Efeu - Die Kulturrundschau

Der Trost der schönen Fassade

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07.03.2017. Die taz annonciert die Rückkehr des Plissees, an dessen Kanten Zauber und Langeweile zusammenstoßen. Die NZZ huldigt der Kreativität der DDR-Mode. Die FR frohlockt über Jossi Wielers urkomische "Ariodante"-Inszenierung in Stuttgart. Der Standard erinnert an die Avantgarde-Cellistin Charlotte Moorman, die Brahms mit Brustpropellern spielen konnte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.03.2017 finden Sie hier

Design

Das Plissee ist zurück, verkündet Elisabeth Wagner in der taz und versucht, seiner Widersprüchlichkeit aus Zauber und Langeweile auf die Spur zu kommen. Denn die neue Schwärmerei ist mehr als nur die Rückkehr zur Bürgerlichkeit: "In Zeiten der Krise würde sie an den Glanz der glatten Oberflächen appellieren, an den Trost der schönen Fassade. Doch die Mode wäre nicht die Mode, wenn es so einfach wäre. Das Plissee selbst trägt die Widersprüche in sich. Gierig verschluckt es Unmengen an Stoff, ohne davon dick zu werden, und wenn es nicht gerade als dekoratives Element an Hals oder Handgelenk funktioniert, kann es sich gehen lassen. Regelrecht exzessiv kann es werden und danach sofort wieder zurückkehren zur Form. Wie ein Heuchler, der nach fremdgegangener Nacht in strahlender Laune am Frühstückstisch der Familie sitzt, kann es die repräsentative Ruhe wahren. Das Chaos und die Ordnung. Die Anpassung und die Überschreitung. An der Kante des Plissees stoßen beide aneinander." (Bild: Christopher Kane, Kollektion Winter 2017)


Ausschnitt aus der Sibylle. 1962/4, Seite 38-39, Foto: Arno Fischer

Bettina Maria Brosowsky blickt in der NZZ auf die Geschichte der DDR-Mode zurück, die maßgeblich auch von der Zeitschrift Sibylle geprägt wurde. Wie sie in der Ausstellung in der Kunsthalle Rostock auch lernt, sollte sie vor allem dem konservativen Frauenbild von Diors New Look etwas entgegensetzen: "Die selbständige, arbeitende Frau, die in einer durch Demontage und Reparationsleistungen beeinträchtigten Mangelwirtschaft dringend benötigt wurde. Die sozialistische Musterfrau sollte sich in einer funktionalen Garderobe bestätigt finden... An Kreativität mangelte es den Musterkollektionen des Instituts nicht, jedoch waren die Kleidungsstücke nach unzähligen politischen Entscheidungsinstanzen meist bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Akzentuierende Steppnähte, aufgesetzte Taschen, schöne Knöpfe, besonders aber höherwertige Materialien fielen rigiden Sparvorgaben zum Opfer; eine verstaatlichte und veraltende Textilindustrie tat das Übrige zur enttäuschenden Qualität."
Archiv: Design

Musik

Zu Tränen gerührt ist taz-Kritiker Ulrich Gutmair von Laurie Andersons Auftritt bei der Berliner Transmediale am vergangenen Wochenende. Wobei ihm auch beim Blick ins Publikum anders wird: "Anderson ist eine der wichtigsten Vertreterinnen einer radikalen elektronischen Avantgarde. Umso merkwürdiger, dass keine jungen Hipster da sind. ... Das Eigentümliche unserer, das Archiv fetischisierender, tendenziell todespornografischer Zeit ist, dass sterbende und tote Männer des Pop mit Inbrunst verehrt werden, aber keiner von den Checkern hingeht, wenn eine große lebende Frau ein Konzert gibt."

Weiteres: Für die NZZ berichtet Christian Wildhagen von der Eröffnung des Pierre-Boulez-Saals in Berlin (mehr dazu im gestrigen Efeu). Marcel Reich trifft sich für die Welt mit dem 17-jährigen Musiker Mike Singer, dessen Album derzeit die Charts anführt. Philipp Crone besucht für die SZ die Schlagzeugwerkstatt von Alexander Zachow.

Besprochen werden eine Philip-Glass-Aufnahme des Pianisten Víkingur Ólafsson (Welt), eine "Johannespassion"-Aufführung durch die Wiener Symphoniker unter Philippe Jordan (Standard), ein Mendelssohn- und Mahler-Abend des Berliner Konzerthausorchesters mit Ryu Goto unter Eliahu Inbal (Tagesspiegel) und ein Konzert der Berliner Philharmoniker mit Anoushka Shankar unter Zubin Mehta (Tagesspiegel).
Archiv: Musik

Bühne


Händels "Ariodante" an der Oper Stuttgart. Foto: Christoph Kalscheuer

Als echten Coup feiert Judith von Sternburg in der FR Jossi Wielers Inszenierung von Händels "Ariodante" in Stuttgart. So lustig und unvorhersehbar hat sie die Oper als Gauklerspiel noch nicht erlebt: "Raffiniert natürlich: Polinesso als doppelter Spielverderber und Fiesling. Dabei gehört ausgerechnet (der französische Altus) Christophe Dumaux auch innerhalb des phänomenal, des erschütternd guten Ensembles für den Stuttgarter 'Ariodante' noch an die Spitze, ein kraftvoller, überhaupt nicht kehliger Counter der Extraklasse, dazu ein äußerst sportlicher Mensch. Er tut Dinge, die haben Sie einen Opernsänger noch nicht tun sehen, glaube ich."

In der FAZ lobt Gerhard R. Koch auch die musikalische Leitung: "Giuliano Carella hielt das gut disponierte Orchester in den schnellen Stücken zu motorischem Drive an, vermied so zwar Monotonie, aber nicht immer den Eindruck von Versatzstücken. Dafür aber entfaltete die abgründige Moll-Trauer der großen Ginevra- und Ariodante-Lamenti außerordentliche Dringlichkeit."

Besprochen werden die Kopplung von Heiner Müller und Georg Büchner zu "Der Auftrag: Dantons Tod" am Schauspielhaus Graz (die Margarete Affenzeller im Standard einen "knackigen Abgesang auf die Revolutionsutopie" nennt), Hans Neuenfels' Inszenierung von Manfred Trojahns bereits mehrfach gefeierter Oper "Orest" in Zürich (SZ) Mike Daiseys Kabarettshow "Trump" am Theater Dortmund (SZ, FAZ) und Deborah Vietor-Engländers Biografie über den Theaterkritiker Alfred Kerr (NZZ).
Archiv: Bühne

Literatur

Die SZ bringt eine Notiz des Schauspielers Edgar Selge zum Tod des SZ-Literaturchefs Christopher Schmidt. Wieland Freund schreibt in der Welt zum Tod der Schriftstellerin Paula Fox.

Besprochen werden die Neuauflage von Sinclair Lewis' Faschismusparabel "Das ist bei uns nicht möglich" (Standard), Alexander Goldsteins "Denk an Famagusta" (NZZ), James Gordon Farrells "Singapur im Würgegriff" (Berliner Zeitung), Les Edgertons "Der Vergewaltiger" (Tagesspiegel), Leonhard Horowskis "Das Europa der Könige - Macht und Spiel an den Höfen des 17. und 18. Jahrhunderts" (taz), Lorenz Jägers Biografie "Walter Benjamin - Das Leben eines Unvollendeten" (SZ) und Christine Wunnickes "Katie" (FAZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unsere aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur

Film

Besprochen wird Kelly Reichardts Episodenfilm "Certain Women" mit Kristen Stewart (SZ, unsere Kritik hier).
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Kunst


Otto Freundlich, Die Geburt des Menschen, 1919. Foto: Rheinisches Bildarchiv Köln

In der taz feiert Regine Müller noch einmal die große und überfällig Retrospektive zu Otto Freundlich im Kölner Museum Ludwig: "Zu Hause fühlte sich der überzeugte Kommunist Freundlich in der radikalen Abstraktion, die für ihn weit mehr als nur das freie Spiel der Formen und Farben war, sondern Ausdruck einer gewaltlosen Utopie, die den befreiten Menschen mit den Energien des Kosmos und der Welt kurzschließt. Freundlichs Visionen waren keine esoterischen Träumereien, sondern die Früchte einer intensiven Beschäftigung mit den Naturwissenschaften und der Physik, deren Erkenntnisse er politisch las: 'Mein Himmel ist rot' betitelte er ein programmatisches Gemälde. Das Licht der religiösen Verheißung aus Chartres wird bei Otto Freundlich zum Leuchten einer sozialen Utopie."

Weiteres: Im Standard freut sich Roman Gerold über die schöne Schau "Ein Fest des Staunens", mit der das Salzburger Museum der Moderne an die Cellistin und Avantgarde-Künstlerin Charlotte Moorman erinnert. Moorman konnte Brahms' Wiegenlied mit Minipropellern spielen, die sie sich auf ihre Brüste schnallte, aber auch im Liegen, auf Name June Paik oder auf Eis (Foto: Museum der Moderne, Salzburg). Hellauf begeistert ist Andreas Kilb in der FAZ von einer Ausstellung in der Kunsthalle Bremen über den von Ludwig XIV. zur Blüte gebrachten Kupferstich am Hof von Versailles.
Archiv: Kunst