Efeu - Die Kulturrundschau

Die Leisetreter unter den Exklusiven

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.03.2017. Die taz bewundert die recycelten Collagen des chinesischen Baumeister Wang Shu. Die SZ erklimmt mit Jarvis Cocker und Chilly Gonzales die melodischen Wendeltreppen des Chateau Marmont. Im Literaturgespräch mit dem Freitag erklärt Zoë Beck, warum Donald Trump keinen guten Stoff hergibt. In der NZZ empfiehlt auch Thomas Stangl eher höfliches Ausweichen. Und auf SpOn beklagt Frederic Jaeger die Überalterung des Festivalbetriebs.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.03.2017 finden Sie hier

Architektur



Bauten wie Landschaften. Zhongshan Road Renovation, Hangzhou, 2009. Foto: Iwan Baan, Louisiana Museum of Modern Art.

Total fasziniert kommt taz-Autor Christian Schittich aus dem Kopenhagener Louisiana Museum, das dem chinesischen Architekten und Pritzer-Preisträger Wang Shu die erste Einzelausstellung in Europa widmet. Bedauerlich findet er nur, dass Wang Shus Partnerin Lu Wenyu kaum eine Rolle spielt: "Dafür stellt der Baumeister gleich im ersten Raum seine grundsätzliche Herangehensweise sowie seine wichtigsten Inspirationsquellen vor: die klassische chinesische Landschaftsmalerei für die Formen seiner Bauwerke sowie die traditionellen ländlichen Bauweisen seiner Heimat für Material und Konstruktion. Im zweiten Raum, präsentiert er dann seine Materialien: Collagen aus recycelten Steinen und Dachziegeln, sehr ästhetisch in Holzrahmen zusammengestellt, Wandstrukturen aus Bambus in unterschiedlichen Mustern sowie diverse Baustoffe für Schaltafeln und deren entsprechende Abdrücke im Beton."

Städte ziehen ihre Energie aus einem Kern. Doch das Ruhrgebiet kapituliert vor der Zersiedlung, klagt Dankwart Guratzsch in der Welt, die Kommunen wollen nicht mehr zusammenwachsen, sondern nur noch zusammen wachsen: "Wenn andernorts von einer Renaissance der Innenstädte gesprochen wird, wenn einzelne Städte auch am Rhein ein stürmisches Wachstum, explodierende Immobilienpreise und die Kehrseite davon, eine unheilvolle Gentrifizierung von Altbauquartieren verzeichnen, ist das Ruhrgebiet nicht dabei. Noch bevor der prophezeite massenhafte Arbeitsplatzabbau durch Digitalisierung einsetzt, fehlt für die größte Menschenballung Deutschlands eine Vision."
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Musik


Chilly Gonzales und Jarvis Cocker (Bild: Alexandre Isard/Universal Music)

Auf ihrem Album "Room 29" erzählen der Pianist Chilly Gonzales und der Sänger Jarvis Cocker (von Pulp) Geschichten aus dem Zimmer 29 des Hotels Chateau Marmont am Sunset Boulevard, in dem die Berühmtheiten seit fast hundert Jahren ein und aus gehen. Das ist äußerst geschmeidig geworden, schwärmt Alex Rühle in der SZ: "Die Songs kommen so melodisch und eingängig daher, das fließt alles so süffigsanft in den Gehörgang, dass man zunächst gar nicht merkt, wie ausgefinkelt das Album ist: Themen, die 'Room 29' eröffnen, tauchen gegen Ende spiegelsymmetrisch wieder auf. Und als das Album einmal doch Room 29 verlässt und in die oberen Stockwerke umzieht, wo Howard Hughes einsam starb, baut Gonzales Melodien wie Wendeltreppen." Hier eine Hörprobe.

Vom mondänen Los Angeles zum Berliner Underground: Die Verweigerungsexperten Mutter veröffentlichen mit "Der Traum vom Anderssein" in dieser Woche ein neues Album. Im Freitag porträtiert Jürgen Ziemer die von poplinken Feuilletonisten gepriesene, vom Publikum jenseits von Berlin und Hamburg gemiedene Band und hat sich dafür mit Sänger Max Müller unterhalten. Für die Spex hat sich Max Dax das Album angehört: Die Songs darauf seien alle ihre Art alle "herausragend, gültig und berührend, weil sie alle genuin an der Welt und an den Menschen interessiert sind. Max Müller bringt eine Empathie zum Ausdruck, die, weil sie von teilweise verzerrter, dissonanter Musik ummantelt ist, nicht sofort als solche auffällt. Andere Songs sind fragiler, geradezu zärtlich in Dur arrangiert. Auch in ihnen findet sich diese Empathie, aber sie wirkt fast verstörend, weil die Süße des Vortrags nahe legt, dass Max Müller seine Texte vielleicht 'ironisch' oder 'sarkastisch' gemeint haben könnte." Hier eine Vorab-Hörprobe:



Besprochen werden ein Konzert von Ed Sheeran (NZZ) und ein Konzert des Pianisten Murray Perahia, dem dabei laut Reinhard J. Brembeck (SZ) "etwas Paradoxes" gelang, nämlich "die schlüssig verständliche Erzählung eines Stücks, das sich geradezu verzweifelt nach einem Jenseits von Schlüssig- und Verständlichkeit sehnt".
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Bühne



Paul Nilon und Rauand Taleb im "Tod in Venedig". Foto: Marcus Lieberenz, Deutsche Oper Berlin.

Ausgesprochen zaghaft findet Udo Badelt im Tagesspiegel Graham Vicks Inszenierung von Benjamin Brittens "Tod in Venedig" an der Deutschen Oper Berlin mit Paul Nilon in der Rolle des Aschenbach: "Sich mal die Schuhe auszuziehen und das Hemd aufzuknöpfen, das sind die einzigen zarten Andeutungen von Entgrenzung und Kontrollverlust, die Vick der Hauptfigur gestattet. Von der Charakterstudie eines alternden Künstlers, der seine Welt auseinanderfallen sieht, unter dem sich das ungelebte Leben mit seinen verpassten Chancen öffnet wie eine Falltür, kann man hier nicht wirklich sprechen."

In der NZZ gratuliert Lilo Weber dem tschechischen Choreografen Jiří Kylián zum Siebzigsten, durch dessen Werk sich eine einzigartig schmerzliche Schönheit ziehe: "Ist es der flüchtige Moment des Lichts, das aus der Melancholie wieder und wieder aufscheint?"

Besprochen werden Verdis "Rigoletto" an der Oper Frankfurt mit Brenda Rae und Quinn Kelsey (denen Wolfgang Sandner in der FAZ "überragende sängerische Leistungen" bescheinigt), Arthur Millers "Tod eines Handlungsreisenden" am Deutschen Theater in Berlin (SZ), Anú Romero Nunes' Inszenierung von Aischylos' "Orestie" am Burgtheater (FAZ, Welt), Shakespeares "Wie es euch gefällt" in Sankt Pölten (Standard).
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Kunst

In einem dpa-Bericht sammelt Christina Horsten in der FR Reaktionen der amerikanischen Museen auf Donald Trump. In der NZZ begrüßt Daniele Muscionico die steigende Wertschätzung der Pressefotografie als kulturelle Leistung, die unter anderem der Band "Schweizer Pressefotografie" dokumentiere: "Das Bild als Zeitkapsel und Gedächtnisspeicher für nachfolgende Generationen." Respekt zollt Colette Schmidt im Standard der Akademie Graz, die trotz drastischer Budgetkürzungen einen neuen Standort eröffnet. Und Stefan Kornelius erklärt es in der SZ zum Erfolg deutscher Kulturpolitik, dass die Farah-Diba-Sammlung nicht in Berlin, aber immerhin in Teheran zu sehen ist.

Besprochen wird die große Vermeer-Schau im Louvre (NZZ).
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Design

Freiheit für die Ferse! Mules, also nicht etwa englische Maultiere, sondern salopp-legere Fußüberzieher, könnten der Modehit der Frühlingssaison werden, meinen einige Modedesigner und auch Daniele Muscionico findet das in der NZZ nicht abwegig. "Denn Mules bedeutet auch: schlüpf und weg! Weg mit hornigen Anklängen, mit disparater Zehenchoreografie, mit Senk- oder Spreizfuss und seinen Ablegern. Schlüpf und weg, der Mule ist die Lösung der Legeren. Man trägt die Pantoffeln passgenau zum Zeitgeist, dem Vintage-Look und dem Shabby Chic. Mules sind die Leisetreter unter den Exklusiven. Sie treten auf, aber sie treten nicht hervor."
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Film

Der Festivalbetrieb überaltert, die Strukturen verkrusten - aus den Problemen, die sich den mittlerweile rund 400 Filmfestivals in Deutschland stellen, kommt man auf diese Weise nicht heraus. So lautet Frédéric Jaegers Befund auf SpOn zum Stand der Dinge im Filmbetrieb. Für ihn täsucht die Berlinale mit dem geplanten neuen Filmhaus kaum über die eigene Schwerfälligkeit hinweg: "Machtkonzentration über lange Zeiträume kann gerade in Kunst und Kultur verheerende Folgen haben. Hinzu kommt, dass sich Filmfestivals heute ohnehin verändern müssen, weil sie inzwischen eine völlig andere Rolle einnehmen als noch vor 10, geschweige denn 20 Jahren. ... [Das] Unbedingte, für das es sich zu kämpfen lohnt, das muss wieder in den Vordergrund, das müssen Festivals vermitteln. Das geht nicht mit Routine, aber erst recht nicht ohne Vision. Und da hilft ein neues Filmhaus nur bedingt. Nein: ab mit den alten Zöpfen!"

Besprochen wird Sönke Wortmanns ARD-Serie "Charité" (taz, Welt, FAZ, hier die ersten beiden Folgen in der Mediathek).
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Stichwörter: Filmfestival, ARD, Mediatheken, Charite

Literatur

Vor der Leipziger Buchmesse haben Thomas Hummitzsch und Erik Heier Alina Herbing, Fabian Hischmann, Zoë Beck und Ingo Schulze zum großen Freitag-Gespräch über den Stand der Dinge in der deutschen Gegenwarts- und Nachwuchsliteratur versammelt. Dabei ging es insbesondere um Fragen der Politik und deren Niederschlag in der Literatur. Vor allem der Sonderfall Trump stellt vor Probleme, sagt  zum Beispiel Beck: Einen guten Plot gebe dieser nicht ab. "Als Satire vielleicht, aber wirklich lustig findet das doch niemand. Ich halte das Schreiben in dieser Wirklichkeit sogar für schwieriger, weil sich die Gegenwart so stark überzeichnet, dass man sich die Stoffe mit Bedacht suchen muss. Viele, die vorher immer gesagt haben, dass sie sich aus der Politik heraushalten, schauen jetzt, inwiefern das, was da passiert, in ihrem Schreiben reflektiert wird."

Ja, wie mit Trump umgehen? Damit befasst sich heute auch der Schriftsteller Thomas Stangl im NZZ-Essay, der um Fragen des höflichen Lesens und Schreibens im Zeitalter eskalierender Krawall-Rhetorik kreist. "Dem Terror ihrer Sätze, getwittert oder sonst wie in die Welt geprügelt, kann man nicht mit Gegenterror begegnen; noch weniger aber einfach mit Argumenten, denn was die Maschinerie dieser Sätze mit einigem Erfolg versucht, ist die Zerstörung des Raums für Argumente. ... Was man tun kann, ist weiterlesen; ausweichen, resigniert, höflich und ohne auf das Denken, auf Intelligenz zu verzichten."

Weiteres: Welt-Autor Joseph Wälzholz liest genervt den späten Alexander Solschenizyn. Im SWR2-Forum gehen die Literaturwissenschaftler Heinz Drügh, Nils Gelker und Sandra Richter der Frage nach, ob die Germanistik denn nun in der Krise stecke. Paul Wrusch hat für die taz die Lit.Cologne besucht. Außerdem gibt es heute die SZ-Literaturbeilage zur Leipziger Buchmesse. Im Aufmacher bespricht Lothar Müller Stefan Hertmans Roman "Die Fremde".

Besprochen werden Mary Gaitskills "Die Stute" (Tagesspiegel), Rudolph Herzogs "Truggestalten" (online nachgereicht von der Zeit), Hisham Matars "Die Rückkehr" (NZZ), Eva Menasses "Tiere für Fortgeschrittene" (FAZ), der Roman "Das kalte Blut" des Filmemachers Chris Kraus (Tagesspiegel), Brigitte Kronauers "Der Scheik von Aachen" (taz), Tom Schulz' Gedichtband "Die Verlegung der Stolpersteine" (SZ) und Anne Webers "Kirio" (FAZ).

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