Efeu - Die Kulturrundschau

Erstaunen im Kleinen, Lebensumsturz im Großen

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24.12.2016. In der NZZ lässt sich Brigitte Kronauer überraschen. Der Tagesspiegel wirft im Münchner Haus der Kunst einen Blick auf die kosmopolitische Moderne der Nachkriegsweltkunst. In der taz erinnert sich Jutta Voigt an das süße Leben der DDR-Boheme und Doris Akrap an das ätzend enge Leben ihrer Arbeiterfamilie. Die Spex diskutiert über Pop als Ersatzreligion
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.12.2016 finden Sie hier

Kunst


Kazuo Shiraga, Work II, 1958, Hyōgo Prefectural Museum of Art, Kobe

Die von Okwui Enwezor konzipierte Ausstellung "Postwar" im Münchner Haus der Kunst wirft einen kosmopolitischen Blick auf die Weltkunst der ersten Nachkriegsjahrzehnte. Das ist ehrenwert, aber auch viel zu viel. Die Bilder erschlagen sich teilweise gegenseitig und ihre Bedeutung wird so auch nicht klar, meint Bernhard Schulz im Tagesspiegel. Trotzdem kann man eine Menge lernen: "Enwezors anti-hierarchische Betrachtungsweise kommt am schönsten im Kapitel 'Kosmopolitische Moderne' zum Ausdruck. Statt die sattsam bekannte Abhängigkeit der Kunstakademien in der 'Dritten Welt' von Vorbildern in den westliche Metropolen bloßzustellen, spürt diese Abteilung der intellektuellen Migration in alle Himmelsrichtungen nach. Das schließt beispielsweise den Blick der New Yorker Abstrakten nach Japan ein und ebenso die japanische Gruppierung Gutai, die umgekehrt dem Informel Pariser Prägung nahesteht. Die islamische Kalligrafie bildet einen ganz eigenen Bereich, von dem das Frühwerk 'Gebet' von 1962 des zu diesem Zeitpunkt bereits in die USA ausgewanderten Siah Armajani einen Eindruck gibt."

Besprochen wird außerdem eine Ausstellung über das Motiv der Kerze im Museum Frieder Burda in Baden-Baden (NZZ).
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Bühne


La Boheme in Genf. Foto: GTG / Carole Parodi

Immer dieser aussagelose Minimalismus auf der Bühne, murrt NZZ-Kritiker Thomas Schacher über Matthias Hartmanns Inszenierung der "Boheme" in Genf. Das Orchestre de la Suisse Romande (OSR) unter der Leitung von Paolo Arrivabeni spielt aber höchst raffiniert, versichert er: "Arrivabeni bringt sowohl die lyrisch-sentimentalen als auch die buffonesken Seiten der 'Bohème'-Partitur effektvoll zur Geltung. Er führt die Sängerinnen und Sänger mit sicherer Hand und stimmt die vokale und die instrumentale Ebene hervorragend aufeinander ab. Bei diesem Werk ist dies besonders wichtig, da Puccini die Protagonisten nicht selten in einer rezitativischen Art singen lässt, während er parallel die einprägsamen Melodien dem Orchester überantwortet."

Bernhard Doppler (Standard) fand die Inszenierung und vor allem das Raumkonzept von Raimund Orfeo Voigt gar nicht so schlecht: "große Wände, die sich sogleich verschieben; erst später wird für die darbende Wohngemeinschaft der Bohème auch ein wenig Mobiliar hereingeschoben, ein kleiner Ofen zum Wärmen zunächst. Da die Wände transparent sind, sieht man darauf manchmal Schattenrisse oder wie sich der Hausbesitzer, der die Miete eintreiben will, langsam nähert. Die Transparenz der Wände lässt ganz im Sinne von Puccinis Dramaturgie immer wieder eine zusätzliche Ebene durchschimmern - Kaffeehausgeschwätz, Straßenszenen, Arbeitsalltag -, die die privaten großen Auseinandersetzungen grundiert." Nur von den Sängern hätte er sich etwas mehr Körperlichkeit in ihrer Liebesglut gewünscht: "Der Ukrainer Dmytro Popov und die Georgierin Nino Machaidze beeindrucken immer nur dann, wenn sie - weit voneinander stehend - in expressives Opernpathos fallen."

Nur in der Oper geht die Liebe über Leichen und wärmt dabei das Herz. In der Presse führt uns Wilhelm Sinkovicz durch die gewagtesten Liebesduette. Einen Gipfel erreichte 1642 Claudio Monteverdi: Der ließ "seine 'Krönung der Poppea' in einem verzehrend schönen Liebesduett zwischen Nero und der soeben zur Kaiserin gekürten Kurtisane enden: Nichts von Blut und Rache, Ehebruch und Lasterhaftigkeit, die den Weg zu diesem Finale geebnet hatten. Wenn es je einen Beweis dafür gegeben hat, dass die Schönheit über Leichen gehen darf, dann hier. Die Moral von der Geschicht' ist die Aushebelung der Moral. Die herrliche Musik scheint das frevelhafte Paar mit den Mitteln der Ästhetik geradezu zu entsühnen; zumindest für den Moment waltet Gott Amor als Alleinherrscher über ihren Häuptern."

Besprochen werden außerdem die Uraufführung von Anne Jelena Schultes Stück "Sofja" durch Antje Thoms im Deutschen Theater Göttingen (nachtkritik), Martin Kušejs Inszenierung von Arthur Millers "Hexenjagd" am Burgtheater (Presse, nachtkritik), Yuval Sharons Inszenierung der "Walküre" in Karlsruhe (Tagesspiegel), Marius Petipas Choreografie "Raymonda" an der Staatsoper Wien (Presse) und die sowjetische Choreografie "Spartacus", die das Bayerische Staatsballett in München unter seinem neuen Direktor Igor Zelensky tanzte (FR).
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Literatur

Doris Akrap von der taz fühlt sich nach der Lektüre von Didier Eribons Bestseller "Rückkehr nach Reims" als Klassenflüchtige, die den Sprung aus einer Arbeiterfamilie ins Kulturbürgertum geschafft hat, endlich einmal verstanden: "Es war das erste Mal, dass jemand in meiner linken, bürgerlichen Filterblase über seine Herkunft aus einer Arbeiterfamilie so über diese redete, wie es Linke nicht so gern hören: wie ätzend eng es in Arbeiterhaushalten ist, räumlich, ökonomisch, geistig und emotional."

Im taz-Interview erinnert sich die Autorin Jutta Voigt wehmütig an das Leben der DDR-Boheme, der sie den letzten Band ihrer Trilogie über die Alltagskultur in der DDR gewidmet hat: "Kurz nach der Wende, als ich angefangen habe, Kolumnen für Die Zeit zu schreiben, hat die Chefredakteurin des Zeitmagazins bei unserem ersten Treffen in der Paris Bar mit ehrlicher Verwunderung gesagt: 'Ich weiß nicht, Sie wirken so natürlich!' Als ob das Natürliche auch im Privatleben ein Gegensatz zum Zivilisierten wäre."

Passend zum Fest der Geschenke befasst sich die NZZ in einer Reihe von Essays mit dem Thema "Überraschung". Zu dieser gehört, schreibt die Schriftstellerin Andrea Köhler, "im beglückten Staunen noch eine winzige Spur von Scham" und "der Augenblick der Erkenntnis - und das Bewusstsein, dass wir Wesen sind, die gesehen, genauer: erkannt werden können". Ihre Kollegin Brigitte Kronauer lobt die Empfänglichkeit fürs Überrumpeltwerden: "Wer immer vorbeugen und auf Nummer sicher setzen will, ist trotzdem vor Nackenschlägen nicht gefeit, geht aber der Möglichkeit zum Erstaunen im Kleinen, zum Lebensumsturz im Großen, zur gesteigerten Weltempfindung und Welterkenntnis verlustig." Feuilletonchef René Scheu meditiert unterdessen über Gabe und Empfängnis, über Geben-Wollen und Empfangen-Können. NZZ-Redakteur Thomas RIbi berichtet, wie ihm bei einem Spaziergang überraschend dämmerte, in der Welt zu sein. Und Angela Schader lässt sich am liebsten im Lesesessel überraschen.

Weiteres: Im Blog des Merkur setzen Holger Schulze und Dominique Silvestri ihre Reihe mit Texten über das Journal der Brüder Goncourts fort. Der italienische Schriftsteller Carmine Abate erinnert sich in der NZZ an die kulinarischen Weihnachtsgenüsse seiner Kindheit. Beim Deutschlandfunk kann man Sabine Fringes' Feature über die konkrete Poesie von Nora und Eugen Gomringer nachhören. Die FAZ bringt den Beitrag von Marie Darrieussecq zum Textprojekt "Hausbesuch" des Goethe-Instituts, für das die französische Schriftstellerin nach Neapel und Dresden gereist ist. Die zahlreichen Crime- und CulturMag-Autoren bringen ihren wie jedes Jahr herrlich ausufernden Jahresrückblick auf 2016 - es war nicht alles schlecht in diesem Jahrgang!

Besprochen werden unter anderem Donald Vaughns Erinnerungen "Farben eines Lebens" (Freitag), J. Jefferson Farjeons Krimi "Geheimnis in Weiß" (Tagesspiegel), Gergely Péterfys "Der ausgestopfte Barbar" (NZZ), Dieter Zwickys Erzählung "Hihi - Mein argentinischer Vater" (NZZ), neue Ausgaben von Henry David Thoreau (taz), Hilary Mantels "Im Vollbesitz des eigenen Wahns" (FR), der chinesische Klassiker "Die Reise in den Westen" aus dem 16. Jahrhundert in erstmals vollständiger deutscher Übersetzung (SZ, die überaus begeisterte Besprechung unserer Kritikers Arno Widmann hier), Peter Henischs "Suchbild mit Katze" (FAZ) sowie neue Bücher über Lucky Luke und Hergés "Tim & Struppi"-Reihe (taz).

Und ein nostalgischer Radiospaß für die Feiertage: Für den WDR hat Bastian Pastewka Anthony Horowitz' Kriminalroman "Sherlock Holmes und das Geheimnis des weißen Bandes" im Stil altmodischer Hörspiele fürs Radio umgesetzt. Hier Folge 1, Folge 2 und Folge 3 zum Nachhören, sowie ein Gespräch mit dem Regisseur über seine Hörspielproduktion.
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Film

Dafür lohnt sich heute die Printausgabe der SZ: Im Buch Zwei berichtet Martin Wittmann unter so schöner wie reicher Bebilderung von seinem Besuch des vor der Öffentlichkeit gut versteckten Animationsarchivs der Disney-Studios, wo Millionen von Bildern lagern. Die Kritiker von critic.de erinnern sich an die zwiespältigsten Kinomomente 2016. Die Zeit hat Adam Soboczynskis Bericht von der Begegnung mit Regisseurin Maria Schrader online nachgereicht, die sich mit ihrem Stefan-Zweig-Drama "Vor der Morgenröte" (mehr dazu hier) Hoffungen auf den Oscar machen darf. Im Freitag erinnert Hinnerk Feldwisch-Drentrup daran, dass Heinz Rühmanns Weihnachtsklassiker "Die Feuerzangenbowle" ein in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs produzierter Durchhaltefilm ist , dessen öffentliche Aufführrechte mittlerweile immerhin von einer AfD-Politikerin verwaltet werden.

Und eine gespenstische Internetkuriosität: Im New Statesman schreibt Amelia Tait über eine stetig wachsende Community von Filmfreaks, die der festen Überzeugung sind, in ihrer Kindheit in den frühen 90ern einen Billigfilm namens "Shazaam" gesehen zu haben, von dem heute allerdings jede Spur fehlt und dessen angeblicher Hauptdarsteller die Beteiligung daran resolut verneint.

Besprochen werden Dominik Hartls "Angriff der Lederhosenzombies" (Standard) und Wolfgang Petersens "Vier gegen die Bank" (" ein komödiantisches Schonkostmenü", gähnt Martin Schwickert im Tagesspiegel).


Bonus: Beliebter BRD-Weihnachtsklassiker.
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Musik

Zum Ende des Jahres hat die Spex nun auch den sehr schönen, von Klaus Walter in die Wege geleiteten Dialog zwischen Soap & Skin und Dietmar Dath über den Tod David Bowies online nachgereicht. Unter anderem geht es dabei auch um das quasi-spirituelle Gemeinschaftserlebnis der kollektiven Trauer, in der sich Pop als Ersatzreligion manifestiert zu haben schien. Dagegen hat Dath jedoch Einwände: "Immer, wenn etwas als Ersatzreligion bezeichnet wird, werden sowohl die Religion als auch das andere Ding unterschätzt. Was sollte nicht schon alles Ersatzreligion sein: die Wissenschaft, die Technik, der Sozialismus, die sogenannte sexuelle Befreiung … Religion ist etwas Besonderes insofern, als Leute da ihre Handlungen nach etwas ausrichten, was sie nicht begründen, weder logisch herleiten noch mit Evidenzen belegen müssen - das nennt man Glauben. Aber Science-Fiction ist eben nicht Scientology, sie ist ein ästhetisches Gebilde, an das man nicht glauben muss, in dem man aber fantasieren und performen kann. Und so auch Pop. Nur bei Irren - Charles Manson, der denkt, das Weiße Album redet mit ihm - kollabiert Pop in die Form 'Glauben'. Ansonsten aber ist Pop die Möglichkeit, nicht glauben zu müssen, dass David Bowie mich liebt oder ich ihn verstehe, aber davon träumen zu dürfen."

Weiteres: Zeit-Autor Hannes Leitlein kommt nach ausgiebigen Recherchen zu dem Ergebnis, dass er, entgegen dem in der eigenen Familie kursierenden Mythos, doch nicht direkt von Johann Sebastian Bach abstammt. In Berlin trafen sich Thomas Meinecke und Ramin Sadighi zum gemeinsamen Plattenauflegen und Plaudern, berichtet Natalie Mayroth in der taz. Der WDR befasst sich zu Weihnachten noch einmal ausgiebig mit Leonard Cohen und hat zwei Features von Kari Hesthamar aus dem Jahr 2007 wieder online gestellt: Für "If it Be Your Will" hat die Autorin es geschafft, den Musiker ausgiebig zu interviewen, in "So Long, Marianne" erinnert sich Cohens langjährige Geliebte Marianne Ihlen an die gemeinsame Zeit mit dem Musiker. Zum Tod des Cellisten und Dirigenten Heinrich Schiff schreiben Christian Wildhagen (NZZ), Ljubisa Tosic (Standard), Ulrich Amling (Tagesspiegel) und Harald Eggebrecht (SZ).

Besprochen werden Andrew Cyrilles und Bill Frisells Impro-Album "The Declaration of Musical Independence" (Standard) und das Weihnachtskonzert des Rundfunkchors Berlin mit dem DSO (Tagesspiegel).
 
Mittlerweile eine liebgewonnene Weihnachtstradition: Auch in diesem Jahr spendiert der Pianist Nils Frahm auf Mixcloud wieder einen Festtagsmix mit zahlreichen musikalischen Trouvaillen.

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