Efeu - Die Kulturrundschau

Unerhörte Pupperlwirtschaft

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28.12.2016. Der Standard bewundert in einer fantastischen Schau in Wien die Werke dilettantischer Hofratstöchter. Die NZZ beklagt, dass kaum arabische Gegenwartsliteratur ins Deutsche übersetzt wird. Die SZ bricht eine Lanze für die Gier als ekstatisches Moment der Erkenntnis. Die taz besucht die verödeten Baustellen westlicher Museen in den Arabischen Emiraten. Und mit Variety trauern alle um die im Mondlicht ertrunkene Carrie Fisher.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.12.2016 finden Sie hier

Kunst


Broncia Koller-Pinell: Marietta, 1907, Sammlung Eisenberger, im Jüdischen Museum Wien.

Neue Sachlichkeit, Fauvismus, Avantagarde: Sehr sehenswert findet Christa Benzer im Standard eine Ausstellung zu jüdischen Künstlerinnen vor 1938. Der provokante Titel "Die bessere Hälfte" geht für sie in Ordnung: "Schon im Stiegenhaus kann man erahnen, wieso es zu dieser selbstbewussten 'Anmaßung' kam. Zitiert werden dort keine Geringeren als die beiden Wiener Architekten Adolf Loos und Oswald Haerdtl, die die Künstlerinnen als 'Dilettantische Hofratstöchter' beschimpften und die Wiener Werkstätte aufgrund der dort mitarbeitenden Frauen als 'unerhörte Pupperlwirtschaft' bezeichneten." Roman Gerold verweist zudem im Standard auf die Einzelausstellung, die das Wiener Belvedere der Malerin Tina Blau widmet.

Die Euphorie der großen Museen, in den Emiraten Dependancen zu errichten, hat deutlich nachgelassen, registriert Tom Mustroph in der taz, in Abu Dhabi wurden die Bauarbeiten für Frank Gehrys Guggenheim eingestellt. Und das nicht nur wegen der Kritik an den ausbeuterischen Arbeitsbedingungen: "Der Wunsch, Kunst zu sehen, treibt kaum jemanden in die Golfregion. Die aufwendig gestalteten Museen für Zeitgenössische und für Islamische Kunst in Doha, aber auch das mit der Sharjah Biennale verbundene Museum für Islamische Zivilisation kann man meist in schönster Einsamkeit besuchen. Welche Funktion die Museumsbauten im Wüstensand eigentlich haben, wurde beim Besuch des französischen Verteidigungsministers im Oktober 2016 in Abu Dhabi deutlich. Während die schon fertigen Kunsttempel kaum Interesse generieren und die Museums-Baustellen vor Kritikern fein abgeschirmt werden, wurde Minister Jean-Yves Le Drian extra zum Louvre chauffiert. Lokale Medien verkündeten während des Besuchs stolz, dass die Vereinigten Arabischen Emirate Frankreichs größter Kunde für Waffenexporte seien."

Weiteres: Für die Welt besucht Michael Pilz im Naturkundemuseum Chemnitz die Ausstellung "Rock Fossils", deren Objekte nach großen Musikern benannt sind. Im Tagesspiegel empfiehlt Christiane Meixner die Schau der Sammlung Wolfgang Werner in Berlin.
Archiv: Kunst

Musik

Zum Jahresende stellt die Spex weiter munter lauter Lesestücke aus den Printausgaben der letzten Monate ins Netz, die man allesamt sehr gern auch früher schon online gelesen hätte: Fatma Aydemir denkt darüber nach, ob und wie sich die offenherzige Zeigefreudigkeit von Beyoncé, Rihanna und Azealia Banks mit feministischen Positionen in Einklang bringen lassen. Und Arno Raffeiner porträtiert die Sängerin Anohni, die früher Antony Hegarty hieß, und mit ihrem Album "Hopelessness", das Äquivalent der 00er Jahre zu "What's Going On?" geschaffen habe. Kurz vor Lemmy Kilmisters Tod heute vor einem Jahr hatte Ulrich Gutmair ein letztes Gespräch mit dem Motörhead-Frontmann geführt. Außerdem hatte Philipp Kressmann mit Schorsch Kamerun geplaudert und Jennifer Beck schreibt mit, was ihr Laurie Penny über den Stand des Feminismus und der rape culture im Jahr 2016 zu sagen hat.

Weiteres: Ueli Bernays schreibt in der NZZ darüber, wie sich Schweizer Musiker osteuropäische Musik aneignen. Für die Welt spricht Barbara Möller mit dem Pianisten Daniil Trifonow.

Besprochen werden Martha Wainwrights "Goodnight City" (taz), die dritte Auflage von Jon Savages Punk-Historie "England's Dreaming" (Freitag) und eine Ausstellung in Chemnitz von Fossilien, die nach Musikern benannt sind (Welt).
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Architektur

Die ETH Lausanne hat sich zu einem Mekka der Architektur entwickelt, schwärmt Roman Hollenstein in der NZZ, ein ikonisches Gebäude reiht sich an das nächste. Nach dem Learning Center des Tokioter Büros Sanaa hat jetzt Kengo Kuma ein graues "origamiartig gefaltetes" Art Lab errichtet. Und: "Einen wichtigen Schritt hin zur Aufwertung des Platzes bedeutete im letzten Sommer die Eröffnung der Halle de mécanique von Dominique Perrault, dem Architekten der Pariser Nationalbibliothek. Mit seinen Fassaden aus schräg gestellten Sonnenblenden, die über dem Eingang wie eine gigantische Gottesanbeterin auf den Platz ausgreifen, bildet das fremdartig-bizarr wirkende Bauwerk einen suggestiven Gegensatz zu den Food Trucks, die wie in einem neorealistischen Film an der Nordseite des Platzes auf Kunden warten. Wer mehr fürs Essen ausgeben will, der kann im Atrium der Halle de mécanique, das mit diagonal den Raum durchmessenden Treppen und Passerellen an Piranesis Carceri erinnert, im 'Sushizen' fernöstliche Köstlichkeiten essen."
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Literatur

Hartmut Fähndrich beklagt in der NZZ die dürftige Editionslage arabischer Gegenwartsliteratur, die im deutschsprachigen Raum kaum stattfinde. Gerade jetzt, wo es notwendig wäre, die Facetten arabischer Geschichte und Befindlichkeiten mit dem Mittel der Literatur kennenzulernen, werde dies empfindlich spürbar: "So bleiben uns unzählige Geschichten unbekannt, die - ernsthaft oder spöttisch, bitter oder heiter - von Vergangenheit und Gegenwart einer Welt erzählen, die zurzeit einem Scherbenhaufen gleicht", schreibt Fähndrich. "Zahlreiche historische und historisierende Romane geben den heutigen Realitäten Hintergrund und Tiefenschärfe ... Soll dieser Schatz weiterhin ungehoben bleiben?"

Im SZ-Essay verteidigt der Literaturwissenschaftler Thomas Strässle mit Walter Benjamin die Gier, die in Kino und Literatur gerne von der Warte moralischer Überlegenheit aus gegeißelt wird, vor ihren Kritikern: Diese sei schließlich "von ganz eigener Qualität und Dynamik - und Erotik", wie er schreibt. "Kein Zweifel für Benjamin, dass die Gier tiefer ins Vertilgte hineingelangt als der Genuss, der sich bloß an der Oberfläche labt. ... Die Gier als ekstatisches Moment der Erkenntnis, als exzessive Intensität der Erfahrung - und gibt es nicht auch die Neugier, die in ihrer Dynamik Benjamins Fressgier nicht unähnlich ist? Auch die Neugier stand über lange Jahrhunderte hinweg unter einem moralischen Bann."

Für die FAZ hat Jürg Altwegg den algerischen Schriftsteller Yasmina Khadra in Paris besucht, der von Dschihadisten so wenig halte wie von jenen, die in der Religion die Ursache für den Terror sehen. Auch von seinem Kollegen und früheren Freund Kamel Daoud hat er keine allzu hohe Meinung mehr: "Als die Journalisten in Algerien ermordet wurden, war er ein Islamist. Dann wurde er islamophob. Halten Sie das für normal? Daoud ist ein Delinquent. Nur in Deutschland hat man ihn zum antiislamischen Gewissen hochgespielt."

Weiteres: In Hongkong wächst der Druck aus Peking auf Verleger und Buchhändler, berichten Michael Marek und Sven Weniger im Freitag.

Besprochen werden Alexander Goldsteins "Denk an Famagusta" (Freitag), Saul Friedländers Autobiografie "Wohin die Erinnerung führt" (NZZ), Kurt Steinmanns Neuübersetzung von Aischylos' "Orestie" (NZZ), Oguz Atys "Die Haltlosen" (online nachgereicht von der FAZ), Margaret Atwoods "Die steinerne Matratze" (Welt), Jörg Aufenangers Biografie über den Berliner Bohème-Künstler John Höxter (Tagesspiegel), der erstmals vollständig ins Deutsche übersetzte chinesische Klassiker "Die Reise in den Westen" aus dem 16. Jahrhundert (FAZ, unsere Kritik hier) und der "Goethe-Atlas", eine Karte zum Auffalten, die sämtliche Reisen des deutschen Dichterfürsten verzeichnet (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

FAZ-Autorin Kerstin Holm erlebt in Moskau mit Freude den riesigen Erfolg des Stückes "Wer lebt gut in Russland", das der dissidente Regisseur Kirill Serebrennikow nach einem Poem von Nikolai Nekrassow auf die Bühne gebracht hat.

Besprochen werden Stephan Kimmigs Inszenierung von Tennessee Williams' "Glasmenagerie" am Deutschen Theater in Berlin (SZ) und Claus Peymanns Rückblick auf sein Theaterleben "Mord und Totschlag" (Nachtkritik).
Archiv: Bühne

Film


Von wegen Prinzessin: Carrie Fisher in "Blues Brothers" (Bild: Universal)

2016, das Jahr, in dem die Popkultur starb, meint es auch weiterhin in aller Konsequenz nicht gut mit uns. Gerade noch konnte man Carrie Fisher im neuen "Star Wars"-Film "Rogue One" in ihrer Paraderolle als Prinzessin Leia wieder auf der Leinwand sehen - wenn auch nur in Form eines kurzen Auftritts einer digital erstellten Wiedergängerin ihres jungen Selbst aus den Siebzigern. Nun ist die Schauspielerin im Alter von 60 Jahren gestorben, meldet Variety. Warum sie ganz im Gegensatz zu den Behauptungen aller Nachrufe keineswegs einem Herzanfall erlegen ist, sondern in Wahrheit im Mondlicht ertrunken und dabei von ihrem eigenen BH stranguliert wurde, weiß Vanity Fair.

Dass die Figur der Prinzessin Leia weit mehr war als eine damsel in distress, unterstreicht Martin Klemrath in der Welt: "Wir bewunderten, wie tough und smart sie war. ... Keine passives, hilfloses Opfer - eine echte Kämpferin." Daneben spielte Fisher zahlreiche weitere Figuren, die heute allerdings kaum noch einer kennt. Das macht sie zu einer tragischen Figur, meint Dirk Peitz in seinem Nachruf auf ZeitOnline: "In gewisser Weise wiederholte sich bei Fisher, was schon ihrer Mutter widerfahren war, die ebenfalls Schauspielerin von Beruf ist. Debbie Reynolds wurde mit 19 auf einen Schlag weltbekannt neben Gene Kelly in 'Singin' in the Rain', und so wie ihre Tochter auch wirkte Reynolds danach in vielen weiteren Filmen mit, bekam aber nie wieder eine derart prägende Rolle ... Fishers größte Auftritte in mehr als 40 Spielfilmen und zahllosen Fernsehproduktionen waren eher kleine Nebenrollen." Anke Westphal erinnert in der Berliner Zeitung daran, dass Fisher auch Schriftstellerin war. Wie witzig und schlagfertig sie darüber hinaus war, zeigen ihre zahlreichen Talkshowauftritte, von denen Nerdcore einige verlinkt hat. Hier daraus ein Auftritt bei Ferguson aus dem Jahr 2013:



Dirk Alt spricht im Freitag mit Michael Hollmann vom Bundesarchiv über jüngste Entscheidungen im Umgang mit den analogen Beständen der Filmarchive: Deren Digitalisate werden künftig "in 'lebenden' Mischsystemen aus Speicherplatten und Bandsystemen mehrfach redundant und an verschiedenen Orten gesichert. Es werden dadurch keine Datenträger wie DVDs, sondern Daten unabhängig von ihrem ursprünglichen Speichermedium archiviert. Die Pflege dieser Daten erfolgt im Rahmen eines sogenannten Preservation-Planning-Systems weitgehend automatisch."

Weiteres: In der SZ spricht Peter Münch mit dem Filmemacher Marcus Vetter über dessen mangels Publikumszuspruch und wegen zu geringer Unterstützung durch die lokalen Behörden gescheitertes Kinoprojekt in Jenin. Besprochen werden Paolo Virzìs "Die Überglücklichen" (taz) und die Comicspiele-Verfilmung "Assassin's Creed" (Welt, FAZ).
Archiv: Film