Efeu - Die Kulturrundschau

Nach hinten heraus knarzt es gewaltig

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.03.2017. In den Feuilletons sind mal wieder Dylan-Festwochen ausgebrochen. Uneins sind sich die Kritiker allerdings über die stimmliche Qualität auf Dylans Dreifach-Album "Triplicate". Christoph Höhtker pilgert für die NZZ zu René Polleschs "Ich kann nicht mehr" nach Hamburg. Die Welt entdeckt in Bern den Fluxus-Künstler Terry Fox. Und der Tagesspiegel sehnt sich nach der Zeit der Fassbinder-Serie "Acht Stunden sind kein Tag", als das Fernsehen noch Forum für kritische Diskurse und Labor für kühne Experimente war.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 31.03.2017 finden Sie hier

Kunst


Fußbodenmosaik in der Kathedrale von Chartres (Foto von Maksim, unter CC-Lizenz bei Wikipedia veröffentlicht)

Wie in einer "Oase klösterlicher Stille" fühlt sich Hans-Joachim Müller (Welt) in der Ausstellung "Elemental Gestures" des Fluxus-Künstlers Terry Fox im Kunstmuseum Bern: "Sechs Räume, die sechs Werkgruppen unterscheiden. Und doch nichts, was früher oder später scheint, keine Entwicklung, eher ein Kreisen um dieses Grundstaunen angesichts der Möglichkeit, im fast unmerklichen Eingriff die verlässlichen Dinge unzuverlässig und die selbstverständlichen vollends unselbstverständlich machen zu können. So deutete er zum Beispiel das Fußbodenmosaik in der Kathedrale von Chartres in einem behutsamen, aber dann doch gewichtigen Gedanken-Switch einfach um: statt Angst machendem Labyrinth, wie es viele erleben, ein Umwege-Weg zu sich selbst. Immer wieder hat er gemessen und nachgerechnet und die Geometrie zum Motiv einer ganzen Reihe von Zeichnungen, Fotografien und Performances gemacht."

Weiteres: Für die NZZ trifft Andrea Köhler den Künstler Hans Haacke, dem heute der Roswitha-Haftmann-Preis verliehen wird.

Besprochen werden die Ausstellung "Japanomania i Norden" im Statens Museum for Kunst in Kopenhagen (SZ), eine Ausstellung des Fotografen Pieter Hugo im Kunstmuseum Wolfsburg (FAZ) und eine Ausstellung von Carl Otto Czeschkas Nibelungen-Illustratoren im Wiener Palais Wilczek (FAZ).
Archiv: Kunst

Literatur

Ulrike Baureithel berichtet im Tagesspiegel von der Verleihung des Heinrich-Mann-Preises an die Schriftstellerin Gisela von Wysocki: Diese rettete "den adornitischen Satzrhythmus, befreite sich jedoch vom begrifflich Substantivischen, indem sie durch die Erscheinungsformen, die Dinge, Körper und Räume hindurch, aufs Allgemeine verwies. Der empfundene Augenblick, bescheinigen ihr die Juroren, scheine durch für das Ganze der Existenz, 'die mit schwingender Eindringlichkeit nach dem Gleichgewicht von Geist, Seele und Natur sucht'."

Weiteres: Der durch Häuser schleichende und deren Bewohner in Angst und Schrecken versetzende Immobilienexperte ist das Gespenst unserer Tage, schreibt Florian Werner im Freitext-Blog auf ZeitOnline. Petra Pluwatsch plaudert in der FR mit Ian Rankin über dessen John-Rebus-Krimis.

Besprochen werden Yavuz Ekincis "Der Tag, an dem ein Mann vom Berg Amar kam" (NZZ), Michael Fehrs Erzählband "Glanz und Schatten" (NZZ) und ein von der Schauspielerin Isabella Rossellini verfasstes Buch über Geflügelzucht (SZ).
Archiv: Literatur

Film


Szene aus "Acht Stunden sind kein Tag" (BIld: Studio Canal)

Am Wochenende läuft in Berlin nochmals Fassbinders kühne Arbeiterfamilien-Serie "Acht Stunden sind kein Tag", die 1972 trotz großem Medienecho im Zuge einer begleitenden Fernsehdebatte im "Glashaus"-Magazin vom WDR nach fünf Episoden verfrüht abgesetzt wurde. Als kleinen Leckerbissen hat der Tagesspiegel aus diesem Anlass beim damaligen WDR-Redakteur Martin Wiebel Erinnerungen an die Kontroverse um Fassbinders Serie eingeholt. Von dem Wagemut, mit dem das Fernsehen damals dieses Projekt überhaupt angegangen ist, wünscht man heutigen Entscheidern auch eine Portion: "Wir bringen die Arbeiter ins Fernsehen - das war damals die Absicht des WDR. Und das 'Glashaus'-Magazin sollte, ganz im Geist und Stil der Zeit, unnachsichtig, selbstbewusst und vor allem medien-didaktisch alle Kontroversen, Kritiker-Probleme und Rundfunkrats-Aufregungen verhandeln, die die Serie nach den ersten Ausstrahlungen provoziert  hatte. ... WDR-Dramaturg Peter Märthesheimer, ein gelernter Soziologe, hatte die verwegene Idee, Politisch-Emanzipatorisches in eine affirmative Familienserie hineinzupacken, dafür hatte er Fassbinder gewonnen."

Weiteres: Dominik Kamalzadeh und Michael Pekler berichten im Standard von der Diagonale.

Besprochen werden der Science-Fiction-Film "Ghost in the Shell" mit Scarlett Johannson (Tagesspiegel, FR, unsere Kritik hier), Raoul Pecks Essayfilm "I Am Not Your Negro" (Tagesspiegel, FR, unsere Kritik hier), Aki Kaurismäkis "Die andere Seite der Hoffnung" (Welt) und der Dokumentarfilm "Gaza Surf Club" (Tagesspiegel).
Archiv: Film

Musik



Und plötzlich sind mal wieder Dylan-Festwochen im Feuilleton. Grund für die helle Aufregung: Der Meister hat seiner offiziellen Website ein episches Interview gegeben (in dem es um den Nobelpreis noch nicht einmal am Rande geht), eine neue Doku (von Martin Scorsese) ist in Planung, auch zwei neue Bücher sollen erscheinen, seine Europatour beginnt, bei der er am Wochenende dann sogar doch noch den Nobelpreis in Stockholm in Empfang nehmen wird - und ein neues Album namens "Triplicate" (Dyans erstes Dreifach-Album!) erscheint heute auch noch. Zum dritten Mal in Folge widmet sich der Sänger darauf Klassikern aus dem Great American Songbook - diesmal aus der Zeit der Depression vor dem Zweiten Weltkrieg.

Dass Jens-Christian Rabes ausführliche Besprechung in der SZ allerdings in die Empfehlung mündet, sich doch die Originalstücke auf Youtube anzuhören, darf man wohl als gut getarnten Totalverriss werten. Der Grund: Das Alter sei nicht eben freundlich mit Dylans Kehle umgegangen. Schon das erste gesungene "I" bringt den Kritiker aus der Fassung: Es "umtänzelt eine hörbar überforderte brüchige Stimme eher, als dass sie es trifft. Wobei tänzeln, genau genommen, viel zu konziliant formuliert ist. Es ist eher ein Taumeln um die Melodie. Und zu hören ist dann dieses wacklig-kopfstimmige Geräusch, das stimmschwache ältere Herren machen, wenn ihnen ein kleiner unerwarteter Schmerz in die Glieder fährt, aaahhhh. Nach hinten heraus knarzt es dann gewaltig."



Ob Rüdiger Schaper wohl ein anderes Album zur Rezension vorlag? "Die Stimme [hält sich] hier so gut wie lange nicht mehr", behauptet er jedenfalls im Tagesspiegel. Überhaupt wippt er bei diesen Songs aus den 30ern lässig mit: "Cool, swingend, melancholisch verliebt; man möchte sich eine Zigarette anzünden, einen Cocktail kippen und in ein big yellow taxi steigen", sagt er. Und: "Der Druck, den man auf so vielen Dylan-Platten über die Jahrzehnte gespürt hat, der ihn unverwechselbar machte, seine Energiequelle war, ist dankbarer Kontemplation gewichen. Dylans Phrasierung sucht nicht mehr den Affekt, die Pointe. Hier lässt er sich durch die weichen Melodien treiben, die Texte (...) bekommen eine Heinrich Heine'sche Einfachheit, die ins Herz trifft."



Auf die Stimme kommt auch Frank Junghänel in der Berliner Zeitung zu sprechen: Dylan habe "lange nach dieser Stimmung und auch dieser Stimme gesucht, mit der er die Lieder vortragen kann. Die erste Idee zu einem solchen Album sei ihm bereits Mitte der Siebziger gekommen, hat Bob Dylan einmal gesagt. Es musste beinahe ein Menschenleben  vergehen, bis er das Gefühl gewann, diese Worte und Melodien endlich zu seinen eigenen machen zu können."

Weiteres: Für den Tagesspiegel spricht Max Tholl ausführlich mit dem Pianisten Hauschka über dessen Arbeit und neues Album "What If?" (hier eine Hörprobe). Eine neue, offenbar sehr verdienstvolle Compilation auf Soul Jazz Records wirft Schlaglichter in die französische Punkszene der 70er, berichtet Elise Graton in der taz. In der Welt schreibt Felix Zwinscher über Otura Mun, der mal als Marc Underwood bekannt war und jetzt als Priester der Ifá-Religion mit seiner Band ÌFÉ die Yoruba-Musik auf den Dancefloors popularisiert.

Besprochen werden ein Auftritt von Bilderbuch (Tagesspiegel), das neue Album "Untold" von The Necks (taz), das neue Album von Pharmakon (Pitchfork), ein Konzert des New York Philharmonic in Wien (Standard), ein Konzert von Renaud Capuçon und dem Zürcher Kammerorchester (NZZ), ein Konzert des Collegium Novum unter Emilio Pomàrico (NZZ), das Debüt des Rappers Porter Ray (SZ) und neue Popmusik, darunter das frische Album von Ice-Ts Crossoverband Body Count (ZeitOnline), die wie gewohnt eine Stinkwut haben:

Archiv: Musik

Bühne

Obwohl sein Verhältnis zum zeitgenössischen deutschen Regietheater "seit je ein gebrochenes und überdies nicht vorhanden ist", wie er in der NZZ bekennt, reist der Schweizer Schriftsteller Christoph Höhtker nach Hamburg, um sich René Polleschs Stück anzusehen: "die Vorstellung begann mit einer Gruppe radikal ehrgeiziger junger Frauen und war in der Folgezeit - okay. Regelrecht ansprechend. Keine Beanstandungen. Ein werthaltiges Theaterstück mit begabten Darstellern und einer ebenso begabten Bühnendekoration. Die Leute um mich herum: begeistert. Die Leute lachten, anfangs wie von Sinnen, später dosiert, leicht erschöpft... Verdienter, minutenlanger Applaus. Glück auf und vor der Bühne. Wir schauten uns an. Waren wir auch glücklich? Was verdammt noch mal sollte man nur denken?"

Weiteres: Im Standard unterhält sich Stefan Ender mit dem lettischen Regisseur Alvis Hermanis, der an der Wiener Staatsoper Wagners "Parsifal" inszeniert, und Georg Leyrer spricht im Kurier mit Christopher Ventris, der darin "Parsifal" die Titelrolle singt - der Kurier berichtet bereits von "heftigen Buhs" bei der Premiere. Für die NZZ trifft Thomas Schacher die Berliner Regisseurin Tatjana Gürbaca, die am Zürcher Opernhaus Jules Massenets Oper "Werther" inszeniert; im Tages-Anzeiger porträtiert Susanne Kübler den Peruaner Juan Diego Flórez, der darin die Titeltrolle singt. In der taz unterhält sich Sascha Ehlert mit dem amerikanischen Dramatiker Richard John Nelson, dessen neues Stück "The Gabriels" beim FIND Festival an der Schaubühne am Lehniner Platz zu sehen ist.
Archiv: Bühne