Efeu - Die Kulturrundschau

How can you not benutz it?

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07.01.2017. Die Welt fragt, warum der auf Slowenisch schreibende Autor Florjan Lipuš nicht den Österreichischen Staatspreis erhalten darf. Der Standard empfiehlt Kunstkäufern, in ihrer Anlagestrategie die Preisentwicklung des Feminismus zu berücksichtigen. Die taz lässt sich von der israelischen Performerin Orit Nahmias daran erinnern, dass Therapien von Krankenkassen bezahlt werden. Und in der NZZ verbreitet Kent Nagano Vorfreude auf das Eröffnungskonzert der Hamburger Elbphilharmonie in der kommenden Woche.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.01.2017 finden Sie hier

Literatur

Dass der Österreichische Staatspreis in diesem Jahr nicht an den slowenischsprachigen Schriftsteller Florjan Lipuš geht, weil dieser nicht auf Deutsch schreibt, hat der Verleger Jochen Jung vor wenigen Tagen in der Presse als Skandal gegeißelt. Für Paul Jandl von der Welt ein Anlass, "darüber nachzudenken, wie gefestigt das österreichische Verhältnis zu seinen sprachlichen Minderheiten ist. ... Noch in den späten Neunzigerjahren gab es in Klagenfurt einen wüsten Tumult, weil Florjan Lipuš es gewagt hatte, eine Rede mit ein paar Sätzen auf Slowenisch einzuleiten. Dabei sollte mit diesen Sätzen nur erklärt werden, warum die Rede auf Deutsch gehalten wird. Dass die Dinge sich allmählich geändert haben, hat mit einer slowenischsprachigen Literatur Österreichs zu tun, deren Intensität tausend Geschichtsstunden aufwiegt."

Im literarischen Wochenendessay der FAZ stellt Michael Martens den jugoslawischen Schriftsteller Ivo Andrić vor, den der Nobelpreisträger Orhan Pamuk wiederholt und kürzlich wieder als Vorläufer bezeichnet hat. Für Martens keine Überraschung: "Lange bevor sie zum Debatten-Metathema wurde, war die Frage, wie Islam und Christentum zusammenpassen oder eben nicht, wie der Orient im Okzident, der Islam in Europa existieren kann (oder eben nicht), für Andrić schon ein Lebensthema. In seinen Romanen sowie einer Hundertschaft an Essays und Erzählungen, oft im osmanisch beherrschten Bosnien angesiedelt, umkreiste Andrić diese Fragen unablässig."

Weiteres: Intellectures hat ein großes Gespräch mit Catherine Meurisse geführt, die in ihrem (in der taz besprochenen) Comic "Leichtigkeit" den Anschlag auf Charlie Hebdo verarbeitet, dem sie selbst nur knapp entkommen war. Der WDR hält derzeit Friedrich Anis Hörspiel "In einer Nacht aus Feuer" aus dem Jahr 2010 bereit.

Besprochen werden unter anderem Adriaan van Dis' autobiografischer Roman "Das verborgene Leben meiner Mutter" (NZZ), Hilary Mantels "Im Vollbesitz des eigenen Wahns" (NZZ), der zweite Teil von Elena Ferrantes Neapelsaga (taz, FAZ, SZ), Botho Strauß' "Oniritti - Höhlenbilder" (taz), Lauren Groffs "Licht und Zorn" (ZeitOnline), Beate Teresa Hanikas "Das Marillenmädchen" (FR) und der neue Roman "Statt etwas" von Martin Walser (Welt, online nachgereicht von der FAZ).
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Bühne

In der taz porträtiert Barbara Behrendt die israelische Schauspielerin Orit Nahmias, die in ihrer Standup-Show "Female" Shit" am Berliner Gorki Theater Witz und Schamlosigkeit miteinander verbindet und auch im Gespräch ihre Pointen nur so knallen lasse: "Ob sie bei jedem Gespräch schon im ersten Satz auf ihre Therapie zu sprechen komme, frage ich - die Deutschen redeten darüber eher selten öffentlich. Nahmias: 'Dann sollten sie wenigstens hingehen, wenn sie schon nicht drüber sprechen. Die meisten Deutschen, die ich kenne, hätten eine Therapie bitter nötig. Und ihr habt ja keine Ahnung, was für ein Glück es ist, dass das eure Krankenkasse zahlt. How can you not benutz it?'"

Was das Berliner Ensemble aus Ferdinand Bruckners Klassiker "Krankheit der Jugend" gemacht hat, passt zu unserer Zeit, aber nicht zu seinem Autor, befindet Sinmon Strauss in der FAZ, der dieser Inszenierung nur ein paar neurotische Zuckungen erlebte: "Eine Jugend, die gar nicht erst ihren Platz sucht, sondern meint, ihn auf dem Sofa schon gefunden zu haben, hat den Überlebenskampf aufgegeben, bevor er überhaupt begonnen hat."

Weiteres: Emotional durchaus strapaziös, aber nicht niederschmetternd findet Michael Cherah im Standard die österreichische Premiere von Elfriede Jelineks "Wut" am Stadttheater Klagenfurt. Sandra Luzina berichtet im Tagesspiegel von den Tanztagen Berlin.
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Film

Besprochen werden die dritte Staffel der Amazon-Serie "Mozart in the Jungle" mit Monica Bellucci (FAZ), Philip Widmanns Dokumentarfilm "Ein Haus in Ninh Hoa" (FAZ, unsere Kritik hier), Park Chan-Wooks Thriller "Die Taschendiebin" (Zeit, unsere Kritik hier) und der Science-Fiction-Film "Passengers" mit Jennifer Lawrence (Tagesspiegel).
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Architektur

Radiostoff fürs Wochenende: Der Deutschlandfunk bringt Dirk Meyhöfers Feature über Peter und Alison Smithson und deren humane Architektur. Im Tagesspiegel feiert Bernhard Schulz den Berliner Architekten Francis Kéré, dem die Münchner Pinakothek der Moderne eine bereits vielgerühmte Ausstellung widmet.
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Kunst


Pauline Boty: The Only Blonde in the World. 1963. Bild: Tate Modern.

In der Schau "This Was Tomorrow" im Kunstmuseum Wolfsburg erlebt NZZ-Kritikerin Ursula Seibold-Bultmann, wie die britische Pop-Art auf Konsum und Massenkultur reagierte: Individuell: "Peter Blake etwa modulierte in seinen autobiografisch geprägten Bildern die Figur und Erlebniswelt des typischen Fans mittels eines maximal variierten Farbauftrags, während Richard Smith mit leuchtendem Kolorit am Rande der Abstraktion operierte; Derek Boshier äußerte seine Kritik an der Amerikanisierung Großbritanniens unter anderem durch eine subversive Verwendung der Farben Blau, Weiß und Rot, während Pauline Boty sich schwungvoll an der Versinnbildlichung weiblicher Sexualität versuchte und Colin Self mit zarter Hand der Angst vor einem Atomkrieg Ausdruck verlieh."

Olga Kronsteiner registriert im Standard nur halb erfreut, dass sich die gestiegene Wertschätzung weiblicher Künstlerinnen nun auch von Auktionshäusern monetarisieren lässt: Otto Hans Ressler widmet erstmals eine Auktion allein den "traditionell benachteiligten Künstlerinnen": "Laut Ressler sei die Diskriminierung des Marktes auch über die preisliche Unterbewertung erwiesen. Das müsse, ja werde sich ändern."

Besprochen wird eine Ausstellung zum Werk des französischen Malers Henri Fantin-Latour im Pariser Musée du Luxembourg (FAZ).
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Design

Bernd Graff schreibt in der SZ über den Siegeszug der Infografik in den Medien. Dass diese überhand nehmen liegt seiner Ansicht auch an der neuartigen Informatiosflut, seit sich die Datenströme mit der Digitalisierung explosionsartig vervielfacht haben. " Es besteht also heute mehr denn je der Bedarf an einem Wiedergewinn von Übersichtlichkeit. ... [Infografiken] vermitteln ein Verständnis von Welt. Die oft schockierenden Bilder der Kriegsfotografie mögen die unmittelbare Wirklichkeit belegen. Doch gegen die Deutungshoheit der Infografik bleiben sie schlichte Dokumente."

Auffällig häufig standen Carlo Mollinos Möbel am Ende des vergangenen Jahres auf den Spitzenpositionen der Auktionen im Designmarkt, ist Alexander Hosch von der SZ aufgefallen. Was ist das Besondere an diesen Möbelstücken des 1973 verstorbenen Designers? "Mollino war, trotz der technischen Ästhetik, emotional auf die Vergangenheit bezogen. Seine Tischkonstruktionen lassen oft eher an den Jugendstil denken als an die Nachkriegsjahre. ... Mollino oszillierte als Architekt, Designer, Autorennfahrer, Flieger und Fotograf erfolgreich zwischen Art Déco und Futurismus. Hinzu kam eine Neigung für Surrealistisches: Manche der hölzernen Möbelkonstruktionen aus Ahorn und Eiche erscheinen wie Bildausschnitte von Salvador Dali. Als Person wirkte Mollino aufreizend viril, seine Möbel dagegen sind grazil und grotesk."
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Musik

In der kommenden Woche wird die Hamburger Philharmonie eingeweiht, mit der Uraufführung von Jörg Widmanns Oratorium "Arche". Die NZZ widmet ihre Beilage Litaratur und Kunst dem emblematischen Bau. Hamburgs Generalmusikdirektor Kent Nagano schwärmt im Interview von dem ganz neuen Hamburg-Gefühl, dem Wiedererwachen der alten Musiktradition und natürlich vom Klang: "Es ist sehr eindrucksvoll, im positivsten Sinne. Ein bisschen Spannung bleibt aber, wie es klingen wird, wenn der Saal ganz voll ist. Da wird man sicher auch diese besondere Nähe zu den Hörern noch stärker spüren, die für den Raum charakteristisch ist. Es gibt darin eine besondere Symmetrie, sowohl optisch wie akustisch, und eine gewisse Leichtigkeit - ein bisschen wie in der neuen Pariser Philharmonie. Aber in keinem anderen Saal spürt man diese atmosphärische Nähe zum Wasser, zur Elbe und zum Hafen - das ist einzigartig in Hamburg."

Außerdem rekapituliert Christian Wildhagen noch einmal die Entstehungsgeschichte und würdigt die verschwendungswilligen Verfechter des Baus. Für Petra Schellen in der taz ist die Vorgeschichte dagegen das Paradebeispiel dafür, wie man Großprojekte nicht angehen sollte. Für die Welt hat sich Manuel Brug mit Intendant Christoph Lieben-Seutter unterhalten, der erwartbare Begeisterung verströmt.

Im taz-Gespräch mit Thomas Winkler erklärt der Musiker Steve Binetti, der in den 90ern lange an Castorfs Volksbühne gearbeitet hat, warum er plant, die Musik hinzuwerfen: "Mich [macht] das wütend, dass es Geschäftsleute gibt in der Branche, die eine fett ausgestopfte Existenz führen, während die Leute, die die Musik produzieren, wie ein paar Schweine im Stall ausgebeutet werden."

Weitere Artikel: SZ-Kritiker Reinhard J. Brembeck lauscht beim Besuch in Prag den Anekdoten und Geschichten, die die bald 90-jährige Cembalistin und Shoah-Überlebende Zuzana Růžičková aus ihrem Leben erzählen kann. In der taz verabschiedet sich Leonie Schlick von den Großraumdiscos, die den individuierten Ausgehbedürfnissen des Publikums folgend den Clubs und Bars weichen müssen. Die FAZ bringt eine Strecke mit traumhaft schönen Fotografien aus einem Bildband über die Geschichte von Capitol Records. Jan Wiele (FAZ), Manuel Brug (Welt) und Gerhard Matzig (SZ) gratulieren Shirley Bassey zum 80. Geburtstag. Ihr berühmtester Song bis heute ist "Goldfinger" zum gleichnamigen James-Bond-Film:



Besprochen werden Flo Morriseys und Matthew E. Whites Album "Gentlewoman, Ruby Man" (FAZ.net) und eine neue CD des Flötisten Emmanuel Pahud (Tagesspiegel).
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