Efeu - Die Kulturrundschau

Schräg waren die Bamberger

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02.01.2017. Als den James Joyce des Comics preist die FAZ den britischen Autor Alan Moore, sein Jahrmillionen umfassendes Werk "Jerusalem" sei an literarischer Komplexität kaum zu übertreffen. Im NYRB-Blog empfiehlt Claire Mesud die schlichten Linien der Carmen Herrea gegen jede Form der Tyrannei. Welt und Standard haben sich die Neujahrskonzerte angehört und sind sich einig: Die lautesten Sektkorken hat Gustavo Dudamel in Wien knallen lassen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.01.2017 finden Sie hier

Kunst

Als Gegenteil zu jeder Form von Tyrannei begreift Claire Messud im Blog der NYRB das gerade im Whitney Museum gezeigte künstlerische Werk von Carmen Herrera, das so viel erlaube, so wenig voraussetze und dabei in seiner Präzision so aufregend sei: "Herrera paints or draws daily even now, and her work has remained an exhilarating example of hard-edged abstraction. Inspired by Miró and Mondrian, a friend of Barnett Newman and of Leon Polk Smith, a young artist in post-war Paris at the same time as Ellsworth Kelly, she is an artist for whom the pure line remains the source of inspiration and joy. 'I like straight lines… I like order. In this chaos that we live in, I like to put order,' she explained in a 1994 interview. A recent discovery for audiences, she may appear, like Athena, to have sprung fully formed into the world when she sold her first painting in 2004, at age 89. But it is simply that we have been painfully oblivious: Herrera's work has been waiting for us all along." (Bild: Carmen Herrera: The Way, 1970)

Besprochen werden die große von Okwui Enwezor konzipierte Schau "Postwar 1945-1965" im Münchner Haus der Kunst (taz), Paul-Nash-Schau in der Tate Britain (die Alexander Menden wegen ihrer Rückwärtsgewandheit in der SZ zur Londoner Ausstellung des Jahres kürt), Franz-West-Schau im Wiener 21er Haus (FAZ), die Ausstellung "Sailor" der Künstlerin Avery Singer in der Secession (Standard) und die Ausstellung "The Others" in der Berliner Galerie Johann König (Tagesspiegel).
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Musik

In der Welt vergibt Manuel Brug Noten für die zahlreichen Neujahrskonzerte: "Schräg" waren die Bamberger, "offensiv politisch" die Kölner, "originell" war Frankfurt, "besonders uninspiriert" Stuttgart und "unerheblich" Berlin. Sehr verliebt hat sich Brug allerdings alleine schon in die aufwändige Inszenierung des Wiener Konzerts, das der ORF mit 17 Kameras einfing. Der gerade mal 35 Jahre alte Dirigent Gustavo Dudamel, dem das ZeitMagazin aktuell auch ein sehr umfangreiches Porträt widmet (das von Javier Moreno geführte Welt-Interview ist online leider nicht frei zugänglich), macht bei soviel Aufwand allerdings einen "entspannt sympathischen" Eindruck. Ganz im Gegensatz dazu sah Ljubisa Tosic vom Standard allerdings "viel Druck" auf den Schultern des venezolanischen Dirigenten liegen: "Ja, Dudamel setzt mitunter allzu forsche Rufzeichen. ... Es wird allerdings langsam subtiler, und in Summe offenbaren sich reichlich Qualitäten: Strauß' 'Winterlust-Polka' präsentieren die Philharmoniker herzhaft-vital und eben auch mit delikater Eleganz der Details. Auch die Polka 'So ängstlich sind wir nicht!': Deren rhythmisch drängender Charakter wird fein akzentuiert umgesetzt, wie auch Strauß' 'Pepita-Polka' zum Beleg wird, dass Dudamel die Balance zwischen interpretatorischem Sektkorkenknallen und der Erweckung sanfter Linien finden kann." Das ZDF hält einen Videomitschnitt des Konzerts online bereit. Von den Berliner Konzerten berichten die Kritiker des Tagesspiegel.

In der FAZ ärgert sich Eleonore Büning, dass das Ferruccio-Busoni-Gedenkjahr 2016 so unbemerkt vorbeiziehen konnte - noch vor wenigen Jahren wäre das nicht passiert, meint sie. An neuen Aufnahmen gebe es denn auch nur Busoni-Bearbeitungen, jedoch keine seiner Originalkompositionen. Das ist zu wenig, findet sie: "Busoni war nicht nur ein genialer Zitatensammler und Bach-Bearbeiter, der virtuos Altes in Neues zu wandeln wusste. Er war auch, zu seiner Zeit, ein erfolgreicher, ambitionierter Komponist, der eine wilde Fülle unterschiedlichster Werke schrieb: ein Zukunftsmusiker, zugleich Traditionsfeuerhüter. Mit seinem 'Entwurf' hat er eine so eigentümlich stachelige und verwirrend widersprüchliche Poetik hinterlassen, dass sie bis heute Rätsel aufgibt."

Weitere Artikel: Brian Enos neues Album "Reflection" erscheint als App, dessen Algorithmus das Klangmaterial der Tageszeit anpasst und somit ein potenziell unendliches Hörvergnügen bietet, erklärt Juliane Liebert in der SZ. Die FAZ hat Eleonore Bünings Loblied auf den Berliner Rundfunkchor online nachgereicht. Wolfgang Sandner würdigt in der FAZ Queen Esther, die sich von den Harlem Gospel Singers verabschiedet.

Und das Logbuch Suhrkamp bringt die 39. Lieferung aus Thomas Meineckes "Clip//Schule ohne Worte". Hier alle Videos als Playlist:



Besprochen werden eine Compilation mit rarem französischem Punk der 70er (Pitchfork) und das Album "Brønshøj (Puncak)" der indonesischen Folk-Noise-Doom-Metal-Band Senyawa (Pitchfork).
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Literatur

Mit der ganzen ersten Seite ihres Feuilletons würdigt die FAZ den vom hiesigen literarischen Betrieb (unserem Engagement zum Trotz) kaum wahrgenommenen britischen Comic-Autor Alan Moore, der sich für Kenner schon längst als Kandidat für den Nobelpreis qualifiziert hat. Moore hat "den Anspruch literarischer Komplexität, wie wir sie aus Romanen kennen, in die Erzählform des Comics eingeführt und vor allem auch erfüllt", schreibt Andreas Platthaus in seiner Besprechung von Moores aktueller, noch nicht abgeschlossener Serie "Providence", die ein intertextuelles Gewebe rund um das Schaffen H.P. Lovecrafts legt (hier dazu ein ausführlicher Online-Appendix): Diese Serie erzählt "die aus diesen Geschichten geschaffene Geschichte dieser Geschichten. Dass die Handlung im Juni 1919 einsetzt, als der Versailler Vertrag den Ersten Weltkrieg beendet, gibt den Auftakt ab für noch größeren Schrecken, der nie mehr abreißen wird, weil gerade die scheinbar Aufgeklärten den dunklen Mächten in die Hände spielen." (Bild: Matt Biddulph, CC BY-SA 2.0)

Dietmar Dath berichtet unterdessen von seiner Lektüre von Moores neuem Roman "Jerusalem", an dem der Autor zehn Jahre gearbeitet hat. Darin erzählt Moore eine Jahrmillionen umfassende Geschichte in einem Umfang, der den der Bibel übersteigt, was das Gehirn aufs Angenehmste verknotet, wie sich Dath freut: "Manchmal empfindet man bei der Lektüre die Akribie, mit der das alles zusammengefügt ist, beinahe als unheimlich ... Belohnt wird's mit der seelenwärmenden Erfahrung, dass jeder Satz im Großwerk belebt ist von einer unendlichen Liebe zur Sprache als Erscheinungsweise irdisch-überirdischen Zusammenklangs des Sagbaren mit dem Unsagbaren", womit Moore bewusst anschließe an Erzähltraditionen von John Miltron, John Bunyan, William Blake und James Joyce, wie Dath versichert.

Weiteres: In der Welt resümiert der Schriftsteller Marko Martin seine fünf Monate als Stadtschreiber in Breslau (hier das umfangreiche Blog, das dabei entstanden ist). Besprochen werden unter anderem Emma Braslavskys "Leben ist keine Art, mit einem Tier umzugehen" (online nachgereicht von der Welt) und David Wagners "Ein Zimmer im Hotel" (SZ).
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Design

In der SZ porträtiert Jonathan Fischer sehr wohlwollend die beiden Macherinnen der senegalesischen Modesty Group, Zainabou Kaba und Fatymatou Dia, die Verschleierungsmode für Frauen entwerfen und dabei den islamischen Aspekt herunterspielen: "'Wir wissen, wer Karl Lagerfeld ist', sagt Dia, 'aber wir schauen uns kaum westliche Magazine an. Beispielsweise wäre es für eine westafrikanische Frau unmöglich, ein Kleid von der Stange zu kaufen."

Berthold Seewald von der Welt entnimmt der neuen historischen Studie "Hunger, Rauchen, Ungeziefer" von Manfred Vasold einiges zur Geschichte der Unterhose.
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Bühne

In der Berliner Zeitung misst Kerstin Krupp dem neuen Volksbühnenchef Chris Dercon den Puls. Für die Zeit trifft Moritz von Uslar Berlin dessen Gegenspieler, Berlins neuen Kultursenator Klaus Lederer.
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Stichwörter: Dercon, Chris, Lederer, Klaus, Led