Efeu - Die Kulturrundschau

Das ist natürlich eine Unverschämtheit

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03.02.2017. Auch wenn jetzt alle wieder "1984" lesen, eignet sich George Orwells dystopischer Roman nur bedingt zur Beschreibung des Trump-Regimes, meint die NZZ: Die Wahrheit ist viel schlimmer. Mit seinem Debut-Soloalbum verwandelt der Electro-R'n'B-Musiker Sampha Kritiker in Wattemenschen. FAZ und FR berichten fasziniert von den gespenstischen Videoarbeiten des englischen Künstlers Ed Atkins, die zurzeit in Frankfurt zu sehen sind.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.02.2017 finden Sie hier

Bühne



Keine Madame Butterfly hat je "einen so zerbrechlichen Auftritt hingelegt" wie in der Inszenierung der dänischen Performancekünstlerin Kirsten Dehlholm am Brüsseler Théâtre de la Monnai, berichtet eine entzückte Eleonore Büning in der FAZ. Das liegt daran, dass Butterfly hier zweigeteilt auftritt, einmal als Geist aus dem Totenreich, gespielt von der Sopranistin Alexia Voulgaridou, und einmal als in Lebensgröße in Japan gebaute und kunstvoll geführte Bunraku-Puppe: "Das Abstraktionsvermögen, das dem Publikum abverlangt wird, ist nicht von Pappe. Doch Marionetten haben ihre ganz eigene, sehr musikalische Art, sich materieller Schwerkraft zu entziehen. Wenn sie jubelt, fliegt Butterfly meterhoch durch die Luft. Erschrickt sie, sackt sie zum hölzernen Häufchen zusammen."

Besprochen werden Lutz Hübners und Sarah Nemitz' "Wunschkinder" im Berliner Renaissance-Theater (FAZ) und Barbara-David Brüeschs Inszenierung von Friedrich Bruckners "Die Rassen" am Stadttheater Konstanz (NZZ).
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Musik

Zahlreichen Produzenten hat der Electro-R'n'B-Musiker Sampha bereits Stimme und Skills geliehen, jetzt tritt er zur Freude der Popkritik endlich auch mit einem Soloalbum in Erscheinung. Für die taz porträtiert Lorina Speder den vielbeschäftigten, verhuschten Musiker. In der SZ beschreibt Annett Scheffel, wie sie beim Hören dieser Musik zum "Wattemenschen" wird und erklärt desweiteren: "Die schönen, nervös verfrickelten und nachdenklichen Elektro-Soul-Produktionen Samphas bewegen sich auf einem sehr eigenen, abgeschotteten Soundterrain irgendwo im Niemandsland zwischen dem vernebelten Neo-R'n'B Frank Oceans und den durchdachten Electronica-Klageliedern James Blakes. Der Post-Dubstep taucht hier immer noch als entfernte Referenz auf: in den verschachtelten, kleinteiligen Elektroarrangements, den hektisch umherstreifenden Synthesizer-Bögen und behutsam verformten Samples. Sampha hat ein außerordentlich gutes Gespür für feine Nuancen: Jeder klackernde Beat, jedes elektronische Zischen und Rauschen ist immer zugleich subtiles Detail und wichtiges Stimmungselement." Auch Pitchfork feiert das Album in höchsten Tönen. Am beeindruckendsten finden aber alle das im Albumkontext ausscherende Klavierstück "No One Knows Me Like The Piano":



Weiteres: Für die taz führt Finn Johannsen ein großes Gespräch mit dem Pophistoriker Tim Lawrence über die Geschichte von Disco. Im taz-Interview mit Daniel Bedürftig macht der Rapper Talib Kweli seinem Ärger über Trump Luft und fordert mehr Solidarität in der HipHop-Szene mit Unterdrückten.

Besprochen werden ein von Alondra de la Parra dirigiertes Konzert des Tonhalle-Orchesters Zürich (NZZ), Michael Wollnys und Vincent Peiranis Album "Tandem" (NZZ) und das neue Album von Schnipo Schranke, das Spex-Kritikerin Juliane Liebert sehr enttäuscht.
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Literatur

Mit Skepsis begegnet der Literaturwissenschaftler Adrian Daub in der NZZ dem Run auf George Orwells Klassiker "1984", den viele zur Erhellung von Trumps politscher Kultur heranziehen. Wer den dystopischen Roman als Folie über Trumps USA legt, verdecke entscheidende Aspekte wie den "obzönen Spaß", den es offenbar mache, Trump-Wähler zu sein, meint Daub: "Trumps Trolle auf Twitter, seine Getreuen bei den öffentlichen Auftritten, sie wirken nicht unbedingt glücklich, aber sie strahlen eine Schadenfreude und Häme aus, die wie echte Lust wirkt. Sie geilen sich auf an dem Unbehagen, das sie bei den Linksliberalen, den Sozialdemokraten, den Gutmenschen, den Nichtweißen auslösen. Orwell, ganz Brite, vernachlässigt das Lustelement an der Kollektivität total. Und das ist der entscheidende Unterschied: Dass unsere Mitbürger nicht aus Angst oder Panik hinter den Rattenfängern herziehen, sondern weil es ihnen Freude bereitet, diese erschreckende Wahrheit verstellt Orwell." Im Tages-Anzeiger denkt Jean-Martin Büttner über die Aktualität von "1984" nach.

Hansjörg Müller trifft für die Basler Zeitung den Autor Hanif Kureishi, der jüngst in einem Essay die Hoffnung äußerte, dass sich die jüngste Generation der Immigranten vom Islamismus als Rollenmodell abwenden werde. Nebenbei wirft Müller einen Blick auf das Londoner Viertel, in dem Kureishi wohnt: "Das Haus, in dem Hanif Kureishi seit den Neunzigerjahren lebt, könnte er sich heute nicht mehr leisten. 'Ich bin schließlich Schriftsteller, kein Milliardär.' Auf den ersten Blick ist es eine eher bescheidene Gegend: zwei- bis dreistöckige Reihenhäuser, kleine Gärtchen, doch in der Umgebung lebten jetzt nur noch Manager, Chefärzte und Investmentbanker, die meisten davon aus den Mitgliedsländern der Europäischen Union. Ein französisches Lyzeum befindet sich in der Nähe. 'Ich bin der einzige hier in der Straße, dessen Muttersprache Englisch ist', sagt Kureishi."

Weiteres: Joachim Güntner erinnert sich in der NZZ wehmütig an die große Zeit der Zweitausendeins-Buchläden. Thea Dorn wird das nach dem Weggang Maxim Billers geschrumpfte "Literarische Quartett" wieder vollzählig machen, meldet die FAZ via epd.

Besprochen werden Navid Kermanis Kinderbuch "Ayda, Bär und Hase" (Tagesspiegel), Paul Austers "4321" (online nachgereicht von der Zeit, NZZ, SZ), Laurent Binets "Die siebte Sprachfunktion" (Welt), Rafik Schamis Bilderbuch "Der Wunderkasten" (Tagesspiegel) und Edward Abbeys "Die Einsamkeit der Wüste" (FAZ).

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Film





Ang Lees
Satire "Die irre Heldentour des Billy Lynn" über einen jungen Soldaten, der sich unversehens im irrealen Spektakel einer Heldenverehrung durch White Trash America wiederfindet, wurde mit 120 Bildern pro Sekunde gedreht, in 4K-Auflösung und 3D. Das Ergebnis ist geradezu hyperreal, schreibt Philipp Stadelmaier in der SZ. Man ist den Figuren "ganz nahe, sieht jeden Mitesser, jede Hautrötung. Die Kamera ist so hochauflösend, dass sie jede falsche Bewegung, jedes übertriebene Spiel sofort entlarvt. Die Schauspieler müssen sich also extrem zurückhalten. Womit das Spektakel eine zarte, intime Dimension erhält. Alwyn spielt im Grunde nur mit seinem Gesicht, mit minimalen Gesten und Zuckungen. Auf diese Weise wirkt es, als würde Lee den schrillen Ton der Show um ihn herum leiser drehen, um in Billys Kopf hineinzuschauen."

"Technische Sperenzien hat der Film nicht nötig", schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel, der Film entwickle auch so genügend "Drive": Atemlos durchmesse die Kamera "Billys Drama, folgt ihm auf seinen Wegen durch das Stadion und die labyrinthartigen Katakomben, die das Gefühl des Eingesperrtseins verstärken." Ohnehin ist von der technischen Komponente in Deutschland nicht viel zu spüren: Der Film kommt in regulärer Bildfrequenz und in 2D in die hiesigen Kinos, was auf Artechock Thomas Willmann zornig werden lässt: Ob "der einzige US-Film seit Ewig­keiten, der in wirklich jeder Einstel­lung ganz bewusst auf Räum­lich­keit hin kompo­niert ist, dann auch wirklich in 3D zu sehen ist - geschweige denn ob man Ang Lees einzig­ar­tiges Expe­ri­ment mit extremen Bild­wie­der­hol­raten erleben darf: Das ist eben nicht bloß so eine spitz­fin­dige Cineasten-Frage. Dem Publikum diese Erfahrung zu verwehren ist nichts Anderes, als wenn eine große Gemäl­de­aus­stel­lung statt der Originale einfach Kunst­drucke hängen würde. Oder ein Sinfo­nie­kon­zert statt mit Orchester schlicht im Klavier­auszug aufge­führt." Dass es andererseits enorm schwierig ist, ein technologisch derart ambitioniertes Projekt adäquat ins Kino zu bringen und überhaupt nur fünf Kinos weltweit dazu in der Lage sind, kann man dieser Expertendiskussion im Film-Tech Forum entnehmen.

Weiteres: Für die taz spricht Linda Gerner mit Philip Scheffner über dessen Essayfilm "Havarie" (unsere Kritik), für den er eine dreiminütige Youtube-Aufnahme eines kenternden Boots mit Flüchtlingen auf Spielfilmlänge zerdehnt hat. Die Filmwirtschaft in Deutschland erwirtschaftet jährlich 25 Milliarden Euro, berichtet Hanns-Georg Rodek in der Welt, wo er dies als Argument für Filmförderung anführt. Beim Filmfestival in Rotterdam stehen die Zeichen der Zeit auf politische Filme, ist Dunja Bialas von Artechock aufgefallen. Sehr zufrieden berichtet Rüdiger Suchsland vom Max-Ophüls-Festival in Saarbrücken, wo seiner Ansicht nach die richtigen Filme prämiert wurden. Für den Tagesspiegel besucht Andreas Busche den Kameramann Thomas Mauch, der mit zahlreichen Filmen für Alexander Kluge, Edgar Reitz, Werner Herzog und Ula Stöckl einst "das Auge des jungen deutschen Films" gewesen ist. Im Kino Arsenal beginnt heute eine ihm gewidmete Hommage.

Der Tagesspiegel setzt seine Reihe mit Vorab-Empfehlungen zur Berlinale fort: Jörg Wunder führt durch die Retrospektive, die sich in diesem Jahr mit dem Science-Ficton-Kino beschäftigt. Christiane Peitz empfiehlt Filme aus den Spezialsektionen am Rande des Festivals. Bei der Berlinale-Pressekonferenz hat sich Rüdiger Suchsland von Artechock unterdessen sehr gelangweilt.

Besprochen werden Asghar Farhadis "The Salesman" (FR, Tagesspiegel, Welt, mehr dazu im Efeu von gestern), Theodore Melfis Biopic "Hidden Figures" (Freitag, unsere Kritik hier), Tarek Ehlails deutscher Copthriller "Volt" (Welt), eine BluRay von Robert Siodmaks Film Noir "Die Kiler" (Filmgazette) und eine DVD von Jutta Brückners feministischem Film "Hungerjahre - in einem reichen Land" von 1980 (Filmgazette).
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Kunst



Das Museum für Moderne Kunst in Frankfurt zeigt Videoarbeiten des englischen Künstlers Ed Atkins, darunter den computeranimierten Film "Hisser", der gespenstische Szenen im Alltag eines einsamen Mannes zeigt, berichtet Kolja Reichert in der FAZ: "Zum Höhepunkt wandert die Kamera durch die Decke nach oben, wo wieder dasselbe Zimmer erscheint, und weiter, beschleunigt, wieder und wieder dasselbe Zimmer. Die Wiederholung greift Atkins im Raum auf: Auf fünf über ein Geschoss verteilten freistehenden Wänden läuft derselbe Film synchron. Das ist natürlich eine Unverschämtheit, aber sie sitzt. Ist sonst der Raum Behälter für Bilder, bringt der Wiederholungseffekt diese Hierarchie ins Schwanken und macht den Raum zum quasivirtuellen Anhängsel der Bilder."

"Der Clou ist, dass das, was wir sehen, zugleich hyperreal und total künstlich aussieht", meint Sandra Danicke in der FR: "Die Poren, Pigmentflecken und Fältchen auf der Gesichtshaut des Mannes sind von einer Detailgenauigkeit, die zugleich erschreckt und verblüfft. Die glänzende Oberfläche der Augäpfel, das Schimmern der Zähne wirken wiederum falsch. Das ist natürlich Absicht. Atkins will, dass wir wachsam bleiben. Er führt uns vor, wie wir uns durch digitale Technik täuschen lassen - wider besseres Wissen, egal wie fehlerhaft die Illusion auch sein mag."

Besprochen werden außerdem Ausstellungen des New Yorker Künstlers Wade Guyton im Münchner Museum Brandhorst (SZ) und von Marcel Odenbach in der Kunsthalle Wien (Presse).
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