Efeu - Die Kulturrundschau

Affekt, Intimität und Behaglichkeit

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28.03.2017. Die NZZ begeistert sich für das Theatre 4 Change des Architekturaktivisten Alfredo Brillembourg. Der taz offenbart sich in den von Sibylle Springer verschleierten Klassikern das Grauen der Malerei The Qietus fragt, wie eigentlich antikapitalistische Ambient Music klingen würde. Und die Welt stellt klar: Nicht Gender-Schieflagen sind das Problem der Literatur, sondern ihre Pellkartoffelhaftigkeit.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.03.2017 finden Sie hier

Kunst


Ausstellungsansicht von Sibylle Spirngers Ausstellung in der Bremer Gesellschaft für Aktuelle Kunst. Foto: Franziska von den Driesch

Völlig umgehauen ist Jan Zier in der taz von den Arbeiten der Malerin Sibylle Springer, die gerade in der Bremer GAK in der Ausstellung "Gift" gezeigt werden. Springer reproduziert Bilder, Klassiker der Kunstgeschichte wie Stefan Lochners Heiligenmartyrium: "Am Original könntest du jetzt schulterzuckend vorbeigehen, zum nächsten Ölschinken schreiten. Und denken: Das ist doch echt alles lange her, vorbei. Bei den Werken von Sibylle Springer geht das nicht. Du musst dich auf sie einlassen. Dich zu ihnen verhalten. Genau deshalb sind sie so stark. Erst die Verschleierung offenbart das ganze Grauen: Die Gleichgültigkeit, mit der hier ein Mensch hingerichtet wird, aber auch die eigene Faszination für die Gewalt und die Obszönität ihrer Darstellung. 'Das ist so deprimierend - das macht mich fertig', sagt Springer."

Weiteres: Catrin Lorch unterhält sich in der SZ mit der polnischen Kuratorin Joanna Warsza über den Sinn von Künstler-Boykotten und die Notwendigkeit zu intervenieren: "Ändern kann man nur dann etwas, wenn man nicht einfach aussteigt." Verena Lueken freut sich in der FAZ, dass das Met Breuer in New York Marisa Merz' Schau "The Sky Is a Great Space" zeigt, damit man nicht länger glauben muss, die Arte Povera sei reine Männersache gewesen. Brigitte Werneburg berichtet in der taz von der Art Basel Hongkong.

Besprochen werden eine Schau über das Poetische in der Kunsthalle Wien (Standard) und eine Schau des venezianischen Barock-Malers Paris Bordone in der Hamburger Kunsthalle (Welt).
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Bühne


"Niemand" am Deutschen Theater in Berlin. Foto: Arno Declair

Ehrenwert findet Ulrich Seidler in der FR Dusan David Parizeks Aufführung von Ödon von Horvaths erst vor kurzem entdecktem Frühwerk "Niemand", doch überzeugen kann ihn das Stück nicht: "Es treten prekäre Gestalten auf - gefallene Fräuleins, Prostituierte, Diebe, Zuhälter, Missgestaltete - deren Notlage moralische Abgründe aufreißt und dramatische Konflikte spannt... Das ist schon alles ziemlich etüdisch, konstruiert und aufgeladen, vor allem machen die Gestalten, anders als man es heute von Horváth gewohnt ist, sehr viele Worte." In der SZ ächzt Mounia Meiborg unter der ihr eingehämmerten Austauschbarkeit des Menschen in der Wirtschaft und der Liebe und fragt, ob das "bloß Sozialkritik ist oder schon Nihilismus".

"Theatre 4 Change" heißt das neuestes Projekt von Alfredo Brillembourg , das die Kreativität aus den südafrikanischen Townships auf die Bühne bringen will und gerade in Zürich gastiert. Überhaupt findet Daniele Muscionico Brillembourgs Umtriebigkeit ziemlich großartig: "Brillembourg schreibt aber auch Lyrik, er malt, er zählt zu den schillerndsten Persönlichkeiten des zürcherischen Universitätsbetriebes. Mit Hubert Klumpner ist er seit 2010 Inhaber des ETH-Lehrstuhls für Architektur und Städtebau Urban Think Tank. Eine in diesem interdisziplinären Arbeitszusammenhang entwickelte Gondelbahn, die in Caracas die Elendsviertel mit dem Zentrum verbindet, erhielt 2012 den Goldenen Löwen der Architekturbiennale in Venedig; seitdem gilt Feuerkopf Brillembourg als Brain der internationalen Architekturaktivisten."

Besprochen werden die Uraufführung von "The New Prince" beim Opernfestival in Amsterdam (die Josef Oehrlein in der FAZ als "so groteskes wie schmieriges Welttheater" mit Machiavelli und Henry Kissinger jedoch nur halb beglückte), Katie Mitchells Inszenierung von Sarah Kanes "4.48 Psychose" im Hamburger Malersaal (bei der Katrin Ullmann in der taz vor allem Julia Wieninger als Protagonistin beeindruckt hat).
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Design

Besprochen wird die Ausstellung "Gern modern? - Wohnkonzepte für Berlin nach 1945" im Museum der Dinge in Berlin (Tagesspiegel).
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Musik

Im Quietus-Interview von Lucia Udvadyova setzt sich der Ambientmusiker Sam Kidel damit auseinander, ob das oft als Berieselung abgetane, oft funktionelle Ambient-Genre auch einen subversiven Widerhaken aufweist (siehe dazu auch Daniele dell' Aglis Perlentaucher-Essay "In der Sonospäre"): "Die Beziehungen zwischen Affekt, Intimität und Behaglichkeit in Ambient Music und Muzak, sowie deren Inanspruchnahme im Dienst des Kapitalismus sollten dekonstruiert und kritisch reflektiert werden. Können wir uns Brian Enos 'Music for Airports' anhören, ohne Flughäfen zu romantisieren und den ungleichberechtigten und unbehaglichen Fluss an Leuten und Kapital, die sie repräsentieren? Gibt es eine Stelle für Ambient Music, die den üblichen Gedankenfluss zerreißt und eine kritische Reflexion der Allgegenwärtigkeit kapitalistischer Beziehungen in jedem Raum, in dem wir uns bewegen, begünstigt? ... Wie klingt antikapitalistische Ambient Music?"

Einen ersten Ausblick darauf bietet diese Hörprobe aus Kidels "Disruptive Muzak":



Weiteres: Für die SZ porträtiert Jonathan Fischer die Sängerin Valerie June, die die Ästhetik alter Folk- und Bluesmusik mit zeitgenössischem R'n'B kreuzt. Und in Spin erzählt Andy Cush die ziemlich kuriose Geschichte des öffentlichkeitsscheuen Gitarristen Billy Yeager, von dem kaum jemand je etwas gehört hat, der aber im Verdacht steht, die Sammlerpreise seiner Aufnahmen aus den 80ern eigenständig in die Höhe zu treiben.

Besprochen werden eine Ausstellung zur Geschichte der elektronischen Musik im Berliner Musikinstrumenten-Museum (Berliner Zeitung), ein Auftritt von Ed Sheeran (Welt), ein Mendelssohn-Konzert des Freiburger Barockorchesters (NZZ) und Günther Anders' "Musikphilosophische Schriften - Texte und Dokumente" (SZ).

Außerdem jetzt online: Eine Aufnahme des Mahler-Konzerts des hr-Sinfonieorchesters unter Andrés Orozco-Estrada vom 10. März:



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Literatur

Die Welt hat Mara Delius' Polemik aus der Literarischen Welt vom letzten Samstag online nachgereicht, in dem sie sich mit gefühlten und tatsächlichen Gender-Schieflagen im Literaturbetrieb befasst. Auf gängige Einschätzungen und Quotierungsforderungen lässt sie sich allerdings nicht ein - sie sieht ganz andere Probleme in der Literatur, nämlich "dass es so viel brave, falbe, biedere, staubige, teigige, dröge, pellkartoffelige, also: so viel schlechte Literatur gibt." Was gewiss nicht an den Frauen liege, ob sie nun da sind oder fehlen. "Es liegt an fehlendem Gespür für Form, Haltung, an mangelnder Geistesschärfe, kurzum: an ästhetischem Theoriebewusstsein. ... Statt sich an einem verunsicherten Schattenpatriarchat zu orientieren, [sollte man] lieber eine starke Ästhetik behaupten. Wenn es auf einmal zwei schwache Geschlechter gibt, gibt es vor allem: eine schwache Literatur."

Sehr dankbar ist SZ-Kritiker Willi Winkler für die neue Ausgabe des Schreibheft, das in einem Schwerpunkt zum Schaffen des vergangenen Jahrs verstorbenen Schriftstellers Wolfgang Welt neben einigen Korrespondenzen des Autors aus dessen Nachlass auch das Romanfragment "Die Pannschüppe" veröffentlicht. In der "Lakonie der scheinschlichten Sätze ist Wolfgang Welt unübertroffen", schreibt Winkler. "Frank Witzel, mit dem er sich in seinem letzten Jahr angefreundet hatte, meint, dass bei Welt 'immer mehr ungesagt bleibt als gesagt', weshalb er seine Geschichte, seinen Roman, diese eine große Fluchtbewegung auf der Stelle, immer wieder neu schreiben musste."

Weiteres: Gunda Bartels porträtiert im Tagesspiegel die Schriftstellerin Alina Herbing.

Besprochen werden James Gordon Farrells "Singapur im Würgegriff" (NZZ), Dieter Borchmeyers "Was ist deutsch?" (Tagesspiegel), Luise Boeges Erzählband "Bild von der Lüge" (Zeit), Masamune Shirows Manga-Vorlage zum Film "Ghost in the Shell", der diese Woche startet (Tagesspiegel), und Arne Jyschs Comic "Der nasse Fisch" nach dem Kriminalroman von Volker Kutscher (FAZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Film


"Über Barbararossaplatz" (Bild: WDR)

Ziemlich begeistert sind die Kritiker von Jan Bonnys Fernsehserie "Über Barbarossaplatz", deren erste Episode das Erste heute ausstrahlt. Es geht um die Beziehungen zwischen Psychotherapeuten und Patienten - "also ans Eingemachte", freut sich Axel Weidemann in der FAZ: "In kurzen Etappen und mit sprunghaften Schnitten folgt die Kamera den Figuren und ihrer Drangsal. Der Einsatz der Handkamera sorgt für intensive Nähe. So kommen Szenen zustande, die wirken, als fühlten sich die Schauspieler unbeobachtet, als gingen sie ihrer ganz alltäglichen Selbstzerstörung nach." Jens Müller von der taz lobt "die drei famosen, fantastischen, fulminanten Hauptdarsteller Bibiana Beglau, Joachim Król und Franziska Hartmann" und geht den Fassbinder-Vergleichen nach, mit denen der Regisseur bereits belegt wird.

Elmar Krekeler ärgert sich in der Welt prächtig darüber, dass der Sender so wagemutige Erzählexperimente im Spätprogramm vebuddelt: "Den Mut amerikanischer und skandinavischer Serienerzähler bewundern, sich aber bei der ersten sich bietenden Gelegenheit vor möglichen, vielleicht sogar erwartbaren Publikumsreaktionen hinter dem Schlafbaum des normalen Angestellten zu verstecken, ist peinlich." Ähnlich sieht es Fernsehkritiker Rainer Tittelbach in seinem Online-Journal.

Weiteres: Die FAZ hat Alexander Horwaths Plädoyer für analoges Filmmaterial in der Debatte um das Filmerbe online nachgereicht. Sebastian Dörfler erinnert in der taz zum 20-jährigen TV-Jubiläum von Joss Whedons "Buffy - The Vampire Slayer" daran, wie die einflussreiche Teenie-Horrorserie damals das Patriarchat zur Primetime zerlegte. Die FAS hat Mariam Schaghaghis Gespräch mit Scarlett Johansson über deren neuen Film "Ghost in the Shell" online nachgereicht. Wenn deutsche Fernsehproduktionen sich mit dem Thema "Überwachung" beschäftigen, entstehen dabei Seifenopern, gähnt Carolin Ströbele auf ZeitOnline. Im Tagesspiegel schreibt Christiane Peitz zum Tod des Berliner Kinomachers Franz Stadler. Unter anderem ZeitOnline meldet, dass die Schauspielerin Christine Kaufmann gestorben ist.

Besprochen werden Pia Lenz' Dokumentarfilme "Alles gut" über Geflüchtete in Hamburg (SZ) und Aki Kaurismäkis "Die andere Seite der Hoffnung" (Berliner Zeitung, unsere Kritik hier).
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