Efeu - Die Kulturrundschau

Ein bisschen mehr Licht in der Rübe

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.02.2017. Große Einigkeit nach den Oscars: Der Preis für Barry Jenkins' "Moonlight" geht in Ordnung, Highlight des unpolitischen Abends bleibt aber die peinliche Panne. Der Tagesspiegel beklagt Hollywoods Monokultur. Die Welt fragt nach zwei Otto-Dix-Ausstellungen: Unbestechlicher Realist oder kalkulierender Radaubruder? Die FAZ blickt in die ahnungslosen Kinderaugen der Paula Modersohn-Becker. Und Martin Laberenz' Inszenierung von Elfriede Jelineks Stück "Wut" in Berlin wird begeistert besprochen - auch wenn's keiner verstanden hat.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.02.2017 finden Sie hier

Kunst

War Otto Dix wirklich der unbestechliche Realist der Zwanziger Jahre? Welt-Kritiker Hans-Joachim Müller kommen nach der Düsseldorfer Ausstellung "Der böse Blick" Zweifel: "Dix war vor allem ein ziemlich kalkulierender Radaubruder. Und er passte seine Rabulistik mit beträchtlicher Intuition den Bedürfnissen an. Als er Anfang der zwanziger Jahre nach Düsseldorf kam, war er allenfalls in den Berliner Dada-Zirkeln bekannt. Er hatte vier Kriegsjahre hinter sich und seither alle Avantgardestile ausprobiert. Dass damit kein schlafender Hund mehr zu wecken war, muss ihm von den ersten Tagen an im Rheinland klar gewesen sein. Jetzt ließ sich mit Bildern nach Art eines vulgarisierten Manierismus ungleich mehr und viel schneller Furore machen." Müllers Eindruck bestätigt sich in Friedrichshafen, wo aktuell Dix' Alterswerk ausgestellt wird. Dass der in BRD und DDR als Nazi-Opfer gehandelte Dix als Mitglied der Reichskammer seit 1934 weiterhin ausstellen konnte, so Müller, wird ebenso gerne übersehen, wie die Tatsache, dass "der Bruch des Werkverlaufs sich weniger dramatisch anlässt, wenn man ihn aus dem Blickwinkel bestmöglicher Nutzung des bildnerischen Effekts bemisst. Wer in Zeiten ringsum dominanter Gegenstandslosigkeit noch einmal die religiöse Metaphorik bedient, musste mindestens so auffallen wie Jahrzehnte zuvor der Maler der Düsseldorfer Porträts."

Ein wenig wehmütig hat Andreas Kilb in der FAZ Paula Modersohn-Beckers friedlich-unschuldige Kinderbilder im Hamburger Bucerius Kunst Forum betrachtet: "Es ist die Ruhe, die von ihnen ausgeht, eine innige Versunkenheit, die in der deutschen Malerei des zwanzigsten Jahrhunderts nicht mehr wiederkehrt. Als die Malerin um 1905 den 'Kopf eines auf dem Stuhl sitzenden Mädchens' schuf, ahnte sie nicht, was die Augen unter den gesenkten Lidern später alles sehen würden. Wir aber wissen es, und deshalb sind diese Gemälde für uns selbst wie Kinderaugen. Wir lieben und bewundern sie, aber an jenen Ort, von dem aus sie uns anschauen, können wir nicht mehr zurück." (Bild: Paula Modersohn-Becker: Mädchenbildnis mit gespreizter Hand vor der Brust, um 1905, Von-der-Heydt-Museum, Wuppertal)

Besprochen wird: Otto Freundlich in Köln (art-magazin).
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Film


Oscarprämiert: Szene aus Barry Jenkins' "Moonlight"

Die Feuilletons arbeiten die Oscarverleihung auf. NZZ-Kritiker Tobias Sedlmaier vermisste die Spitzen gegen Trump und beklagt daher eine "überraschend unpolitische, stellenweise zähe" Gala. Umso dankbarer zeigt sich David Steinitz in der SZ für die peinliche Panne am Ende des Abends, als wegen eines vertauschten Umschlags für ein paar Minuten "La La Land" statt Barry Jenkins' "Moonlight" als "bester Film des Jahres" gefeiert wurde: Diese Panne verursachte "einen dringend notwendigen Riss in der makellosen Fernsehshow-Fassade dieses Abends."

Einig sind sich alle, dass diese Verleihung, bei der vergleichsweise viele afroamerikanische Filmschaffende nominiert und ausgezeichnet wurden und der Oscar für den besten Film des Jahres an eine Fast-No-Budget-Produktion über einen schwulen schwarzen Jungen ging, eine Zäsur markiert. Einig sind sich auch alle, dass "Moonlight" diesen Oscar nicht nur aus politischen Gründen vor dem Hintergrund der Diversitätsdebatten rund um die Preisverleihung in den letzten Jahren verdient hat. Diese "Auszeichnung [bedeutet] nicht nur ein Diversitätsstatement, sondern einen Erfolg für das Kino an sich", schreibt dazu Andrey Arnold in der Presse.

Mit gerade einmal 1,5 Millionen Dollar Budget steht "Moonlight" ganz im Oscartrend der letzten Jahre, fällt Andreas Busche vom Tagesspiegel auf: Oscargewinner werden immer günstiger. Kein Wunder: Kern-Hollywood befasst sich längst nur noch mit Superheldenfilmen und Blockbuster-Sequels. Damit deute sich aber "auch ein Problem an. Denn heutzutage wird es immer schwieriger, kleine Filme wie 'Moonlight' oder 'La La Land' zu finanzieren. ... So fungieren die Oscars zunehmend als Feigenblatt der Branche, die kaum kaschieren kann, dass Hollywood sich in eine Monokultur verwandelt. In diesem Jahr waren 'Suicide Squad' (Bestes Make-up und Hairstyling) und 'Zootopia' (Bester Animationsfilm) die einzigen kommerziellen Studiofilme unter den Preisträgern. Die restlichen Preise machten finanziell besser aufgestellte Independentproduktionen unter sich aus." Eine Problematik, die auch den Diversitätserfolg des Abends relativiert, meint Michael Pekler im Standard: Aus der gestiegenen Repräsentation von afroamerikanischen Filmschaffenden folgt noch keine größere Sichtbarkeit in den Kinos.

Im Standard porträtiert Bert Rebhandl "Moonlight"-Regisseur Barry Jenkins, mit dem sich Hanns-Georg Rodek (Welt) und Annett Scheffel (SZ) unterhalten haben. In der SZ schreibt Tobias Kniebe über Casey Affleck, der als bester Schauspieler gewürdigt wurde. Für Barbara Schweizerhof von der taz ist der Oscar für "Fences"-Schauspielerin Viola Davis in der Kategorie "Beste Nebendarstellerin" ein "Kategorienbetrug": Eigentlich sei ihre Rolle ebenfalls eine Hauptrolle gewesen.

Weiteres: Mit Sorge beobachtet Thomas Klein in der Berliner Zeitung, dass Martin Scorseses nächster Film "The Irishman" seine ursprünglichen Produzenten verloren hat und jetzt bei Netflix untergekommen ist: Eine Kinoauswertung darf somit in Zweifel gezogen werden. Bert Rebhandl (FAZ) und Christian Schröder (Tagesspiegel) schreiben zum Tod des Schauspielers Bill Paxton.
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Literatur

Besprochen werden Hanya Yanagiharas "Ein bisschen Leben (NZZ), Gisela von Wysockis "Wiesengrund" (taz), Iwan Bunins "Frühling - Erzählungen 1913" (Tagesspiegel), Natascha Wodins "Sie kam aus Mariupol" (Tagesspiegel), Heike-Melba Fendels "Zehn Tage im Februar" (SZ) und Juliana Kálnays "Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens" (FAZ).

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Musik

In der taz resümiert Lorina Speder das Berliner Festival USA, bei dem unter anderem Vikingur Olafsson einen Philip-Glass-Abend spielte.

Besprochen werden Aurelio Martínez' Album "Darandi" (NZZ), die Autobiografie von Hans-Joachim Roedelius (Spex), das Album "Little Fictions" von Elbow (Standard) und ein Konzert von The Weeknd (NZZ).

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Bühne

Elfriede Jelineks Stück "Wut", das als Reaktion auf die Anschläge auf Charlie Hebdo und einen kosheren Supermarkt entstand, wird quer durch die Republik inszeniert, nun also in der mit Konfettibomben und Kreuzigung aufwartenden Version von Martin Laberenz am Deutschen Theater in Berlin. Im Tagesspiegel erlebt Christine Wahl einen Abend, "in dem sich die Akteure aus ihrer anfänglich gediegenen Cocktail-Wut-Gesellschaft heraus immer tiefer in religiöse Bilder und Bildverbote, in Zornassoziationen oder falsch verstandenes Mutbürgertum hineinsteigern und nebenbei als unterschwellig aggressionsgefährdetes Schauspielensemble selbst mitreflektieren." In der Berliner Zeitung notiert ein leicht überforderter Ulrich Seidel: "Es bleibt das Gefühl, dass man, wenn man nur ein bisschen mehr Licht in der Rübe hätte, vielleicht beim nächsten Mal den großen Zusammenhang kapieren würde. Je näher Elfriede Jelinek uns an die Lösung führt, desto größer die Entrüstung darüber, dass sie für ein menschliches Gehirn nicht zu erreichen ist." Und in der Nachtkritik befindet Simone Kaempf: "Zwischendurch war man dicht am Verstehen dran."


(Bild: Judith Schlosser. "Orest" Opernhaus Zürich)

In der FAZ erlebt Eleonore Büning in Hans Neuenfels Zürcher Inszenierung einen erschütternden, kathartischen und aktuellen "Orest" mit einem grandiosen Georg Nigl in der Titelrolle der Oper von Manfred Trojahn: "Als geborener Komödiant und charismatischer Entertainer ist er heiß wie ein Vulkan, der unablässig Feuer speit. Als Sänger aber ist Nigl so etwas wie der neue Orpheus. Allein durch die verführerische Körperlichkeit seiner Stimme, ihre Süße und Schärfe, Wärme und Wucht könnte er Steine zum Weinen bringen." Und in der NZZ schwärmt Christian Wildenhagen: Neuenfels "bebildert das komplexe Geschehen nicht bloß oder zwingt ihm eine aus persönlicher Nabelschau gewonnene Deutung auf. Er jongliert vielmehr virtuos und stellenweise in kluger ironischer Brechung mit den tonnenschweren philosophischen Themen von Schuld und Sühne, die in diesem Stück gewälzt werden."

Weiteres: Leisere Töne vernimmt FR-Kritikerin Marie-Sophie Adeoso in Frankfurt in Hadi Khanjanpours poetischem Stück "Allah liebt man(n)", das sich mit Homosexualität und Islam auseinandersetzt.

Besprochen werden: Luk Percevals "Wer einmal aus dem Blechnapf frisst" am Hamburger Thalia Theater (FR), Zino Weys "Zündels Abgang" in Zürich (FAZ), Peter Konwitschnys Werner-Egk-Oper "Peer Gynt" in Wien (SZ) und Ilan Ronens Inszenierung von Noah Haindles "Alles muss glänzen" in Berlin (SZ).
Archiv: Bühne