buch Zwei der SZ in die Welt der Pink-Floyd-Tributbands. Dietmar Dath gratuliert der Sängerin Emmylou Harris in der FAZ zum 70. Geburtstag.
 
Besprochen werden neue Alben von Boss Hog (Pitchfork), Drake (ZeitOnline), Jamiroquai (Zeit) und Body Count (Welt) sowie Konzerte von Grigory Sokolov (Tagesspiegel), Maurizio Pollini (FR), King Khan (FR), Johannes Enders und Günter Sommer (FR),

Außerdem verweist die Spex auf das neue Video von Kendrick Lamar:

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