Efeu - Die Kulturrundschau

Das geduckte Leben im Underground

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.02.2017. Große Aufregung vor den Oscars: Die Welt fürchtet, dass Trump uns jetzt auch noch den Oscar für Toni Erdmann nimmt. Im Hollywood Reporter protestieren die Nominierten gegen Fanatismus und Nationalismus. Die SZ lässt sich bei Wolfgang Tillmans in London die Angst vor Chris Dercon nehmen. In der FAZ hat Yasmina Reza keine Lust auf Identitäten. FAZ, NZZ und nachtkritik.de applaudieren Stefan Bachmann, der den Wilhelm Tell in Basel rappen, haten und dissen lässt. NZZ und Standard finden Literatur in Ingeborg Bachmanns böse leuchtenden Traumbildern.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.02.2017 finden Sie hier

Film


Oscarchancen: Maren Ades "Toni Erdmann"

Von Sonntag auf Montag werden die Oscars verliehen. Die deutsche Presse drückt vor allem Daumen für Maren Ade und ihren "Toni Erdmann", der als bester nicht-englischsprachiger Film nominiert ist. Hanns-Georg Rodek von der Welt fürchtet jedoch, dass nun ausgerechnet Donald Trump den Oscar für Ade verhindert haben könnte. In derselben Sparte ebenfalls nominiert ist nämlich der iranische Regisseur Asghar Farhadi für seinen Film "The Salesman": "Als Reaktion auf den Einreisebann gegen Moslems sagte Asghar Farhadi (...) seine Teilnahme an der Gala ab, ein ausdrücklicher Protest gegen die Trump'sche Politik. Seitdem sind an allen Wettbörsen die Oscar-Chancen für seinen Film gestiegen, in den letzten Tagen standen sie für 'Erdmann' und 'Forushande' erstmals exakt gleich. Eine Stimme für Farhadi, so die Spekulation, könnte gleichzeitig ein Denkzettel für Trump sein."

Von solchen Rivalitäten zeigen sich die für den "besten nicht-englischsprachigen Film" nominierten Filmemacher Asghar Farhadi, Martin Zandvliet, Hannes Holm, Maren Ade, Martin Butler und Bentley Dean allerdings gänzlich unbeeindruckt. Gestern Nacht haben sie ein gemeinsames Statement veröffentlicht, in dem sie "das Klima des Fanatismus und Nationalismus in den USA und vielen anderen Ländern" anprangern. Der Hollywood Reporter bringt den Text im Volllaut. Darin heißt es unter anderem: "Völlig gleich, wer von uns am Sonntag den Oscar gewinnt: Wir weigern uns, in Begrifflichkeiten von Grenzen zu denken. Wir glauben nicht an ein bestes Land, ein bestes Geschlecht, eine beste Religion oder eine beste Hautfarbe. Wir wollen, dass diese Auszeichnung als ein Symbol für die Einheit zwischen den Nationen und die Freiheit der Künste steht"

Weiteres zu den Oscars: Christiane Peitz vom Tagesspiegel hat unterdessen dem Büro von Komplizen Film, dem Berliner Produktionskollektiv, dem auch Ade angehört, einen Besuch abgestattet. In der SZ wagt Tobias Kniebe einen Blick in die Kristallkugel und mutmaßt, welche Oscarkandidaten wohl gewinnen können.

Außerdem: In der NZZ befasst sich Philipp Stadelmaier mit dem Niederschlag des Terrors im US-Kino seit dem 11. September. Hanns-Georg Rodek meldet in der Welt erhebliche Zweifel an der von einigen Medien aufgebauschten Geschichte an, dass Marika Rökk angeblich eine Sowjetspionin gewesen ist. Besprochen wird Rüdiger Suchslands Essayfilm "Hitlers Hollywood" über das Kino Nazi-Deutschlands (critic.de, Artechock).
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Kunst

In der Hamburger Kunsthalle erkunden aktuell 23 Gegenwartskünstler die menschliche Urerfahrung des Wartens, berichtet Benedikt Erenz auf ZeitOnline. Die Fotos, Performances, Videos und Installationen sind beunruhigend, quälend, melancholisch, poetisch oder politisch wie die Fotosuiten von Paul Graham und Andrea Diefenbach, so Erenz: "Diefenbach zeigt uns mit distanzierter Empathie fragmentierte Familien in Moldau. Die Kinder sehnen sich nach ihren Müttern und Vätern, die sich 'im Westen' verdingen. Wir sehen die Mädchen und Jungen, von Großmüttern behütet, am Telefon oder bei Skype-Séancen, sehen auch, in weiter Ferne so nah, die Eltern, die um ihr Leben arbeiten."

Es ist vor allem das Format, das Wolfgang Tillmans' Fotografien von Instagram-Schnappschüssen unterscheidet, beobachtet Alexander Menden in der SZ auf der von Chris Dercon kuratierten Tillmans-Ausstellung in der Tate Modern. Und noch etwas lernt er in London: "Jenen, die befürchten, mit Dercon werde der Geist ungezügelter Globalisierung am Berliner Theater Einzug halten, könnte ein Besuch in der Tate vielleicht ein bisschen die Angst nehmen. Für manche Kulturschaffende, speziell in Deutschland, stehen Tillmans und Dercon für eine markthörige Kunstproduktion. Wenn man die Vitrinen studiert, in denen Tillmans nicht nur eigene Arbeiten, sondern vor allem Recherchematerial wie Berichte über Nahrungsknappheit in Nigeria oder wissenschaftliche Abhandlungen zur Selbsterschaffung von Parallelrealitäten in sozialen Netzwerken zeigt, dann fällt es vielleicht etwas schwerer, jemanden wie ihn oder seinen Kurator Dercon in der derzeitigen politischen Weltlage als den Feind zu betrachten." (Bild: Wolfgang Tillmans, Still Life, Calle Real II 2015, © Wolfgang Tillmans)

Weiteres: Für die taz hat sich Eva-Christina Meier mit der brasilianischen Künstlerin Claudia Andujar unterhalten, deren Lebenswerk mit dem Schicksal der Amazonasbewohner verbunden ist und deren Fotografien nun im Frankfurter Museum für Moderne Kunst ausgestellt werden. In der FR berichtet Ingeborg Ruhte aus Den Haag, wo gleich mehrere Ausstellungen die Geschichte von DeStijl erzählen. In der FAZ klagt Peter Geimer über Marina Abramovics Autobiografie: "Überall schaut das private Ich aus den Zeilen hervor." (Mehr dazu in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

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Literatur

Dass die umfangreiche Ingeborg-Bachmann-Gesamtausgabe im ersten Band "Male Oscuro" gleich mit sehr privaten Dokumenten aus der Zeit der schweren Lebenskrise der Autorin nach der Trennung von Max Frisch eröffnet wird, war bereits gestern Thema eines kritischen Artikels in der FAZ. Auch die heute erscheinenden Besprechungen kreisen um diese Frage, machen dabei aber vor allem den literarischen Aspekt stark: In den zu Therapiezwecken entstandenen Traumprotokollen erkennt Paul Jandl von der NZZ "Prosaminiaturen, deren böse Bilder vom richtigen Leben bis in den Schlaf leuchten. ... Es ist erstaunlich zu sehen, wie kurz der Weg ist, den die Protokolle nehmen, um schließlich in den Traumpassagen von 'Das Buch Malina' aufzugehen. Dort sind sie Literatur, und doch hängt noch das Leben an ihnen. Es ist ein anderer Umgang mit Intimität als bei Max Frisch. Intimität ist kein literarisch verwertbares und damit archivierbares Material, sondern eine Wirklichkeit, die für Bachmann nicht zu leben aufhört."

Auch Bert Rebhandl bekennt im Standard, dass er diese literarisch argumentierende Position für durchaus plausibel hält: "Die Traumnotate sind als Texte in ihrer ganzen Flüchtigkeit, aber auch Präzision, ohne weiteres als experimentelle Literatur lesbar ... Die Grenzen zwischen 'ich' und dem Ich (dem persönlichen und dem literarischen Subjekt) machte Ingeborg Bachmann schon an diesen Stellen durchlässig - zugunsten eines literarischen Ichs." Deutschlandradio Kultur hat sich zudem ausführlich mit den beiden Herausgebern Irene Fussl und Hans Höller unterhalten.

Weiteres: Carmen Eller spricht in der Literarischen Welt mit dem  Schriftsteller Antonio Ortuño über die Situation in dessen Heimatland Mexiko. Gisela Trahms berichtet in der Literarischen Welt begeistert von ihrer erneuten Lektüre von Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften", dessen auf sechs Bände angelegte Gesamtausgabe jetzt mit den ersten zwei Bänden begonnen wurde. Für die taz geht Doris Akrap mit Tijan Silas spazieren und plaudert dabei mit ihm über dessen Romandebüt "Tierchen unlimited". Für den literarischen Wochenendessay der FAZ hat Reinhard Veser Vilnius besucht, die Hauptstadt Litauens und damit des Gastlandes der Leipziger Buchmesse, und stößt dabei, in den Worten des Dichters Tomas Venclova, auf ein "Europa en miniature".

Besprochen werden der erste Band "Male Oscuro" der Ingeborg-Bachmann-Gesamtausgabe (NZZ, Standard), Liza Codys Krimi "Miss Terry" (Deutschlandradio Kultur), Manuel Karaseks Debüt "Mirabels Entscheidung" (taz), Gisela von Wysockis "Wiesengrund" (Tell), Elliot Pauls Reportagenband "Das letzte Mal in Paris" (taz), Lukas Bärfuss' "Hagard" (Welt, SZ) und neue französische Bücher von und über Michel Houellebecq (FAZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unsereraktuellen Bücherschau.
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Musik

Im Standard berichtet Marco Schreuder von Problemen bei der Organisation des Eurovision Song Contests in der Ukraine. Jan Kedves porträtiert in der SZ die Songschreiberin Julia Michaels, die unter anderem im Auftrag von Justin Bieber, Britney Spears und Gwen Stefani arbeitet. Die Musikkritiker der Welt präsentieren ihre Lieblingsstellen in Beethovens Sinfonien.

Besprochen werden das neue Solo-Album der Berliner Musikerin Christiane Rösinger (Tagesspiegel), das neue Album der Sleaford Mods (Jungle World), ein Konzert von The XX (Standard) und das neue Album von José James (FAZ).
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Bühne

(Bild: Simon Hallström. Wilhelm Tell. Theater Basel)

Mit dem "Wilhelm Tell" kehrt Stefan Bachmann nach 14 Jahren ans Theater Basel zurück. In der FAZ ist Martin Halter zufrieden mit der nur mit Männern besetzten Inszenierung in Basel, die wie ein "Alpen-Western" daherkommt: "Die coolen alten Schweizer rappen, dissen, haten wie die Jungen. Nicht so schnell und aggressiv wie 50 Cent oder K.I.Z., aber dafür in tadellosen fünfhebigen Jamben und immer auf dem Boden der humanistischen Grundordnung. Das enge sprachliche Korsett, die fetten Beats und das geduckte Leben im Underground geben auch eine Art Freiheit." Auf nachtkritik.de stimmt Claude Bühler zu: "Die Freunde leichtfüßig dargebrachter Pop-Bühnenkunst befriedigte er zum mindesten, aber auch Schiller-Puritaner werden bekennen müssen, dass die Kraft des Dichterworts - man muss es so sagen - das überwältigende Erlebnis der zweistündigen Aufführung bildet." Und in der NZZ meint Alfred Schlienger: "Es geht nicht darum, diesen 'Tell' cool zu machen, ihn in das Bad einer popkulturellen Auffrischungskur zu tauchen. Im Gegenteil, archaischer und gleichzeitig magischer haben wir noch keinen 'Tell' gesehen."

Im FAZ-Interview mit Sandra Kegel spricht Yasmina Reza über ihren neuen Roman Babylon, ihre Liebe zu deutschem Theater, Leben im Exil, Terrorismus in Frankreich und die Suche nach Identität:"Alle Welt tendiert heute dazu, Gruppen zu bilden, die sich auf bestimmten Identitäten gründen. Die Suche nach einer französischen Identität erscheint mir vollkommen absurd. Diese Sehnsucht nach einer nationalen Identität ist mir fremd. Ich für meinen Teil bin jedenfalls schon immer vom Gefühl der Nichtzugehörigkeit geprägt gewesen. Ich habe mich auch nie darum bemüht, irgendwo dazuzugehören."

Außerdem: Für die SZ schreibt Mounia Meibourg über den Alltagsrassismus in Altenburg, dem der afrikanische Schauspieler Ouelgo Téné ausgesetzt ist, seit er am dortigen Theater die Hauptrolle im "Hauptmann von Köpenick" spielt.
Archiv: Bühne